Erich Gysling

Erich Gysling in der Sendung «Gredig direkt» vom 12. Oktober 2023 © srf

Nahostexperte Erich Gysling: «Ich spüre keinen Funken Hoffnung»

Red. /  Der Terrorangriff sei für Israel, was 9/11 für die USA war. Und marginalisierte Palästinenser würden sich weiter radikalisieren.

upg. «Ich spüre zurzeit keinen Funken Hoffnung», erklärte Nahostexperte Erich Gysling in der Sendung «Gredig direkt» vom 12. Oktober. Gysling bezeichnete das Töten von 260 Menschen, die an einem Technofestival teilnahmen, als «Massenmord». Im Verhältnis zu den Bevölkerungszahlen seien an diesem Tag in Israel mehr zivile Menschen umgekommen als am 11. September 2001 in New York.

Bisher hätten Attacken der Hamas auf militärische Einrichtungen gezielt, bei denen auch zivile Opfer zu beklagen waren. Nach der jüngsten Attacke ausschliesslich auf die Zivilbevölkerung müsse man die Hamas endgültig als «Terrororganisation» einstufen. Die Hamas habe sich in den letzten Jahren radikalisiert.

Israel stehe jetzt vor dem Dilemma, die wahrscheinlich 150 Geiseln zu retten, die sich in der Hand der Hamas befinden, und einem massiven Vergeltungsschlag, der die Geiseln gefährden könne. Der Hamas sei klar, dass sie nicht gewinnen könne und es in Palästina zu noch viel mehr Zerstörung und zu mehr als den bisher über tausend Toten komme. «Aber das ist ihr egal», meinte Gysling. Die Hamas wolle einen Staat auf islamischer Grundlage errichten. Von den 2,3 Millionen Einwohnern im Gaza seien zwar nur 80’000 Mitglieder der Hamas. Wahrscheinlich hätten viele von denen, die im Jahr 2006 der Hamas einen überwältigenden Wahlsieg bescherten, nicht geahnt, welches Regime die Hamas aufziehen wird.

Doch seit Saudi-Arabien, andere arabische Staaten und Ägypten das Gespräch mit Israel suchten, fühlten sich die Palästinenser immer mehr marginalisiert.

Das Abschneiden des Gaza von Wasser, Gas und Strom bedeute eine kollektive Bestrafung der Bevölkerung. Solche Kollektivstrafen gegen eine Bevölkerung verstiessen gegen das humanitäre Völkerrecht. Das Rote Kreuz habe gewarnt, dass die Spitäler in Gaza zu Totenhäusern würden.

Auch die Hamas verstosse gegen das Völkerrecht, wenn sie Zivilpersonen als Geiseln festhalte und nicht sofort freilasse.

Radikalisierung auf beiden Seiten

Die Hälfte der 2,3 Millionen Einwohner, die im Gazastreifen auf einer Fläche der Kantone Appenzell Inner- und Ausserrhoden eingeschlossen sind, seien zur Hälfte jünger als 18 Jahre alt. Die Geburtenrate betrage wie in einigen afrikanischen Staaten 2,8 Prozent [Red. Wahrscheinlich ist das Bevölkerungswachstum gemeint]. Das sei eine «demografische Katastrophe», sagte Gysling. 74 Prozent der Jugendlichen seien arbeitslos, obwohl vor dem Angriff 18’500 Palästinenser als Grenzgänger in Israel arbeiten konnten. Die Radikalisierung nehme zu.

Gleichzeitig habe Israel mit einer Einwanderungspolitik die Zunahme der eigenen Bevölkerung bewusst gefördert. Auch Israel habe sich radikalisiert. Die «Siedlungen» im Westjordanland seien Städte, die nie mehr verschwinden würden: «Eine Zweistaatenlösung ist nicht mehr möglich.» Unter den 3,5 Millionen Palästinensern im Westjordanland würden immer mehr in Richtung Hamas abdriften, weil sie keine andere Wahl sehen würden. Die Regierung von Mahmud Abbas sei «durch und durch korrupt» und führe seit 2006 keine Wahlen mehr durch. Zum Angriff der Hamas schweige er.

Schliesslich ist es für Erich Gysling ein «absolutes Rätsel», weshalb der israelische Sicherheitsapparat und der als hervorragend bekannte israelische Geheimdienst nach eigenen Angaben den Angriff der Hamas nicht kommen sah. Der erst 2021 erstellte Grenzzaun zum Gazastreifen sei an 29 Stellen durchbrochen worden. «Das kann sich niemand erklären. Aus Israel gibt es keine Informationen dazu.»

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Siehe dazu:
Michael Mc Caul, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des US-Repräsentantenhauses am 11. Oktober über das Versagen der israelischen Geheimdienste: «Wir wissen dass Ägypten drei Tage vorher Israel davor gewarnt hat, dass so etwas passieren könnte.» (ab 1:15).


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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8 Meinungen

  • am 13.10.2023 um 11:26 Uhr
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    Man kann ihm nur zustimmen, es scheint ausweglos und festgefahren. Man muss aber auch anfangen, die Dinge beim Namen zu nennen. Da sich der Massenmord gezielt gegen Israelis und Juden richtete, ist das ganz einfach als Völkermord und Versuch zur ethnischen Säuberung zu sehen. Dass Israel, konfrontiert mit physischer Vernichtung, äusserst hart darauf reagieren wird müssen, dürfte mit zum Kalkül der Hamas gehört haben, welche in Gaza ein Massaker braucht in der Hoffnung, die arabische Welt werde entflammt.

  • am 13.10.2023 um 11:53 Uhr
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    Ich habe auf diesen Artikel gewartet. Anderswo überschlägt sich alles; man spricht den Palästinensern bereits die Menschlichkeit ab, geblendet von der unerhörten Brutalität der Hamas. Gerade jetzt braucht man kühle Vernunft und rationale Analysen. Israels Recht auf Selbstverteidigung und Herstellung der territorialen Integrität ist unbestritten, nur wie wird es weitergehen? Wann ist Schluss mit Raketen und Bomben auf Gaza? Sollen nur die Hamas-Führer und Mörder dingfest gemacht werden? Man weiß momentan überhaupt nicht, in welche Richtung es geht und welche Vorstellung die israelische Führung hat.

  • am 13.10.2023 um 21:55 Uhr
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    2.8 % Bevölkerungswachstum, nicht Geburtenrate, grosser Unterschied!

  • am 14.10.2023 um 01:13 Uhr
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    Wa Israel tut, ist nicht Selbstverteidigung, sondern Rache. Dazu ein interessantes Interview mit einem israelischen Journalisten: https://www.youtube.com/watch?v=rC_AXm_ZRLI.
    Jedermann sollte sich rationale Gedanken über diesen Angriff machen, auch unsere Politiker und überlegen, ob ihre Politik und ihre Verurteilung gerecht ist…

  • am 14.10.2023 um 02:53 Uhr
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    Es gibt eine Religion die viel älter ist als die Menschheit. Sie braucht keine «heilige Schrift» mit goldenen Buchstaben und keine Kleriker oder «Gotteskrieger». Es sind die Naturgesetze. Daran orientiere ich mich seit meiner Kindheit. Sie liefern mir naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Denkanstösse, welche die «Gleichnisse» in religiösen Texten bei Weitem übertreffen. Schon als Primarschüler habe ich das Märchen von «Adam und Eva» den «Grimm’s Märchen» gleichgesteIlt. Religionen sind voller Sprüche und Widersprüche. In Naturgesetzen sucht man diese vergeblich. Die Natur macht keine Fehler und braucht weder Menschen noch Religionen. Sie ist das einzige System das diesen Namen verdient. Sie kann sich immer wieder selbst reparieren. Welche Uhr, welcher Computer kann das? Haben Sie mal ein Tier oder eine Pflanze unter oder auf der Erde, im Wasser oder in der Luft gefragt, welcher Religion es angehöre? Eben! Wann endlich wird der «Homo Sapiens« zu einem Vernunftwesen?

  • am 14.10.2023 um 13:49 Uhr
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    zum verlinkten McCaul Video. Im gleichen Interview sagt er auch dass israelische Kinder in Käfigen gehalten werden und er davon Videos gesehen habe. Ich nehme an die gleichen Videos die von Infosperper als Fake entlarvt wurden. Demnach sollte man hinter seine Worte, auch was Geheimdienstinfos angeht, grosse Fragezeichen setzen. Was sonst noch von Ihm und seinen zwei Kollegen in dem Clip gesagt wird, ist Trump-Republikaner Werbung und ganz tiefes Niveau.

  • am 15.10.2023 um 02:14 Uhr
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    Ich stelle die These auf, dass der israelische Geheimdienst sehr wohl von den bevorstehenden Anschlägen wusste. Israel könnte auf einen Grund gewartet haben, um endlich mit äusserster Härte gegen die Hamas vorzugehen. Verluste von 1000 Israelis (es werden bald weit mehr sein) könnten dabei als (Quantité négligeable) einkalkuliert worden sein. So könnte es auch bei 9/11 gewesen sein.

    • am 15.10.2023 um 13:59 Uhr
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      Es könnte aber genauso gut anders gewesen sein.
      Israel war in den letzten Monaten viel zu sehr mit sich selber beschäftigt um das drohende Unheil richtig wahrzunehmen. Ich tendiere eher zu der Ansicht, dass das was passiert ist, ein verzweifelter Versuch der Hamas Führung war, die arabische Welt wieder im Kampf gegen Israel zu entflammen.
      Haben Sie Fakten, auf die Sie Ihre Meinungen abstützen?
      So oder so sind die Israelis und die Palästinenser Opfer Ihrer extremen Regierungen geworden.
      Wo sind die Kräfte, die der sich drehenden Spirale der Gewalt etwas entgegensetzen wollen?
      Die israelische Siedlungspolitik wirkt schon lange sehr destruktiv für das Zusammenleben mit den Palästinensern. Und genauso ist es mit der Haltung der Hamas-Führung die Israel vernichten will.

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