Wenn Juden und Palästinenser in Israel gemeinsam auftreten
Während sich zwischen Israelis und Palästinensern Hass und Wut verbreiten, gibt es unter der Zivilgesellschaft Israels auch Initiativen der Hoffnung. Eine davon entwickelt sich seit dem Massaker der Hamas besonders stark: Die 2015 gegründete Organisation «Standing Together», in der sich jüdische und palästinensische Bürgerinnen und Bürger von Israel zusammen für Gleicheit, Frieden, Gerechtigkeit und Sozialismus einsetzen, gewinnt seit dem 7. Oktober massiv an Zulauf.
Laut einem am 5. Januar in der linksliberalen Zeitung Haaretz veröffentlichten Artikel könnte sich diese «Grassroot»-Bewegung in nicht allzu ferner Zeit zu einem Gegengewicht zur grassierenden Kriegshetze entwickeln, die sich auch in Israel verbreite:
«Die meisten der neuen Mitglieder sind junge Menschen, Araber und Juden, so die Leiter der Bewegung. Seit dem 7. Oktober wurden im ganzen Land ein Dutzend gemeinsamer arabisch-jüdischer Gruppen, die so genannten ‹Solidaritätswachen›, gegründet, die zu den acht bereits aktiven Zweigen hinzukommen. Zusätzlich zu den neun bereits bestehenden Gruppen wurden auch elf Studentengruppen gegründet.»
Das Rezept ist einfach: Jüdische und palästinensische Israelis treffen sich, hören einander zu und sprechen offen über ihre Befürchtungen, Ängste – und ja, auch über ihre Aggressionen. Gerade für in Israel lebende Palästinenserinnen könne die Erfahrung befreiend sein. Tamar Asadi, eine palästinensische Lehrerin im Norden Israels erzählt:
«In den Social Media […] waren alle Beiträge düster und beängstigend. Plötzlich aber sah ich einen lilafarbenen Beitrag, der etwas über Partnerschaft sagte, sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch. Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand einen Rettungsring zuwarf. Ich schrieb den Leuten hinter dem Posting, die von Standing Together waren, und fragte, ob die Bewegung einen Zweig in Deir al-Asad hätte.
Daraufhin beschloss ich, die Initiative zu ergreifen und eine Solidaritätswache der arabischen und jüdischen Gemeinden in Galiläa zu gründen. Innerhalb weniger Stunden hatten wir 350 neue Mitglieder. Wir hielten unser erstes Treffen per Zoom ab. Die Atmosphäre war so gut, dass wir beschlossen, mit einem persönlichen Treffen fortzufahren. […]
Seither hat meine Tätigkeit nur noch an Schwung gewonnen. Wir besuchten gemeinsam medizinische Teams von Arabern und Juden in Gesundheitseinrichtungen; wir statteten Maayan Sigal-Koren, deren fünf Angehörige aus dem Kibbuz Nir Yitzhak entführt wurden und von denen zwei immer noch in Gaza festgehalten werden, einen Solidaritätsbesuch ab; ich lud Freunde zu einem Treffen bei mir zu Hause ein, was mich sehr bewegte, und vieles mehr.»
Ihr Engagement in der Bewegung sei auch eine Botschaft an ihre Schüler:
«Sie sehen eine israelische Grundschullehrerin, eine arabische Frau, eine Muslimin, eine Palästinenserin, die sich einerseits mit Israel identifiziert, sich andererseits aber nicht für ihre [arabische] Identität schämt. Der Wandel muss von der Öffentlichkeit ausgehen.»
Seit diesem höllischen Samstag hat die Bewegung mehr als hundert Aktivitäten durchgeführt, darunter gemeinsame Konferenzen für Araber und Juden in Hebräisch und Arabisch in Tamra, Nazareth, Abu Ghosh, Lod, Jerusalem, Be’er Sheva, Tel Aviv und anderen Orten. Sie besuchten Krankenhäuser, um verwundete Soldaten zu treffen und mit jüdischen und arabischen Ärzteteams zu sprechen, säuberten öffentliche Unterkünfte, schickten Lebensmittelpakete und andere Dinge an Familien, deren Einkommensquelle versiegt ist, beobachteten Fälle von rassistischer Gewalt in Israel und machten Solidaritätsbesuche.
Alon-Lee Green, Co-Direktor von «Standing Together» erklärte zum Massaker vom 7. Oktober:
«Mir wurde klar, dass dies ein lebensveränderndes, paradigmenveränderndes Ereignis war, das auch den Lauf der Geschichte verändern würde […] In den ersten Tagen waren wir nur damit beschäftigt, den verletzten Mitgliedern des Teams, den Mitgliedern der Bewegung und allen, die Hilfe brauchten, zu helfen und sie zu unterstützen. Erst in der zweiten Phase begannen wir darüber nachzudenken, was unsere Rolle als Bewegung in diesem Moment war, und wir wurden in eine heftige Debatte verwickelt.
«Eine Gruppe», erinnert er sich, «sagte: ‹Lassen wir Gaza für den Moment beiseite, wir werden über Frieden zwischen Juden und Arabern innerhalb Israels sprechen, wir werden so unpolitisch wie möglich sein, um den größtmöglichen Raum für Partnerschaft zu schaffen, auch für all jene, die sagen, dass sie desillusioniert sind.› Die zweite Gruppe sagte: ‹Wenn wir nicht als Friedensbewegung auftreten und über den Tag danach sprechen, wird es niemand tun.› Es gab eine Menge Argumente. Am Ende haben wir beschlossen, beides zu tun.»
Der jüdische Israeli Green zahlt einen hohen Preis für seinen Wunsch nach Frieden. Als Co-Direktor von «Standing Together» arbeite er fast rund um die Uhr, bekomme kaum Schlaf und kämpfe an mehreren Fronten gleichzeitig. Er erhalte viele Anrufen und Textnachrichten mit Beleidigungen, Flüchen, Wünschen für seine Folter und seinen Tod und dem klassischen «Go to Gaza».
Der Veranstaltungsort für eine Konferenz von «Standing Together» in Haifa am 4. November, an der 700 Personen teilnahmen, musste nach Drohungen von rechts kurzfristig verlegt werden. Sally Abed, eine der palästinensischen Organisatorinnen, erklärte den Teilnehmenden:
«Uns wird gesagt, dass wir uns für eine Seite entscheiden müssen […] Aber ein solcher Entscheid führt unweigerlich dazu, die Menschlichkeit der anderen Seite zu leugnen. Ich weigere mich, meiner Menschlichkeit beraubt zu werden. Ich weigere mich, meiner Israelität beraubt zu werden.»
Nach dem Treffen wurde Sally Abed von einem älteren jüdischen Mann angesprochen, der eine Kippa trug und Tränen in den Augen hatte. Er umarmte sie und sagte: «Danke, das ist das erste Mal, dass ich seit dem 7. Oktober wieder atmen kann. Sie haben es mir ermöglicht, Schmerz für die andere Seite zu empfinden und mich wieder wie ein Mensch zu fühlen.»
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Bearbeitung von Max Feurer
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke, ein Beitrag für das Leben. Würde jeder Mensch auf jede Form der Gewalt, welche jenseits angemessener und deeskalativer Notwehr liegt, verzichten, dann hätten wir schon mal viel erreicht. Käme noch eine Bildung dazu, welche dem Menschen vermittelt, wie Verlustschmerz, Vergeltung und Racheaffekte funktionieren, wie die dem Menschen gegebene Fähigkeit starke Gefühle zu transzendieren und zu trauern, ihn vom Trieb der Gewalt und dem Teufelskreis der Rache frei machen können, dann wären wir dem Frieden, einer Weiterentwicklung, einer neuen Zukunft näher. Wenn zwei streiten, gibt es oft die Dritten, welche davon profitieren und daher Gewalt fördern. Wenn diese ebenfalls ein Bewusstsein darüber hätten, das sie den Wind säen, der Morgen den Sturm zu ihnen bringen könnte, dann würden sie vielleicht in Frieden, und nicht in Kriege, investieren.
Auch mir rinnen Tränen übers Gesicht. Welch grosse Trauer über das schreckliche Leid in mir ist seit Monaten, merke ich erst jetzt, an diesen hoffnungsvollen Worten. Welch große Hoffnung diese mutigen Menschen auch in mir aufkommen lassen, sie ist wunderbar.
Solche Initiativen machen Mut und es ist wichtig, darüber zu berichten, danke.
Der grosse Konflikt ist eben nicht der zwischen Israelis/Juden und Palästinensern/Arabern/Muslimen, sondern der zwischen denen, die Frieden wollen, wie «Standing Together» und denen, die Krieg wollen, nämlich Hamas und die gegenwärtige Regierung Israels.
Die Aggression gegen Friedensgruppen ist Ausdruck der Angst, der Frieden könne scheitern und der Konflikt (wieder) aufbrechen. Was tausende Tote zur Folge haben KÖNNTE. Nur: wo stehen wir denn jetzt? Wieviele sind in den letzten Monaten umgebracht worden? 20’000? Ich wohne in Solothurn. Das hat etwa so viele Einwohner.
Sehr mutige Menschen. Ich wünsche «Standing together» viel Erfolg und all seinen Mitgliedern viel Kraft, Ausdauer und einen langen Atem. Dieser Bericht zeigt, es gibt, trotz all den traurigen Nachrichten, Hoffnung.
Die Region ist drastisch überbevölkert, leidet an einem schlimmen Wassermangel und landwirtschaftlich nutzbaren Böden. Es geht letztlich um einen Verteilungskampf, den Israel derzeit dank überlegenen Militärs und breiter polit-medialer Unterstützung zu gewinnen scheint. Jede Versöhnungsinitiative wird sich dieser Herausforderung als eigentlicher Grundlage des Konflikts stellen müssen: Verteilung von lebensnotwendigen, knappen Ressourcen und Land, weiterhin Zugang zu wirtschaftlicher Entwicklung, Wohnraum, Verkehrswegen, Infrastruktur und gleichwertiger Teilhabe an Märkten.