Kommentar
kontertext: Die tägliche Gängelung
Das Gefühl ist nicht neu, aber es hat sich in den letzten Jahren verstärkt: Das Gefühl, daheim ein Heiminsasse zu werden. Vielleicht liegt es an meinem Wohnort. Vielleicht an meiner Mutter. Vielleicht am Computer.
Daheim blicke ich durch zwei Fenster. Durchs eine Fenster sehe ich über einen Garten hinweg in ein Heim «für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen» (so der Selbstbeschrieb der Institution), und was ich sehe vermischt sich mit Bildern, die mir meine Mutter von ihren letzten Monaten in einem Altersheim vermittelt hat. Das andere Fenster ist der Bildschirm meines Laptops, auf dem sich weitere Fenster öffnen.
Gesünder leben
Während der Abend eindunkelt, stellt sich die Helligkeit meines Bildschirms auf die Dämmerung ein, und drüben empfiehlt eine freundliche Betreuerin mit sanfter Stimme den Heiminsassen, den Garten zu verlassen und im Bett den heilsamen Schlaf zu suchen. Bei mir öffnet sich ein Wochenbericht, der meine Bildschirmzeit berechnet und mit den vorigen Wochen vergleicht. Die App ermahnt mich, mehr Pausen einzulegen, mehr zu ruhen, mehr zu schlafen. Eine andere App hat die Schritte gezählt, die ich heute gegangen bin, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Höhe meiner Krankenkassenprämie abhängig gemacht wird von meiner Bereitschaft, mich zu bewegen.
Fröhlicher mitmachen
Hüben wie drüben geht es fröhlich zu. Im Heim gibt es nicht nur am ersten August, sondern ganz oft, lustige Garten-Festli. Lampions werden aufgehängt, lüpfige Musik ertönt, launige Reden erklingen. «Jonathan, kommst Du nicht zu uns» ruft ein Pfleger mit besorgt vorwurfsvollem Ton ins Haus. Denselben Ruf vernehme ich von Facebook. Wir haben so lange nichts von Dir gehört. Bist Du nicht mehr unser Freund? Du musst gelegentlich mal was liken, sonst bist du tot, sozial tot. Das ist eine Drohung. Man muss mitmachen in einer Welt voller Smilies und glücklich «Aufgestellter». Man muss ständig und überall erreichbar sein. Man muss schnell reagieren. Mails liegen zu lassen, ist unanständig.
Flotter kaufen
Ja man muss viel. Wenn ich in meinem Portal zum Internetradio eine Radiostation wähle, muss ich seit Kurzem jedes Mal einen Werbeclip anhören, der mir sagt, was ich kaufen muss, und manchmal tu ich’s und bereue es dann. Das erinnert mich an die Erzählungen meiner Mutter von Kaffeefahrten in Autobussen, in denen man ihr Küchenhelfer und Kopfkissen aufschwatzen wollte. Wenn ich im Lexikon von heute, bei Google, etwas nachschlagen oder auf Youtube einen Film sehen will, kommt zuerst in Hülle und Fülle die Werbung, die ich durchschauen, umgehen, austricksen, ertragen muss.
Individueller gehorchen
Weder drüben im Heim noch in meinem digitalen Beziehungsgeflecht steht die Zeit still. Die Sozialarbeit wie die grossen Internetfirmen entwickeln «Philosophien», die sich ähneln. Allüberall steht der Mensch, als Insasse und als User, im Mittelpunkt. Alles geschieht nur zu seinem Besten. Die Maschine passt sich durch ständige Auswertung der Datenströme immer besser an die Bedürfnisse der Kunden an, und alle Menschen sind Kunden, auch wenn sie als Patienten im Spital liegen. Die Individualisierung war einst, in der Moderne, ein Versprechen auf mehr Autonomie. Sie ist heute zum Albtraum der Bevormundung geworden.
Betreuter wählen
Selbst als Nachbar noch werde ich von der Heimleitung regelmässig nach meinen Erfahrungen mit dem Heim befragt. Also befragt – ich kann mich nicht frei äussern, sondern soll vorgefertigte Antworten ankreuzen. Ich werde nicht wirklich gefragt, sondern der Algorithmus ahnt, was ich sagen könnte, und macht mir Vorschläge für Antworten. Oder er weiss auch schon gleich, was ich fragen möchte. FAQ heisst das dann und spart Personal. Wenn ich Socken kaufen will, bekomme ich noch Vorschläge für neue Hosen. «Kunden die das kauften, interessierten sich auch für…». Will ich eine Datei abspeichern, schlägt mir das Programm vor, wo. Bei Warenkäufen oder Anmeldungen schreie ich manchmal vor Wut über die absurden Vorschläge, mit denen mich ein Programm im Dschungel einer immer komplizierteren Bürokratie versorgt. Aber es sind ja nur Vorschläge, und Vorschläge kann man ablehnen. Kann man natürlich. Aber es ist ein Unterschied, ob ich mich an Vorgaben abarbeite oder mir relativ frei überlegen kann, was ich will. Es ist nicht dasselbe, ob ich selbst entscheide, was ich einkaufe und koche, oder ob ich aus dem Menü des Heimkochs auswähle.
Zeit spenden
Wer einmal aus Alters- oder Gesundheitsgründen im Heim gelandet ist, kommt nicht mehr raus, wird dort seine Zeit verbringen. Mit der omnipräsenten digitalen Welt ist es nicht anders. Man kann Programme kennen lernen und einrichten, unliebsame oder unnötige Mitteilungen löschen, Werbung überspringen, Filter einbauen, nützliche Apps installieren, Newsletters und Briefings abbestellen, Hilfe in Anspruch nehmen, Hardware pflegen und erneuern – usw. Nur: Das alles kostet Zeit. Und auf deine Zeit und deine Aufmerksamkeit hat es das Monster abgesehen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Dieser Text bringt zum Thema alles zusammen, was ich selbst so erlebe, aber nicht formulieren kann. Danke!
Recht haben Sie, Herr Schneider: So wurde die Befreiung versprechende Individualisierung zur massgeschneiderten Folter.
Ihrem Artikel kann ich leider nur zustimmen. Hingegen fehlt der Hinweis, dass man in der digitalen Welt nicht so hilflos dasteht, wie sie es darstellen, weil das offene Linux-Betriebssystem (auch auf dem Handy verfügbar) viele der dargestellten Probleme umzugehen erlaubt. Und ja, die noch so praktische GAMAM Dienste und Produkte sparsamst, oder gar nicht, verwenden. Alternativen gibt es durchaus.