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Nora Krugs Graphic Novel: Im Krieg © Penguin Books

«Es ist Tag 12, und dieser Albtraum nimmt kein Ende»

Heinz Moser /  Eine Graphic Novel zum Ukraine-Krieg verschränkt russische und ukrainische Stimmen und gibt aussergewöhnliche Einblicke.

Während Kriegsberichterstattungen üblicherweise den Schrecken aus der Sicht einer Partei darstellen und dabei Opfer gegen Täter positionieren, wählt Nora Krug einen anderen Ansatz. Die Autorin nahm zu Beginn der russischen Invasion Kontakt zu zwei Menschen in Kiew und St. Petersburg auf und begleitete die beiden Protagonisten über ein Jahr lang, indem sie deren Erlebnisse in Tagebuchnotizen zusammenfasste. Sie will erfahren, was der Krieg für sie bedeutet und was er mit ihnen macht.

Als Künstlerin ergänzt Krug die Texte mit Illustrationen, welche die jeweiligen Perspektiven visuell unterstreichen. So präsentiert das Buch für jede Woche des ersten Kriegsjahres Tagebuchausschnitte der beiden Protagonisten: von K., einer ukrainischen Journalistin, die in ihrem Land vom Krieg eingeholt wird, und von D., einem russischen Künstler aus Sankt Petersburg, der an einem Krieg, den er nicht wollte, verzweifelt.

Nora Krug betont die Bedeutung, beide Stimmen anzuhören: «Obwohl K. und D. sich in völlig unterschiedlichen Situationen befinden, sind beide Zeitzeugen. Um die menschlichen Folgen dieses Krieges zu begreifen, war es mir wichtig, diese persönlichen Stimmen, diese verdichteten Augenblicke unmittelbar festzuhalten.»

Wie der Krieg begann

Raffiniert ist die visuelle Gestaltung des Textes, indem die linken Seiten K. gewidmet sind, während rechts die Erlebnisse von D. dargestellt werden. Wie unterschiedlich die Erfahrungen sind, zeigt ein Blick auf die Seite der zweiten Kriegswoche: Für die Ukrainerin K. und ihre Familie wird der Krieg schnell zum beherrschenden Thema. Sie schreibt: «Gestern Nacht habe ich kaum geschlafen. Um 2:30 Uhr fingen die Sirenen an zu heulen, und dann lag ich wach und hörte den Explosionen zu. Den Kindern geht es gut. Nachts hören sie nichts. Ich brauche etwas Ruhe. Es war ein Tag voller schrecklicher Ereignisse: getötete Kollegen, Interviews und Menschen die der Hölle entkommen sind.»

Viel weniger drastisch schleicht sich der Krieg ins Leben des russischen Künstlers. Er schreibt zu demselben Zeitpunkt, dass er zum ersten Mal mit den Kindern über den Krieg gesprochen habe, und meint lakonisch: «Vor ein paar Tagen bekamen sie dann die Folgen selbst zu spüren – mit ihrem gesparten Geld wollten sie sich ein neues Nintendo-Spiel kaufen, aber es ging nicht, weil Nintendo in Russland dichtgemacht hat.»

Der Krieg beschädigt das Leben

Im Verlauf der Aufzeichnungen wird immer klarer, dass beide Protagonisten, trotz ihrer unterschiedlichen Erlebnisse, in einer gemeinsamen Unsicherheit und Heimatlosigkeit gefangen sind. So kann es die Ukrainerin K. nicht verstehen, dass Russland, wo sie in der Wolgaregion geboren wurde, plötzlich zum Feind geworden ist. Doch sie sieht es nun als ihre Aufgabe an, öffentlich als Journalistin für ihr Land über den Krieg zu berichten.

Gleichzeitig bringt sie ihre Kinder in Dänemark in Sicherheit und meint resigniert: «Wenn ich in der Ukraine bin, vermisse ich meine Kinder. Das Traurigste daran ist, dass ich diese beiden Leben nicht vereinen, nicht an zwei Orten gleichzeitig leben kann.» Ganz anders ist die Situation des russischen Künstlers D. Er lehnt zwar den Krieg ab, hat aber Angst, seine Meinung öffentlich zu äussern. Deshalb versucht er es, in Russland zu vermeiden, mit Leuten, die nicht seine Freunde sind, über den Krieg zu sprechen. D. überlegt sich, sein Land zu verlassen und nach Paris zu gehen, wo er sich eine neue Existenz erhofft.

Wie beide Seiten durch den Krieg entwurzelt sind, wird in der Kriegswoche 33 noch greifbarer. K. spricht davon, wie alle Kultureinrichtungen in Kiew geschlossen seien. Sie meint: «Mir ist es wichtig, dass meine Kinder in einem kulturellen Umfeld aufwachsen. Wenn ich in die Ukraine zurückreise, dann fahre ich immer sofort an die Front, um von den Kämpfen zu berichten, weil alle Leute, die mir wichtig sind, Kiew verlassen haben und in nächster Zeit auch nicht zurückkehren werden.»

Der russische Künstler schreibt bedrückt, er könne sich unmöglich eine Zukunft in Russland vorstellen, wenn er nicht einmal imstande sei, sein Leben in der Gegenwart zu verstehen: «Ich hoffe, dass ich irgendwann wieder denselben Tätigkeiten wie vor dem Krieg nachgehen und meine Erfahrungen mit anderen teilen kann. Aber ich weiss nicht, ob ich in Zukunft wieder ein sehr geselliger Mensch sein würde.» Im Augenblick sehnt er sich nach Abgeschiedenheit; er würde sich am liebsten in einer Hütte im Wald verkriechen.

Was das Buch besonders auszeichnet, sind die kongenialen Illustrationen von Nora Krug, welche die Emotionen und die Ängste der beiden Seiten auf allgemein menschliche Züge hin verdichten. So wird deutlich, dass es im Krieg nicht einfach darum geht, den Feind zu besiegen. Die zurückhaltenden pastellfarbigen Bilder der Illustratorin machen deutlich, wie das Leben auf beiden Seiten beschädigt wird, so dass am Schluss alle zu Verlierern werden.

Autorin und Buch

Nora Krug wurde 1977 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Bühnenbild, Dokumentarfilm und Illustration in Liverpool, Berlin und New York. Ihre Zeichnungen und Bildergeschichten erscheinen regelmässig in grossen Tageszeitungen und Magazinen (u.a. «The New York Times», «The Guardian», «Le Monde diplomatique»). Nora Krug ist Professorin für Illustration an der Parsons School of Design in New York und lebt in Brooklyn. Auszüge aus dem vorliegenden Buch erschienen ursprünglich in der «Los Angeles Times». Das Victoria and Albert Museum in London verlieh ihr den Titel «Illustrator of the Year».

Nora Krug: «Im Krieg». Penguin Verlag, 2024 München, 128 Seiten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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