Kommentar
kontertext: Lasst euch nicht abholen!
Nicht ganz zehn Jahre ist es her: Der Dozent an der Kunsthochschule redet sich ins Feuer, streift Philosophisches und bezieht sich auf Nietzsche und die Folgen. Die Quittung kommt sofort: Bildschirmfenster öffnen sich, Äpfelchen leuchten ihm entgegen, es wird gegoogelt und gelesen – für einige Minuten ist er alle Aufmerksamkeit los.
Die zweite Quittung kommt, als die Studierenden ihn beurteilen sollen. Da heisst es dann: «Eigentlich ist er ein Netter, und seinen Enthusiasmus finden wir rührend. Nur setzt er halt viel zu viel Wissen voraus. Es gelingt ihm nicht, uns abzuholen.»
Abgeholt habe ich zum letzten Mal vor einem halben Jahr jemanden, meinen gehbehinderten Onkel. Ich wollte ihm den Steilhang zwischen Bahnhof und Wohnung ersparen – ich hatte das Röntgenbild seines Beckens vor Augen, und es störte mich nicht, für eine kurze Strecke den Wagen aus der Garage zu holen.
Barrierefreie Zustände waren in der Bildungslandschaft meiner Jugend selten: Es galt, Hürden zu überspringen. Wer das nicht schaffte, verlor den Anschluss, wurde bemitleidet und nicht selten in subalterne Berufe abgedrängt. Man belobigte die Fleissigen und Strebsamen, doch sie bezahlten teuer dafür: Im Dorf wurden sie Streber genannt und für erotisch minderbemittelt gehalten.
Hätte ich meinen Eltern gegenüber geklagt, ich könne den Dozierenden nicht folgen, wäre ihr Kommentar a capella gekommen: «Dann schaff dir drauf, was zum Verständnis fehlt. Das ist Lernen. Lernen schmerzt und setzt beim Nichtverstehen erst an, ein Weg der Entbehrung. Aber die Ziele sind es wert. Du erhältst ein Fähigkeitszeugnis und wirst in die Freiheit entlassen.»
Der Fetisch Niederschwelligkeit
Solche martialischen Worte würde ich heute nicht gebrauchen, um zu erklären, weshalb Lernprozesse sich manchmal wie Dunkelhaft anfühlen – und warum ich noch immer gern Nietzsche erwähne, Nietzsche und die Folgen, obwohl das bei Lese-Abstinenten unpopulär ist. Dann würde ich daran erinnern, was für ein lustvolles Erlebnis Lernen sein kann, wenn Wissensdurst es befeuert. Kommt hinzu, dass hierzulande viele Zugangshürden abgeräumt sind, verglichen etwa mit dem französischen Bildungssystem. Auch Technologie hilft: Wer sich informieren will, findet Komplizen und Kompendien; die Zeit des Kirchenlateins ist vorbei, das Wissen liegt ungeschützt auf der Strasse und vor allem im Internet herum. Es droht zu faulen, wenn niemand es aufhebt.
Wer trotzdem zu bequem ist, sich schlau zu machen, täte gut daran, nicht den Dozierenden die Schuld zu geben, sondern sich selbst. Doch das ist kein populäres Postulat in einer Zeit, deren Fetisch die Niederschwelligkeit ist. Ihr Zauberwort, die Inklusion, bemäntelt gern den Wunsch, Komplexitäten nach unten zu nivellieren. Man soll sie herunterbrechen. Im Wort selbst scheint das Verfahren auf: Man rückt dem Stoff mit Gewalt zu Leibe, Verwirrendes, Vielschichtiges wird auf den gemeinsamen Nenner eines Einverständnisses gebracht, dessen Preis die Verkürzung ist – oder ein bleiches Zwielicht, in dem die Probleme der Zeit undurchsichtig werden.
Schon Albert Einstein, gewiss kein Elfenbeinturm-Bewohner, hat den Ausspruch geprägt: «Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher.» Bahnhöfe mögen sich für den schwellenlosen Zugang nachrüsten lassen, Denkgebäude oftmals nicht.
Hauptsache nachvollziehbar
Ende der 1990er Jahre bin ich Teil einer Gruppe, die für das Magazin des Tages-Anzeiger eine Sondernummer gestalten soll. Viele Ideen kommen aufs Tapet, alberne, ambitiöse, schrille. Ab und zu schaut jemand von der Redaktion vorbei. Der meistgehörte Kommentar: «Das versteht der durchschnittliche Tagi-Leser nicht.»
Das Heft kommt nie zustande. Man könnte sagen, es sei am Phantom des ›durchschnittlichen Lesers‹ gescheitert. Obwohl die Blattprofis behaupten, die Begriffsstutzigkeit dieser Figur so genau zu kennen wie ihre Ungeduld, bleiben das imaginäre Grössen. Ich jedenfalls bin der durchschnittlichen Leserin nie leibhaftig begegnet. Schon damals habe ich mich gefragt, wer das sein soll: Hat sie eine Kurzhaarfrisur, einen Hund, einen Tertiärabschluss? Bewohnt sie zwei oder vier Zimmer? In einer Villa oder in einem Wohnblock?
«Egal. Hauptsache, sie versteht, was wir schreiben. Hauptsache, sie kann unsere Gedanken nachvollziehen, auch wenn diese Gedanken unterkomplex sind. Hauptsache, wir haben sie abgeholt. Das nennt sich kulturelle Teilhabe! Mag sein, dass sie die verhandelten Themen nicht durchdringt, dafür durchdringt sie vielleicht unseren Text. Sie glaubt, etwas gelernt zu haben, und ist zufrieden. Unsere Aufgabe ist Vermittlung. Wir stehen wie der Fels in der Brandung zwischen dem Komplexen und dem Anschaulichen. Wir müssen schnell zum Punkt kommen, denn unsere durchschnittliche Leserin hat wenig Zeit. Ihre Domäne ist die denkerische Kurzstrecke. Auf diesem geebneten Pfad geben wir ihr das Gefühl, auf der Höhe der Zeit zu sein. Dann und wann können wir sogar Lösungen anbieten. Obwohl wir wissen, dass auch wir nicht auf der Höhe sind, weder in unserem Text noch in unserem Denken oder Leben. Aber dieses Scheitern ist ehrenhaft.»
Es gibt übrigens ein Patentrezept für solche Kalamitäten, schon damals breit propagiert auf den Redaktionen: «Erzähl eine Geschichte!» Heute klingt das edler, da von Narrativen und Storytelling die Rede ist. Kurz gesagt: «Wirst du einfach nicht schlau aus einem Buch, das du besprechen sollst, dann mach ein Portrait der Autorin. Sprich mit ihr über Gott und die Welt – und auch ein wenig über ihr Buch. Was zu umschweifig ist, kannst du ja später noch streichen. Fotografiere sie auf ihrem Balkon. Sorg dafür, dass Schreibgeräte zu sehen sind, auch ein paar Herbstfarben. Weil ihr Buch so kopflastig ist, wären belaubte Zweige schön. Sowas mag der durchschnittliche Leser – er lebt ja eher im Grauen als im Grünen. Und denk daran, niemals Worte verwenden, die nach geistiger Anstrengung klingen!»
Das grosse Zwielicht und der grösste Kürbis
Es stimmt, eine Kette ist immer so stark wie ihr schwächstes Glied. Wandergruppen sollen ihr Tempo an die Gangart der Langsamsten anpassen, ein Gebot der Höflichkeit. Wer das nicht will, steigt besser allein in den Hang. Doch wo immer es nicht darum geht, ein gemeinsames Erlebnis annehmlich zu gestalten, sondern etwas zu erreichen, etwa die Durchdringung oder Darstellung komplexer Zusammenhänge, läuft das Gebot der Eingängigkeit auf einen Verrat an der Sache hinaus, und die Niederschwelligkeit verkommt zum Kompromiss, an den man sich umso lieber gewöhnt, je breiter sein Publikum ist.
Nun mag man zu Recht die Exzellenzfixiertheit in der Leistungsgesellschaft kritisieren. Warum muss jeder Zeitungsartikel geistigen Spitzensport treiben? Warum müssen selbst Gärtnern und Wandern Parforceritte sein? Geht es im Leben wirklich um den grössten Kürbis? Und warum soll alles Lernen in einem schweisstreibenden Exorzismus gipfeln? Wo ist das Spielerische geblieben? Warum sollen wir lauter profunde Virologinnen und Asse in Nationalökonomie sein? Warum erinnert der Wunderkindkult der Klassik-Szene an die Viehmärkte des 19. Jahrhunderts? Und warum wirken so viele Filmschauspieler wie verbissene Gladiatoren, wenn sie an Hochhausfassaden ihre Stunts selber vollführen?
Ja, Leistungsdruck rund um die Uhr ist ein Prinzip, das sich auf unschöne Weise mit Kapitalismus und Showbusiness verbunden hat. Das Kind dieser Ehe ist muskelbepackt, doch auf vielen Augen blind und gelähmt in Sachen Empathie. Leider aber verlangen viele Probleme des heutigen Alltags (und mehr noch die Probleme, mit denen die Gemeinwesen kämpfen) ein hohes Differenzierungsvermögen, sollen sie ohne Simplifizierung bewältigt werden. Nehmen Medien, die darüber informieren sollen, sich die fiktive Dummheit ihrer Leserschaft zum Massstab, verfehlen sie beide Zwecke, denen sie per definitionem verpflichtet sind: Weder sind sie unterhaltend noch klären sie auf.
Ob im Schulzimmer oder in der Wochenendbeilage: Wer Stoffe ›aufbereitet‹, um Quote zu schinden, trägt weiter zum Verdämmern dieser Gesellschaft bei und verwechselt Takt mit intellektueller Bequemlichkeit. So wird Zwielicht verbreitet, wo ohnehin die Nacht hereinzubrechen droht. Wenn also die Wiedergänger des Mittelmasses in immer neuer Verkleidung die Herrschaft des Mittelmasses fordern, was wäre zu antworten? Vielleicht: «Macht euch bitte kundig. Etwas Sachkenntnis hat noch niemanden umgebracht.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Lieber Herr Mettler. Wie wahr und unzweifelhaft richtig sind Ihre Betrachtungen. Leider halt etwas aus der Zeit gefallen. Der durchschnittliche Leser leugnet sogar das Wenige das er gelernt hat und liest nur noch alternative Fakten in alternativen Medien. Oder gar nichts mehr.
Das Nivellieren nach unten ist ein neoliberaler Trick, um kritisches Denkvermögen und Selbstvertrauen zu untergraben. Es dient auch zum Schaffen von immer neuen Opfergruppen, die sich durch immer neu künstlich geschaffene Hürden ausgegrenzt sehen dürfen; ein Teletubbietum für Erwachsene. Früher gab es mehr Leistungsdruck und weniger Ablenkung, deswegen wurde ordentlich gebüffelt und geschwitzt. Leider sind dann die in der konventionellen Schule und Universität Leistungsschwachen und nicht Systemkonformen hinten runter gefallen. Dabei erreicht man heute mit modernen Lern- und Lehrmethoden viel mehr als früher. Aber Ehrgeiz, Spaß an der Sache, schnelle Auffassungsgabe und ein bißchen Quälerei müssen schon da sein, damit man das Wissen einen «abholt».
Medien unter Konkurrenzdruck chauffieren ihre Konsumenten bequem. Aber es hat etwas: Warum nicht alles einfach schreiben, das jedermann auch komplizierte Sachverhalte versteht? Ich erinnere mich an die Sachbücher des alten Picard der mit Ballonen die Stratosphäre erforschte. (vor über 60 Jahren) Er konnte das Wetter und andere Phänomene unter anderem sehr einfach erklären.
Bei der Coop und Migros Zeitung scheint das Essen das Wichtigste zu sein. Rezepte bis zum geht nicht mehr. Food, Food.
Diese Zeitungen mit ihren riesigen Auflagen verpassen die Gelegenheit ihre Leser über vielfältige Themen des Lebens, der Politik und der Welt zu informieren. Viele der Leser der Coop und Migros Zeitung haben aus Kostengründen keine Tageszeitung mehr abonniert. Deshalb wäre es wichtig, dass Migros und Coop ihre Gratiszeitungen reformierten. Heute sind diese beiden Zeitungen zu Reklameblättern verkommen. Wenn ich mich richtig erinnere, war das beim Brückenbauer des Migros früher noch anders.
Man hört nur fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu geben.
Oder:
Wir leben in einem System, in dem man entweder Rad sein muss oder unter die Räder gerät.
Ich habe als Durchschnittsfrau (kein Hund) Niezsche gelesen.
Geschätzter Herr Mettler
Wiedereinmal schreiben Sie, was ich selbst nicht zu formulieren im Stande bin. Danke für diese Lektüre!
Leider dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, es handele sich dabei nur um ein Phänomen der Medienlandschaft. In der Geschäftswelt ist Unterkomplexität schon längst bonusrelevant. Nur erkennen wir das nicht, aus von Ihnen geschilderten Gründen.