Europäischer Gerichtshof EuGHugh

Urteile des EuGH sind im schweizerischen Alltag allgegenwärtig © Deutsche Welle

Die EU gibt den Takt an, die Schweiz folgt hintenan

Markus Mugglin /  «Fremde Richter» Europas prägen längst das Leben der Menschen in der Schweiz – auch wenn es meist verdrängt wird.

«Brüssel, Strassburg und Luxemburg geben den Takt an, die Schweiz folgt hintenan.» So charakterisiert Europarechtler Matthias Oesch das Verhältnis zwischen den Institutionen der EU und der Schweiz. Ebenso prägnant formuliert er die Art und das Ausmass, wie sich europäisches Gewohnheitsrecht in der Schweiz heute breit macht: nämlich «auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck».

«Fremde Richter» wirken schon längst

Was auf dem Cover der neuen Publikation des Europarechtsexperten der Universität Zürich mit dem Titel «Der EuGH und die Schweiz» harmlos tönt, erweist sich auf den 230 Buchseiten als Gegenentwurf zu gängigen Realitätsphantasien in der Schweiz. Die angeblich «fremden Richter» sind hierzulande längst angekommen. Ihre Urteile sind für die Menschen in der Schweiz bedeutsam «in deutlich grösserem Ausmass als dies hinlänglich bekannt ist». Die «Schuld» ist allerdings nicht «fremden Richtern» anzulasten. Das ungleiche Verhältnis ist vielmehr «selbstverschuldet».    

Die Belegführung des Autors Matthias Oesch für die hierzulande meist verdrängte Realität ist faktenreich. Er legt ein vielfältiges Beziehungsgeflecht zwischen EU-Recht, zahlreichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs EuGH und der Entwicklung des schweizerischen Rechts sowie vieler Urteile schweizerischer Gerichte offen. Er sichtet eine nur schwer überblickbare Menge an Urteilen zu einer Vielzahl unterschiedlich gelagerter Sachverhalte – zur Personenfreizügigkeit, zu Grundfreiheiten, zur Gleichstellung von Mann und Frau, zum Familiennachzug, zum Zugang zur Sozialhilfe, zur Behandlung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, zur Anerkennung als Flüchtlinge, zu Datenschutz und zu Sanktionen. Er gibt die Urteilsbegründungen wieder, setzt sie in Bezug zu europäischem Recht und europäischen Richterentscheiden und kann so zeigen, wie das EU-Recht das schweizerische Recht mittlerweile «in seiner ganzen Breite und Tiefe» durchdringt.

Europäisierung der Schweiz auf verschlungenen Wegen 

Mehrere Gründe ebnen der Europäisierung der Schweiz den Weg. Da gibt es zum einen den Vorrang europäischen Rechts analog zum Vorrang des Völkerrechts vor nationalem Recht. Exemplarisch dafür steht das Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahre 2015 zur Frage der Freizügigkeit. Es hielt fest: Der Vorrang des Völkerrechts gelte ausnahmslos auch «im Verhältnis zur Europäischen Union und den von der Schweiz im Freizügigkeitsrecht staatsvertraglich eingegangenen Pflichten». Nationales Recht dürfe nicht vom mit der EU vereinbarten Abkommen abweichen.

Den unbedingten Vorrang europäischen Rechts hat das Bundesgericht auch auf das Dublin-Asylabkommen ausgedehnt, an das die Schweiz sich über die Assoziierung zum Schengen-Abkommen binden liess.        

Es gibt auch den «Brussels Effect», der in der Schweiz zum EU-Reflex geführt hat. Die Schweiz richtet ihre Gesetzgebung seit gut 30 Jahren systematisch auf EU-Normen und -Standards aus. EU-Kompatibilität ist die Losung. Was so gesetzlich nachgebildet wird, wirkt sich bis zur Rechtssprechung fort – beispielsweise zum Wettbewerbsrecht. Da sich das schweizerische Kartellgesetz stark am europäischen Wettbewerbsrecht orientiere, sei auch die europäische Praxis zu berücksichtigen, argumentierte etwa das Bundesgericht in einem Urteil.

Zuweilen setzt sich europäische Rechtssprechung in der Schweiz auch durch, ohne neue gesetzliche Grundlage. Oesch zitiert dazu das Google-Urteil aus dem Jahre 2014 über das Recht auf Vergessen im Internet. Der Tech-Gigant setzte danach die Vorgabe des europäischen Richterspruchs auch hierzulande um.

Ein wenig Trost trotzdem

Immerhin spendet Europarechtler Oesch den Souveränitäts-Ideologen etwas Trost. Nicht alles sei europarechtlich durchdrungen. Prominentes Beispiel ist das vor mehr als 50 Jahren abgeschlossene Freihandelsabkommen, das sich auf den Abbau von Zöllen und Kontingenten im Warenverkehr beschränkt. Es strebt also einen weniger weitgehenden Integrationsgrad an als die einzelnen bilateralen Abkommen, weshalb der Vorrang des Europarechts in diesem Kontext nicht gilt.   

Oesch ortet auch beim Freizügigkeitsabkommen gewissen, aber bisher nicht genutzten Spielraum. Das Bundesgericht habe sich bei seinem Entscheid von 2015 einzig zum supranationalen Charakter des Abkommens geäussert, die besondere Stellung der Schweiz als Drittstaat im europäischen Integrationsprozess hingegen ausgeblendet und nicht gefragt, ob die Schweiz den europäischen Vorrang in Ausnahmefällen allenfalls verneinen könnte. Dafür plädiert er dann auch: «Es würde zu einer allzu weitreichenden Gleichschaltung mit den Mitgliedstaaten führen, wenn jeglicher Raum für Abweichungen vom Binnenmarktrecht tout court ausgeschlossen wäre.» (Seite 121)

In einzelnen Abkommen, zu denen in den soeben abgeschlossenen Sondierungsgesprächen mit der EU Eckwerte festgelegt wurden und über die demnächst verhandelt wird, liegt gerade die Chance, Ausnahmen rechtlich verbindlich zu erreichen. Konkrete Souveränitätsansprüche lassen sich so gegenüber Rechtsübernahmen «auf leisen Sohlen» absichern.   

Die vom Europarechtler Oesch postulierten nationalen Spielräume ändern aber nichts am Gesamtbild: «Urteile des EuGH sind im schweizerischen Rechtsalltag allgegenwärtig.» «Kompass/Europa»-Aktivisten aus dem Umfeld von Finanz-Milliardären und andere EU-Skeptiker mögen noch so lange über drohende Gefahren fremder Richter lamentieren. Europäisches Recht prägt den schweizerischen Alltag viel stärker als Souveränitäts-Phantasien es uns vormachen.      


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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3 Meinungen

  • am 21.12.2023 um 13:08 Uhr
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    «Urteile des EuGH sind im schweizerischen Rechtsalltag allgegenwärtig.» Dass das Recht der EU einen massgeblichen Einfluss hat auch auf die Schweiz, das ist das Eine. Dass aber der EuGH in einem Streitfall zwischen der Schweiz und der EU das letzte Wort haben sollte, ist eine ganz andere Frage. Er wird immer der EU zustimmen. Der EuGH ist halt ein fremder Richter.

  • am 21.12.2023 um 22:38 Uhr
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    Die relative Souveränität der Schweiz hat gegen die Macht der Europäischen ‚Friedens‘-Union eventuell Chancen, eventuell auch nicht. Die Union arbeitet, so wie alle grossen Machtblöcke, mit Druck und Erpressung. Jedenfalls kann man das der täglichen Berichterstattung entnehmen. Es kommt wie immer darauf an, von welchem Standpunkt aus man Zeitung liest, Radio hört, Fernseh schaut usw.

  • am 22.12.2023 um 15:41 Uhr
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    Die Schweiz ist das freiste Land der Welt und das soll auch so bleiben. Statt, dass wir uns auf die EU konzentrieren, sollten wir unseren Blick freih halten und nach den BRICS-Ländern richten.

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