Mediziner warnen vor neuem Alzheimer-Medikament
Red. – Nachtrag am 1.8.2024: Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA hat die Zulassung von Lecanemab, das gegen Alzheimer helfen soll, abgelehnt. Der Grund: Nur geringe Wirksamkeit, aber häufig schwere Nebenwirkungen. Die Jahreskosten für eine Behandlung belaufen sich auf über 24’000 Euro, das Bundesamt für Gesundheit schätzte die Behandlungskosten für die Schweiz auf zwei Milliarden Franken pro Jahr, zuzüglich «weitere hohe Kosten für Diagnosestellung und Therapiekontrolle» . Der Hersteller hat Widerspruch gegen den Entscheid eingelegt. Lecanemab wird in Luterbach im Kanton Solothurn hergestellt. Der folgende Artikel wurde am 26.11.2023 auf Infosperber veröffentlicht.
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In den USA ist das Mittel, das den Wirkstoff Lecanemab enthält, seit Januar 2023 auf dem Markt. Bei dem Präparat handelt es sich um einen biotechnologisch hergestellten Antikörper, der alle zwei Wochen per Infusion verabreicht werden muss und sich gegen sogenannte Amyloid-Plaques richtet. Glaubt man führenden Alzheimer-Forschern, sind diese Plaques eine der Hauptursachen von Demenz.
Vor einigen Monaten haben die Hersteller Biogen und Eisai auch bei Swissmedic und der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA einen Zulassungsantrag gestellt. Fachleute gehen davon aus, dass beide in Kürze grünes Licht geben werden. Zahlreiche Medien feiern Leqembi bereits als «Durchbruch» und «grosse Hoffnung für Alzheimerpatient:innen weltweit».
Bei einem von fünf Patienten kam es zu gefährlichen Hirnschwellungen und Hirnblutungen
Unabhängige Experten sehen das deutlich anders. «Lecanemab ist kein Heilmittel für die Alzheimer-Krankheit», teilt die renommierte US-Verbraucherschutzorganisation Public Citizen in einem aktuellen Newsletter mit. «Das Medikament kann die kognitiven Funktionen nicht wiederherstellen oder die verloren gegangenen Erinnerungen zurückbringen.»
Stattdessen bringe eine Behandlung mit Leqembi gravierende Risiken und Nebenwirkungen mit sich. So traten in der Zulassungsstudie bei einem von fünf Patienten lebensgefährliche Hirnschwellungen und Hirnblutungen auf. In der Studie hatten 898 der insgesamt 1795 Probanden Lecanemab erhalten. Die anderen 897 Testpersonen erhielten zum Vergleich ein Scheinmedikament. Bei drei Probanden, die während der 18-monatigen Testphase starben, wurde der Tod mit Lecanemab in Zusammenhang gebracht. Im Januar hatten die Gesundheitsexperten von Public Citizen die FDA bereits aufgefordert, Lecanemab aufgrund der schwerwiegenden Nebenwirkungen nicht zuzulassen. Jetzt haben sie Leqembi als «Do Not Use»-Medikament eingestuft. Mit einer solchen Warnung rät die Verbraucherschutzorganisation von jeglicher Verwendung unnötig riskanter oder nutzloser Arzneimittel ab.
«Ein wahnsinniger Aufwand und eine grosse Belastung für die Patienten»
Wie schwerwiegend die Nebenwirkungen sind, zeigt sich auch daran, dass die Hersteller Biogen und Eisai im Juli von der US-Arzneimittelbehörde FDA dazu verpflichtet wurden, eine sogenannte Black-Box-Warnung in den Beipackzettel des Medikaments aufzunehmen. Dabei handelt es sich um die stärkste mögliche Form eines Warnhinweises, der von der FDA verhängt werden kann.
Das Tückische an den durch Leqembi hervorgerufenen Hirnschwellungen und Hirnblutungen ist: Viele der Betroffenen bemerken diese Veränderungen zunächst nicht. Die Schwellungen und Blutungen werden erst sichtbar, wenn man eine Magnetresonanztomografie (MRI) vom Gehirn macht. Sind sie vorhanden, muss die Behandlung möglichst schnell gestoppt werden.
Um die Gefahr zu erkennen, muss bei allen Personen, die Leqembi verabreicht bekommen, alle drei Monate ein Scan des Gehirns gemacht werden. «Das ist ein wahnsinniger Aufwand und eine grosse Belastung für die Patienten», räumt Stefan Teipel ein. Der Mediziner ist Leiter der klinischen Forschung des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen am Standort Rostock/Greifswald und im Wissenschaftlichen Beirat der Alzheimer Forschung Initiative (AFI).
Vier Tage nach der Infusion hatte die Patientin einen Schlaganfall
Doch selbst regelmässige MRIs können fatale Verläufe nicht sicher verhindern. Das zeigt der Fall einer 65-jährigen Patientin, über den eine Arbeitsgruppe unter der Leitung der Neurologin Sherry Chou von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago Anfang Februar berichtet hat. Die Frau war mit akuten Schlaganfallsymptomen in die Notaufnahme gekommen. Per Computer-Tomografie fanden die Ärzte im Gehirn der Frau ein Blutgerinnsel, das sie mit den üblichen Medikamenten auflösten. Nach einer knappen Stunde stieg der Blutdruck der Frau massiv an, woraufhin die Ärzte die Therapie abbrachen. Ein MRI offenbarte zahlreiche Blutungen im Gehirn der Patientin, die in der Computer-Tomografie nicht zu sehen gewesen waren. Die Frau konnte nicht mehr sprechen und litt unter starker Unruhe. Hirnstrommessungen zeigten zudem, dass in ihrem Kopf wiederholt epileptische Anfälle auftraten. Drei Tage später war die Patientin tot. Sie hatte den Antikörper drei Mal verabreicht bekommen. Die letzte Infusion lag zum Zeitpunkt ihres Schlaganfalls vier Tage zurück.
Ähnliche Probleme waren bereits bei früheren Versuchen, abgelagertes Amyloid mit Hilfe von Antikörpern zu beseitigen, aufgetreten. Manche von ihnen schienen zwar die Grösse der Plaques im Gehirn zu verringern. Deutliche positive Effekte auf das Denk- und Erinnerungsvermögen der behandelten Menschen blieben jedoch aus.
US-Arzneimittelbehörde überging ihre Berater – und liess Aducanumab zu
In diese Kategorie reiht sich die umstrittene Zulassung des Alzheimer-Mittels Aduhelm im Sommer 2021. Auch dem darin enthaltenen Wirkstoff Aducanumab, ebenfalls von Biogen entwickelt, war längere Zeit eine wahre Wunderwirkung zugeschrieben worden. Vor zwei Jahren hatte die FDA der Zulassung des Medikaments zugestimmt – und damit für einen Aufschrei unter Medizinern und Verbraucherschützern gesorgt.
Denn vor der Zulassung hatte ein externes Gutachtergremium der FDA die von Biogen vorgelegten Forschungsergebnisse geprüft. Dabei stellten die Gutachter fest, dass es keinen Beweis für die Wirksamkeit von Aduhelm gibt. Ausserdem hatte das Mittel in den Tests bei etlichen Probanden schwere Nebenwirkungen hervorgerufen. Bei 35 von 100 Patienten war es zu gefährlichen Hirnschwellungen gekommen. Zudem traten gehäuft Verwirrtheit, Desorientiertheit und Delirium auf. Keines der elf Mitglieder des Gremiums sprach sich daher für die Zulassung von Aduhelm aus.
«Wir sagen nicht nur, dass die Zulassung wahrscheinlich die schlechteste Entscheidung war, welche die FDA je getroffen hat. Sie ist so schlecht, dass wir uns aktiv für den Entzug der Zulassung einsetzen müssen.»
Peter Whitehouse, Neurologe an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio
Doch die FDA ignorierte das Votum. Drei der Gutachter traten deshalb direkt nach der Zulassung aus dem Gremium aus, darunter der Medizinprofessor Aaron Kesselheim von der Harvard Medical School. Die Freigabe von Aducanumab sei «unhaltbar», so Kesselheim. In einem öffentlichen Appell forderten er und eine Gruppe namhafter Forscher die FDA auf, das Mittel umgehend vom Markt zu nehmen. «Wir sagen nicht nur, dass die Zulassung wahrscheinlich die schlechteste Entscheidung war, welche die FDA je getroffen hat», so der Neurologe Peter Whitehouse von der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio. «Sie ist so schlecht, dass wir uns aktiv für den Entzug der Zulassung einsetzen müssen.»
Aus Sicht von Bernd Mühlbauer, Professor für Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte und stellvertretender Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), grenzte die Zulassung von Aduhelm sogar «ans Kriminelle». Das Mittel sei nicht nur wirkungslos. «Man handelt sich damit auch ganz scheussliche Nebenwirkungen ein.»
Bei fortgeschrittener Demenz kein Nutzen
Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA lehnte die Zulassung von Aducanumab Ende 2021 ab. Im Mai 2022 stellte Biogen den Vertrieb von Aduhelm ein. Doch Fachleute wie Mühlbauer hegen gegenüber Leqembi dieselben Zweifel. Das liegt auch daran, dass das Medikament erklärtermassen nicht an Demenz erkrankten Menschen verabreicht werden soll, sondern mehr oder weniger gesunden.
«Erkrankte mit bereits fortgeschrittenen Symptomen oder einer anderen Form der Demenz werden nicht von einer Behandlung profitieren», sagt Stefan Teipel. Sollte Leqembi zugelassen werden, gehe es also nicht um Personen, die vielleicht schon Schwierigkeiten haben, ihre Angehörigen zu erkennen oder Ähnliches. Vielmehr würde Leqembi nur bei Menschen eingesetzt, die im Alltag noch gut oder nur mit geringen Einschränkungen zurechtkommen.
Nur geringe Wirkung, aber mehrere Todesfälle
Genau das aber, neurologisch noch fast Gesunde einer solchen Gefahr auszusetzen, sei unverantwortlich, so Mühlbauer. Zumal es auch bei Leqembi keinen klaren Nachweis für einen medizinischen Nutzen gibt. In der Zulassungsstudie schnitten jene Probanden, die das echte Medikament erhalten hatten, in einem speziellen Gedächtnistest zwar besser ab als jene in der Placebogruppe. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen war jedoch minimal. Über einen Zeitraum von 18 Monaten hatte der Schweregrad der Demenz bei Patienten, die Lecanemab erhielten, um 1,21 Punkte zugenommen. Unter Placebo waren es 1,66 Punkte. Der Unterschied von 0,45 Punkten gilt zwar als statistisch signifikant. Völlig unklar ist jedoch, wie relevant dieser Unterschied für den Alltag der Betroffenen ist. «Wahrscheinlich merkt der Patient davon kaum etwas», bestätigt Stefan Teipel.
Unterdessen ist bereits der nächste Pharmakonzern mit einem ähnlichen Alzheimer-Medikament am Start. Der Wirkstoff Donanemab wurde von Eli Lilly entwickelt. Auch dieser ist ein Antikörper, der sich gegen Amyloid-Plaques richtet und der das Fortschreiten der Krankheit in einem frühen Stadium verlangsamen soll. Noch im Januar hatte die FDA eine beschleunigte Zulassung für das Medikament abgelehnt.
Inzwischen hat Eli Lilly neue Daten vorgelegt. Demnach verschlechterte sich der Schweregrad der Demenz bei den Patienten, die Donanemab erhalten hatten, um 1,72 Punkte und um 2,42 Punkte in der Placebogruppe. Das entspricht einem Unterschied von 0,70 Punkten. «Auf einer 18-Punkte-Skala sind die Unterschiede von 0,45 (mit Lecanemab) und 0,70 (mit Donanemab) mit 2,5 Prozent, respektive 3,9 Prozent, gering», urteilen die Gesundheitsexperten von Public Citizen. Zumal es auch in der Donanemab-Gruppe zu drei Todesfällen kam, die als behandlungsbedingt angesehen wurden. Von den insgesamt 1736 Teilnehmern dieser Studie hatten 860 Donanemab erhalten. Die Placebo-Gruppe bestand aus 876 Probanden.
Dennoch könnte auch Donanemab demnächst eine vollständige Zulassung von der FDA erhalten, so die Verbraucherschützer. Ein weiterer Fehler, wie die Experten von Public Citizen finden. «Die FDA-Zulassung von Arzneimitteln gegen die Alzheimer-Krankheit mit minimalem Nutzen und erheblichen Gesundheitsrisiken ist kein Weg in die Zukunft. Die Patienten und ihre Familien brauchen und verdienen dringend bessere Behandlungen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Cornelia Stolze ist Autorin zweier Bücher zum Thema Demenz: «Vergiss Alzheimer! Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist» (2011 erschienen) und «Verdacht Demenz» (2021). Weitere Informationen dazu siehe unten.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
«Wirkstoff bremst das Fortschreiten von Alzheimer» unter diesem Titel hat des TagesAnzeiger das Mittel noch vor wenigen Monaten gelobt. Zwischentitel: «Wirkstoff bremst das Fortschreiten von Alzheimer.» Von einem «Meilenstein» war die Rede der Experte Fröhlich fand die Ergebnisse «spannend und zukunftsweisend». Nur wer den Text bis zum Schluss las, erfuhr nebenbei, dass bei 24% der Behandelten Gehirnschwellungen aufgetreten seien. Melenstein oder doch eher Mühlstein?
Zum Glück gibt es beim Infosperber keine Inserate der Pharmaindustrie