Kommentar

kontertext: Kinotime in Berlin – die Berlinale 2024

Johannes Kaiser ©

Johannes Kaiser /  Gerade eben hat das Filmfestival «Berlinale» begonnen. Was ist die Ausgangslage?

Das künstlerische Leitungsduo ist gescheitert – anders kann man es kaum nennen. Die vor fünf Jahren berufene Doppelspitze der Berlinale: Mariếtte Rissenbeek und Carlo Chatrian. Ihr Konzept ist nicht aufgegangen, grosse Filmentdeckungen sind weitgehend ausgeblieben. Das gilt auch für ihr letztes diesjähriges Programm, soweit man das vor dem Start aller Filme beurteilen kann. Berühmte Namen jedenfalls fehlen, auch wenn Martin Scorsese anreist, um sich seinen Ehrenbären abzuholen. Die Filme sollen – so der künstlerische Leiter – «Bilder wie Bäume, die dem Sturm trotzen» zeigen. Das bleibt abzuwarten.

Die ab 2025 neue künstlerische Leiterin, Tricia Tuttle, früher verantwortlich für das Programm des Londoner Filmfest, tritt auf alle Fälle kein leichtes Erbe an.

Rückblick

Das Festival ist unter dem Leitungsduo jedenfalls nicht, wie erhofft, leuchtender, mehr beachtet und glamouröser geworden. Es fällt, was die Prominenz und die Filme angeht, weiter hinter Cannes und Venedig zurück. Die Stars haben sich rar gemacht, die Regisseure und Regisseurinnen ebenfalls. Die anderen Festivals werden bevorzugt. Der Charme sprühende Enthusiast, Vorgänger Kosslick war da besser. Allerdings war Hollywood schon immer selten prominent vertreten.

Das musste nicht unbedingt negativ sein, wie die Vergangenheit gezeigt hat, denn Berlin hat unter Kosslicks Ägide immer unbekannten Regisseuren und Regisseurinnen gerade aus dem Süden, abseits von Europa, zum weltweiten Durchbruch verholfen – wenn auch nicht unbedingt im Wettbewerb. Das Festival hat gerade im Internationalen Forum immer wieder grandiose Filme aus China, Südamerika, Afrika, Indien und Asien entdeckt, sich getraut, unbekannte Namen vorzustellen. Das ist in den letzten Jahren zu selten geschehen, trotz der von Chatrian neu geschaffenen Reihe «Encounters», die «wagemutige Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden» zeigte. Darunter sind auch dieses Jahr wieder viele Produktionen mehr oder weniger bekannter Filmschaffender aus dem Süden.

Publikumsfestival, Publikumsmagnet

13 verschiedene Sektionen, also Filmreihen, präsentieren von grossen Klassikern über erfolgreiche, bereits gelaufene Produktionen, neue Kurzfilme oder Jugendfilme. Dennoch ist das Programm dieses Jahr etwas kleiner, denn die Finanzen waren zusammengestrichen, so dass die eine oder andere Nebenreihe wegfiel, aber mit über 230 Filmen ist die Berlinale immer noch erheblich umfangreicher als alle Konkurrenz.

Sie ist ein absoluter Publikumsliebling, denn es gibt zahlreiche Vorführungen über die Stadt verteilt für das breite Publikum. Man geht sogar bewusst in die Kieze. Die Karten für die zahlreichen Vorstellungen sind immer rasch ausverkauft, die Nachfrage ist riesig – eigentlich kein Wunder in einer Stadt, die über 100 Filmkunstkinos aufweist. Ungewöhnlich auch: bei vielen Aufführungen ausserhalb des Festspielpalastes kann mit den Filmschaffenden diskutiert werden. Berlin war und ist im Unterschied zu Cannes oder Venedig schon immer ein Publikumsfestival gewesen und das wird auch dieses Jahr so sein.  

Und die Politik?

Die Berlinale, einst gegründet als Schaufenster des Westens gegenüber dem Osten, also mit politischem Auftrag, hat immer wieder Politik gemacht, sich nie rausgehalten. Es war immer ein Forum für Filme, die sich kritisch mit den herrschenden Verhältnissen in den Gesellschaften im Norden wie im Süden auseinandergesetzt haben, mit Diktaturen, Kolonialkriegen, Nationalsozialismus, der Shoah, Freiheitskämpfen. In den eingeladenen Produktionen wurden Unterdrückung, Rassismus, Feminismus, Gewalt aufgezeigt und angeprangert. Oppositionelle Filmemacher aus aller Welt kamen und kommen zu Wort, auch wenn sie wie jetzt zwei iranische Regisseure nicht nach Berlin reisen dürfen.

Die jetzige, erste schwarze Jury Präsidentin Lupita Nyong’o ist dafür ein Beispiel. Das Kind verfolgter kenianischer Eltern, Protagonistin prominenter kritischer US-Filme wie dem Sklavendrama «12 Years a Slave» oder dem Blockbuster «Black Panther» ist für den Berliner «Tagesspiegel» «Botschafterin für ein anderes Kino, andere Geschichten. Und für ein neues weibliches, kosmopolitisches Selbstbewusstsein» – grosse Worte, die sich jetzt beweisen müssen.

Typisch für die Berlinale ist zudem die Ausladung der rechtsextremen AFD Abgeordneten (Abgeordnete aus Berlin und Bund bekommen seit jeher ein Kontingent von Freikarten  – eine Berlinale Besonderheit) – wenn auch erst nach heftigen internationalen Protesten. Offizielle Begründung: «Durch den aktuellen Diskurs wurde noch einmal ganz deutlich, wie sehr das Engagement für eine freie, tolerante Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus zur DNA der Berlinale gehört». Und Rissenbeck ergänzte bei der Eröffnungsrede «Hass steht nicht auf unserer Gästeliste.» Das wiederum führte zum Widerspruch von Filmschaffenden und Juroren gegen die Ausladungen: Man müsse das aushalten.   

Das Beispiel zeigt schon: die Berlinale ist streitbar und wird es bleiben. Man darf auf den Neuanfang nächstes Jahr gespannt sein. Aber jetzt ist erst einmal für noch gut eine Woche Kinotime.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

_____________________
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

Zum Infosperber-Dossier:

GegenStrom_2_ProDirectFinance_XX_heller

kontertext: Alle Beiträge

kontertext widerspricht Beiträgen anderer Medien aus politischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.