Kommentar

kontertext: Ein Palästinenser, eine Israelin, zwei Reden.

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Gemeinsamkeiten zwischen Palästinensern und Israelis sind selten geworden. Aber es gibt sie noch. Und es gibt das Bemühen darum.

Zürich, Donnerstag Abend. Während auf dem Münsterplatz SP-Jositsch und andere Politprominenz Seite an Seite mit SVP-Heer die Juden und Jüdinnen vor Antisemitismus zu schützen gelobten, trafen sich linkere, friedensbewegte und kritischere Geister auf dem Bükliplatz, um – schwieriges Geschäft ! -, Wege zu einem «gerechten Frieden in Palästina / Israel» aufzuzeigen. Aufgerufen hatten die «Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel / Palästina» (JVJP), die Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee (GSOA), Amnesty International und andere. Erlaubt waren nur Friedensfahnen und Kerzen. Vertreten wurde eine ganze Reihe konkreter Forderungen, darunter, als dringlichste: Stopp der Gewalt und der Bombardierungen, Sicherung der humanitären Versorgung der Bevölkerung, Freilassung der Geiseln, Untersuchung der Kriegsverbrechen und Bestrafung der Täter. Die Analysen bewegten sich auf hohem Niveau, das Bemühen um politisch konkrete Vorschläge war deutlich. Als Schwäche könnte man diagnostizieren, dass zwar das Entsetzen über die Brutalitäten der Hamas riesig war, es aber nicht gelang, aufzuzeigen, wie sich Israel kurzfristig der Hamas entledigen oder zumindest ihre Angriffe reduzieren könnte.

Verlesen wurden zwei Texte: einer von einem palästinensisch arabischen Friedensaktivist aus Gaza, einer von einer israelischen Friedensaktivistin. Beide leben in der Schweiz. Wir dokumentieren diese beiden Texte hier im Wortlaut:

B1E26B00-85AF-4CCC-8AFB-9469BD1B4207_1_105_c

Palästinensisch-arabischer Friedensaktivist, lebt in der Schweiz

«Gaza, meine geliebte Stadt, ich liebe dich so sehr. Doch ich erkenne dich nicht mehr, denn du bist zu Asche geworden. Al Zahra City, du hast mir in meiner Kindheit viele schöne Momente geschenkt, trotz des Lärms des Krieges. Doch nun haben Raketen dich in Asche verwandelt und völlig zerstört.

Ich trauere um die Tausenden von Opfern aus dem Gazastreifen und auch um die Zivilisten in Israel. Seit Montag, dem 30. Oktober 2023, gibt es im Gazastreifen 8.306 Tote zu beklagen, darunter 3.457 Kinder, 2.136 Frauen und 1.800 Vermisste. Viele von ihnen werden unter den Trümmern der zerstörten Gebäude vermutet, und es gibt 21.048 Verletzte.

Alle Menschen sind gleichwertig, ob Palästinenser oder Israeli, ob Muslim, Jude, Christ oder Atheist. Wir sind alle Menschen. Deshalb bedauere ich das Leid der Zivilbevölkerung zutiefst, sowohl für mein Volk, die Palästinenser, als auch für die Menschen in Israel.

Ich fordere einen sofortigen Waffenstillstand, ständigen und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe sowie die Freilassung der palästinensischen Gefangenen und der israelischen Geiseln. «Auge um Auge, Zahn um Zahn» führt nur zu einem Teufelskreis der Gewalt.

Ich wünsche mir, dass unsere Kinder und die kommenden Generationen Seite an Seite in Freiheit und Frieden leben können. Ich hoffe, dass die gesamte Region, wie in Neve Shalom/Wahat al-Salam, zu einem Dorf des Friedens wird, in dem palästinensische und israelische Kinder Seite an Seite aufwachsen, voneinander lernen und Freundschaften schließen.

Seit Jahren sehnt sich mein Herz nach einem freien Palästina, das in Frieden lebt. Die israelische «eiserne Faust» hat gezeigt, dass sie zum Scheitern verurteilt ist, und das Apartheidsystem und die Blockade des Gazastreifens haben Israel nie Sicherheit gebracht.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Freiheit meines Volkes es uns ermöglichen wird, Seite an Seite mit den Israelis zu leben und voneinander zu lernen. Die Lösung für diesen Konflikt muss tiefgreifend sein: Entweder ein unabhängiges Palästina (ein unabhängiges Palästina an der Seite Israels, Seite an Seite in Frieden und unter gegenseitiger Achtung der vollen Souveränität, mit Ost-Jerusalem als unserer Hauptstadt) oder eine Ein-Staat-Lösung, die alle Bewohnerinnen und Bewohner als gleichberechtigt ansieht und allen Schutz und Sicherheit bietet.

Jegliche Gewalt gegen Zivilisten auf beiden Seiten (von Seiten der Palästinenser oder der Israelis) ist zu verurteilen und nicht zu rechtfertigen.

Stoppt diesen verrückten Krieg, wacht alle auf! Hass zerstört unsere Gesellschaften. Gewalt führt nur zu einer Spirale weiterer Gewalt. Unterdrückung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.»

Israelisch-jüdische Friedensaktivistin, lebt in der Schweiz

«Es ist Samstag, den 7. Oktober, ich wache um 7 Uhr morgens auf und erfahre von meiner Schwester, dass sie gerade von einer Party in Jerusalem direkt in einen Luftschutzkeller gerannt ist.

Um 10 Uhr, während ich mit meinen Kindern am Elefantenbach in Zürich spazierengehe, werden Israelis in ihren eigenen Häusern abgeschlachtet.

Gegen Mittag, während mein Mann und ich am Stadelhofen unseren Kaffee schlürfen, flüchtet meine 90-jährige Grossmutter in ihren unsicheren Hausflur, während Raketen vom Himmel fallen.

Am Abend, als ich mit meiner Schwiegermutter zu Abend israelische Spezialitäten esse, befinden sich israelische Friedensaktivisten, die ich kenne, in unterirdischen Tunneln und werden von der Hamas als Geiseln genommen.

Langsam wird mir die Schwere der Ereignisse bewusst.

Innerhalb weniger Tage sehen meine Konten in den sozialen Medien aus, wie der Nachruf in der Zeitung: Er hat seine Schwester und ihren Mann verloren. Sie einen Cousin. Er einen Freund. Diese Kinder wurden von ihren Eltern gerettet, die auf ihnen lagen, während sie erschossen wurden. Dieser Vater und sein Sohn wurden verbrannt aufgefunden, während sie sich umarmten. Diese Kinder wurden als Geiseln genommen… und die Liste geht weiter.

Das Massaker, das die Hamas verübt hat, ist grausam, unmenschlich und unverzeihlich.

Doch hier in Zürich fliesst die Limmat weiter, die Bahnhofstrasse brummt, und mein Deutschlehrer plappert von Akkusativ und Dativ. Als ob es für all jene, die gerade ihre ganze Welt verloren haben, einen Unterschied machen würde, wenn sie «dem» und nicht «der» sagen.

Ein paar Tage später, während ich in meinem Büro sitze und nicht konzentriert arbeiten kann, kann mein palästinensischer Freund seine Mutter in Gaza nicht erreichen.

Während ich versuche, zu frühstücken oder zu Mittag oder zu Abend zu essen, wer weiß, zeigt mir ein anderer palästinensischer Freund die Trümmer. Die jetzt das sind, was einmal sein Viertel war.

Als ich meine Kinder von der Kita abhole, erzählt mir ein anderer Freund von der Tragödie eines Bekannten aus Gaza, der Dutzende von Familienmitgliedern verloren hat.

Eine humanitäre Katastrophe, und sie dauert immer noch an.

Ich habe selbst zwei kleine Kinder. Der Gedanke, dass sie auch nur einen Zentimeter dieses Grauens auf beiden Seiten der nichtexistierenden Grenze erleben müssten, hält mich nachts wach.

An manchen Tagen ist meine Traurigkeit so tief, dass ich das Gefühl habe, nie den Grund des Brunnens der Trauer zu erreichen.

Und dann die Polarisierung. Meine israelischen Kollegen, selbst in Zürich, sind in ihrer tiefen Sorge und Angst misstrauisch gegenüber jedem, der auch nur einen Palästinenser kennt. Während die Inhalte, die mir von palästinensischen Gesprächspartnern mitgeteilt werden, den Schrecken des Hamas-Angriffe nicht einmal erwähnen und Israel für alles und jedes in dieser Region verantwortlich machen.

Und was nun?

Ein Krieg, bei dem man keine Wahl hat, sagt man mir. Aber wir haben immer eine Wahl.

Die Zerstörung der Hamas im Gazastreifen kann keine Strategie sein, weil sie die Tötung weiterer unschuldiger Kinder und älterer Menschen bedeutet. Aber das Töten unschuldiger Juden und Israelis kann auch keine Strategie sein. Beide Völker sind hier, um auf dem Land zwischen dem Fluss und dem Meer zu bleiben – in einem freien Israel neben einem freien Palästina. Frei von Gewalt, frei von Unterdrückung, frei von Hass.

In kleinen Momenten der Hoffnung stelle ich mir vor, wie Saudi-Arabien, Katar, Ägypten, Jordanien und Marokko mit Israel und Vertretern der palästinensischen Führung auf dem Land des entweihten Kibbuz Be’eri zusammenkommen. Um eine neue Vision für die Region zu entwickeln. Klingt verrückt, ich weiß, aber warum eigentlich nicht? Ist es nicht wirklich verrückt, unschuldige Menschen in ihren eigenen Häusern zu töten?

In der Zwischenzeit rufe ich dazu auf, alle zivilen Geiseln sofort und ohne Vorbedingungen freizulassen. Und, und, um es mit den Worten meines palästinensischen Freundes zu sagen: Stoppt diesen verrückten Krieg!»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

_____________________
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

Zum Infosperber-Dossier:

GegenStrom_2_ProDirectFinance_XX_heller

kontertext: Alle Beiträge

kontertext widerspricht Beiträgen anderer Medien aus politischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.