«Die Alzheimer-Forschung braucht einen Kurswechsel»
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Sie befassen sich als Neurowissenschaftler seit rund einem Vierteljahrhundert mit neurodegenerativen Erkrankungen, zu denen auch die Alzheimer-Krankheit zählt. In Ihrem jüngsten Buch legen Sie dar, warum die Alzheimer-Forschung in einer Sackgasse steckt: Sie scheitere seit Jahrzehnten daran, dass man die Ursache der Krankheit nicht genau kenne. Allerdings wurden 2021 und 2023 in den USA zwei neue Medikamente zugelassen, die nach offiziellen Angaben die grundlegenden Krankheitsprozesse beeinflussen. Und bald könnte ein drittes, ähnliches Mittel folgen. Wie passt das zusammen?
Christian Behl: Die von Ihnen angesprochenen Medikamente Aducanumab, Lecanemab und Donanemab basieren alle auf einer in der Alzheimer-Forschung besonders prominenten, mehr als 30 Jahre alten Hypothese, der Amyloid-Kaskaden-Hypothese. Sie besagt, vereinfacht dargestellt, dass die Ablagerungen eines bestimmten Proteins im Gehirn die zentrale und initiale Rolle beim Verfall der kognitiven Fähigkeiten im Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung spielen. Das Protein heisst Beta-Amyloid, und die Ablagerungen nennt man Amyloid-Plaques. Die drei neuen Präparate sind biotechnologisch hergestellte Antikörper, die sich gegen verschiedene Formen des Beta-Amyloids richten. Lecanemab soll die Entstehung von Plaques im Gehirn verhindern, Donanemab soll sie entfernen. Meiner Meinung nach ist das Amyloid aber nicht der initiale Trigger der Erkrankung, sondern eine Begleiterscheinung anderer Krankheitsprozesse.
Zur Person
Professor Christian Behl ist Neurobiologe. Er leitet das Institut für Pathobiochemie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seit rund 25 Jahren erforscht Behl die molekularen Abläufe von Erkrankungen, die durch den schrittweisen Untergang von Nervenzellen des zentralen Nervensystems gekennzeichnet sind. Ziel seiner Arbeit ist es zudem, neue Ansätze zur Vorbeugung und zur Behandlung zu entwickeln, die an der Ursache dieser Erkrankungen ansetzen.
Klinische Studien haben aber doch angeblich belegt, dass diese Präparate wirken. Den Herstellern zufolge verlangsamen die Mittel den Krankheitsverlauf und den Gedächtnisverlust. Viele Forscher sehen darin einen grossen Erfolg – und einen endgültigen Beleg für die Amyloid-Hypothese.
Nach drei Jahrzehnten Amyloid-Hypothese mit vielen klinischen Fehlschlägen der anti-Amyloid-Ansätze, kommt aktuell wieder einmal ein Hauch Hoffnung auf und dieser soll nun plötzlich der Beweis einer These sein – nachdem schon zuvor andere Antikörper und Sekretase-Inhibitoren zuerst als Durchbruch propagiert wurden und später scheiterten? Das ist aus meiner Sicht ein Stück weit Augenwischerei.
Warum?
Zum einen sind die beobachteten klinischen Effekte für die mit den Antikörpern behandelten Patienten – soweit sie bisher untersucht wurden – gering. Ob diese Effekte für die Betroffenen im Alltag wirklich spürbar sind, ist völlig unklar. Zum anderen wurden bei einigen Patienten massive Nebenwirkungen beobachtet. Ein grosser Prozentsatz der Teilnehmenden der Donanemab-Phase-3-Studie zum Beispiel brach die Therapie wegen unerträglicher Übelkeit ab. Ein Viertel litt an besorgniserregenden Nebenwirkungen wie Hirnödemen. Ähnliches gilt für Lecanemab. Bei diesem Mittel kommt hinzu, dass es für einen grossen Teil möglicher Betroffener ungeeignet ist. Zum Beispiel für Menschen, die zwei Kopien des sogenannten ApoE4-Gens im Erbgut haben. Auch Menschen, die Blutgerinnungshemmer einnehmen – und das sind im Alter nicht wenige – sollten dieses Medikament nicht nehmen. Nicht zuletzt hatte das Mittel bei Frauen gar keine Wirkung auf die Gedächtnisleistung. Und diese Medikamente mit ihren Minimaleffekten und der Gefahr der teilweise erheblichen Nebenwirkungen werden jetzt zu einem Durchbruch bei einer Volkserkrankung erhoben? Übrigens hat der Hersteller von Aducanumab, die Firma Biogen, die Vermarktung des Mittels im Mai 2022 schon wieder eingestellt. In der EU ist es nie zugelassen worden.
Was genau ist das Problem mit der Amyloid-Hypothese?
Ein sehr grosser Teil der Forschung zu Alzheimer und die Entwicklung neuer Therapien ist auf diese Hypothese ausgerichtet. Dabei weiss man heute, dass etwa 30 Prozent aller älteren Menschen solche Amyloid-Plaques im Gehirn haben, ohne dass sie an Demenz leiden. Diese Tatsache steht der Amyloid-Hypothese klar entgegen, ebenfalls der Befund, dass bei den meisten von Demenz Betroffenen eine Mischpathologie vorliegt, also viel mehr im Gehirn passiert als die Ablagerung des Beta-Amyloids.
Warum wurde die Amyloid-Hypothese trotz dieses offensichtlichen Widerspruchs so dominant?
Es ist in der Wissenschaft ganz typisch, dass einzelne Hypothesen lange verfolgt und paradigmatisch werden. Die Gründe dafür sind komplex. Die Art und Weise, wie Forschungsergebnisse publiziert werden, steht im Wechselspiel mit der Forschungsförderung. Die wissenschaftliche Community und die Gesellschaft als Ganzes, etwa auch der sich ergebende Erwartungsdruck, spielen eine grosse Rolle. In der medizinischen Forschung sind zum Beispiel Zulassungsbehörden wie die FDA in den USA und die EMA in Europa ein wichtiger Faktor. Und natürlich sitzt auch die Pharmaindustrie mit am Tisch. Sie ist extrem wichtig für die Entwicklung von Medikamenten, hat verständlicherweise aber auch ihr eigenes, ökonomisches Interesse. Alle diese Faktoren wirken zusammen und können die Richtung eines Forschungsfeldes erheblich beeinflussen. Dies gilt selbstverständlich auch für andere medizinische Forschungsfelder und nicht exklusiv für die Alzheimer-Forschung.
Was ist daran schlecht?
Ist eine Hypothese besonders prominent, wird sie nach und nach zum Mainstream, was es schwierig macht, alternative Ansätze zu verfolgen. Es war in den letzten 30 Jahren sicherlich leichter, Fördergelder mit einem Antrag im Mainstream zu erhalten, als davon völlig unabhängige Thesen zu verfolgen. Auch war es phasenweise wesentlich leichter, eine Arbeit zu veröffentlichen, die mit der Amyloid-These konform ging, als eine disruptive, widersprechende Datenlage zu präsentieren. Man spricht hier von Confirmation bias. Wenn man über Alternativen nachdachte, galt man häufig als Aussenseiter, und neue Thesen fanden weniger Beachtung. Diese Situation stärkt wiederum die ohnehin dominante Perspektive. Eine Art Kreislauf. Doch wenn sich eine Arbeitshypothese als unzureichend herausstellt, eben weil sie nach Jahrzehnten nicht zu einer überzeugenden Therapie geführt hat, dann sollte man die Grundannahmen dieser These überdenken.
Sie fordern in Ihrem Buch einen Paradigmenwechsel. Was schlagen Sie vor?
Mit meinem Buch will ich aufzeigen, wie wichtig es ist, Paradigmen und das tausendfach Gesagte zu hinterfragen. Mir geht es darum, den Blick zu weiten und auch andere Ansätze zu verfolgen, jenseits der Amyloid-Spur. Denn Demenz kann viele Ursachen haben. Es gibt auch eine Vielzahl von Krankheitsthesen, die versuchen, den degenerativen Prozess zu beschreiben: oxidativer Stress, eine mitochondriale Dysfunktion, vaskuläre Faktoren und Durchblutungsstörungen, Infektionen, ein veränderter Lipidstoffwechsel, Entzündungsprozesse im Gehirn und Störungen des intrazellulären Protein-Recyclings. Viele dieser Erklärungsmodelle haben aber nicht in den Mainstream gepasst und sind im Rauschen der Amyloid-Euphorie untergegangen.
Wie stehen die Chancen, dass der von Ihnen geforderte Paradigmenwechsel eintritt?
Die Widerstände sind auf jeden Fall gross. Arzneimittelhersteller haben in den vergangenen Jahrzehnten Milliarden in die Entwicklung und Zulassung von Therapien gegen Amyloid-Plaques gesteckt. Der ganze Prozess ist vergleichbar mit einem riesigen Tanker, der sich nicht einfach von heute auf morgen umsteuern lässt. Die biochemischen Grundlagen zu Lecanemab etwa wurden bereits vor rund 20 Jahren entdeckt und die Hersteller Biogen und Eisai werden das Mittel nun nicht allzu schnell aufgeben. Aber es gibt auch noch andere Faktoren, die eine Forschungsrichtung beeinflussen können.
Welche meinen Sie?
Das Festhalten an einer Hypothese, an der jemand jahrzehntelang gearbeitet hat, hat auch psychologische Gründe. Ein US-Kollege hat zur Dominanz der Amyloid-These einmal gesagt: «Grosse Egos leiden, wenn ihre Ideen infrage gestellt werden. Sie sind es gewohnt, einfach Recht zu haben – und wollen nicht, dass sich das ändert.» Hinzu kommt aber eine noch etwas grundsätzlichere Beobachtung, die zu denken geben sollte. Die Stimmung in der Wissenschaft insgesamt hat sich in den letzten Jahren geändert. Erst kürzlich haben Studien gezeigt, dass Forschung, die dominante Ansätze herausfordert – sogenannte disruptive Forschung – seltener wird. Und das ist ein Problem. Denn wie schon René Descartes wusste: Dubium sapientiae initium – Zweifel ist der Weisheit Anfang. Dennoch bin ich vorsichtig optimistisch, dass sich hier bald etwas verändern und sich die Alzheimer-Forschung neuen Ansätzen gegenüber öffnen wird.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Cornelia Stolze ist Autorin zweier Bücher zum Thema Demenz: «Vergiss Alzheimer! Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist» (2011 erschienen) und «Verdacht Demenz» (2021). Weitere Informationen dazu siehe unten.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
M. E. ist es ein fataler Fehler, sich ausschließlich auf die biochemischen Ursachen von Demenz zu kaprizieren, denn unsere Gesellschaft liefert selbst reichliche psychologische Ursachen der Schäden. Damit meine ich die Auftürmung dichotomischer Narrative und die Verfolgung unliebsamer Gegenentwürfe. Letztendlich wird Denken erstickt. Und jetzt wundert man sich über die Folgen, die dann medikamentös behandelt werden sollen?
Was wir brauchen ist der Drang nach Wahrheit und soweit wie möglich ein widerspruchsloses, weitreichendes ungehindertes Denken, damit sich der Geist entfalten kann und gesund bleibt. Stattdessen macht sich Wissenschaftsfeindlichkeit breit. Alles was gegen die erlaubten Erzählungen läuft, wird verfolgt. Widersprüchlichkeiten werden nicht aufgelöst und damit endet das Denken. Für mich liegt eine Hauptursache von Demenz in psychologischen Prozessen, das aus der gegenwärtig geistig engen Verfasstheit der Gesellschaft resultiert. Die Politik spielt keine gute Rolle.
Sehr interessanter Artikel. Was hier beschrieben wird ist für mich typisch was insbesondere auf dem Gebiet der Infektion schon über viele Jahre passiert (u.a. Aids uns Schweinegrippe). Neuestes Beispiel die sogenannte Coronapandemie. Hier haben sogar noch die Politik und die Presse es geschafft einer Mehrheit der Bevölkerung mit einer Impfung zu nötigen die die in ihrer Wirkung höchst umstritten ist. Ich wünschte mir dass noch viel mehr Menschen, bei der Verschreibung von Medikamenten, das im Artikel erwähnte Zitat von DECARTES zu Herzen nehmen. Die Änderung muss in den Köpfen der Individuen anfangen.