Noch zu viele Spitäler operieren trotz zu wenig Routine
Besonders bei heiklen Eingriffen sind Routine und eingespielte Spitalteams wichtig, sonst kommt es häufiger als erwartet zu ernsthaften Komplikationen und auch Todesfällen.
Man weiss es schon längst: Wenn Chirurgen und die begleitenden und pflegenden Spitalteams eine bestimmte Operation nur selten durchführen, fehlt ihnen die Erfahrung. Es kommt häufiger zu vermeidbaren Komplikationen wie Nachoperationen, Nachblutungen, Wundinfektionen oder im schlimmsten Fall zu vermeidbaren Todesfällen. Deshalb sollten sich Spitäler schon längst auf bestimmte Eingriffe spezialisieren.
Patientinnen und Patienten können für eine Wahloperation unter vielen Spitälern frei wählen. Meistens entscheiden sie auf gut Glück. Denn über die Geschicklichkeit einzelner Chirurgen wissen sie ebenso wenig Bescheid wie über die Erfolgsquoten der Behandlungen. Ausser dem Rat ihres Hausarztes bleibt als einziges handfestes Kriterium die Fallzahlen, die man objektiv erfassen kann. Diese Fallzahlen sind in der Schweiz weitgehend vorhanden, werden jedoch ungenügend bekanntgegeben.
In den Niederlanden können die Krankenkassen handeln und müssen – im Gegensatz zur Schweiz – Operationen nicht zahlen, wenn sie ein Spital zu selten durchführt.
Weil der Spital-Dachverband H+ sich jahrelang weigerte und es bis heute tut, seinen angegliederten Spitälern für bestimmte Operationen eine Mindestfallzahl auch nur zu empfehlen, haben einige Kantone wenigstens bescheidene Mindestfallzahlen vorgeschrieben. In Deutschland macht dies der Gemeinsame Bundesausschuss für das ganze Land. Darin vertreten sind ÄrztInnen, Spitäler und die Krankenkassen.
In der Schweiz wollen noch zu viele Spitäler möglichst viele Eingriffe selber anbieten. Es geht um Prestige und Auslastungen. Zahlreiche Spitäler führen bestimmte Operationen nicht einmal zweimal pro Monat durch. Die Zahl der Spitäler, die bestimmte Operationen unverantwortlich selten durchführen, ging zwar in den vergangenen zehn Jahren etwas zurück, jedoch viel zu langsam.
Die vollständigen Daten vom BAG des Jahres 2020 hat Josef Hunkeler, früherer Gesundheitsexperte beim Preisüberwacher, ausgewertet.
† Josef Hunkeler
upg. Josef Hunkeler hat während vieler Jahre für Infosperber Datensätze des Bundesamtes für Gesundheit und des Bundesamtes für Statistik ausgewertet. Am 27. September ist er im Alter von 77 Jahren gestorben. Unser Beileid gilt seiner Frau. Wir werden diesen integren, engagierten und humorvollen Wissenschaftler stets in bester Erinnerung behalten.
Hunkeler doktorierte in Internationalen Beziehungen in Genf und studierte in Boston. An der Universität Bujumbura in Burundi war er zehn Jahre lang Wirtschaftsprofessor. Anschliessend bildete er am Studienzentrum Gerzensee Zentralbank-Leute aus dem In- und Ausland aus. Bis zur Pensionierung arbeitete Hunkeler mehrere Jahre lang als Experte beim Eidgenössischen Preisüberwacher und stellte dort Dossiers namentlich zu Pensionskassen und Medikamentenpreisen zusammen. (Aktualisiert am 10.10.2023)
Beispiele seiner Datenauswertungen auf Infosperber:
8.6.2023: «80 Prozent der ausländischen Rentner verlassen die Schweiz» (diese Informationen haben andere Medien aufgegriffen)
9.6.2023: «Pensionskassen: Rund 1000 Franken Verwaltungskosten pro versicherte Person»
25.6.2023: «Wo in der Schweiz die meisten Ausländer leben»
15.11.2022: «Krankenkassen: In zehn Jahren 6,5 Milliarden Franken Reserven angehäuft»
25.8.2022: «Diese Spitäler operieren zu wenig und gefährden PatientInnen»
24.7.2022: «Sanktionen und Inflation senken Wohlstand in vielen Ländern»
Intensivbehandlung von Frühgeborenen
Bei Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm schreibt Deutschland den Spitälern eine jährliche Mindestfallzahl von 25 vor. Der Gemeinsame Bundesausschuss schreibt dazu:
«Um extrem untergewichtigen Früh- und Reifgeborenen mit einem Gewicht von unter 1250 Gramm einen weitestgehend sicheren und guten Start ins Leben zu ermöglichen, braucht es ein erfahrenes Behandlungsteam. Denn wissenschaftliche Studien belegen: Bei dieser höchst anspruchsvollen medizinischen Versorgung werden mit steigender Erfahrung auch bessere Ergebnisse erzielt. »
Als der Bundesausschuss vor ein paar Jahren wenigstens 14 Behandlungen pro Jahr vorschreiben wollte, gingen etliche Spitäler gerichtlich dagegen vor. Das deutsche Bundessozialgericht kam dann im Jahr 2015 zum Schluss, dass ein «wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Behandlungsqualität» wissenschaftlich belegt sei.
Im Jahr 2020 wurden in der Schweiz noch 15 Prozent oder fast jedes siebte dieser Früh- und Neugeborenen in insgesamt 19 Spitälern behandelt, die weniger als 25 Fälle pro Jahr aufwiesen. Betroffen waren 91 von insgesamt 608 Babys mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250 Gramm.
Spitalstandort | Eingriffe im 2020 |
Stiftung Ostschweizer Kinderspital* | 24 |
Kantonsspital Graubünden | 15 |
Kantonsspital Winterthur | 13 |
Réseau hospitalier neuchâtelois RHNe, NE | 6 |
Hôpital du Valais, Sion | 5 |
Kantonsspital Baden, AG | 4 |
GZO Spital Wetzikon, ZH | 4 |
Stadtspital Triemli, Stadt Zürich | 3 |
Spitalregion Fürstenland Toggenburg, SG | 3 |
Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserl. | 2 |
UNI-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung | 2 |
EOC Ente ospedaliero cantonale, TI | 2 |
Spital Linth, SG | 2 |
Hôpital Riviera-Chablais Vaud-Valais | 1 |
Spital STS AG, BE | 1 |
RehaClinic Limmattal, ZH | 1 |
Kantonsspital Nidwalden | 1 |
Spitalzentrum Biel, BE | 1 |
Hirslanden Klinik Linde AG, BE | 1 |
14 andere kleine Spitalstandorte, die im Jahr 2019 noch zwischen 1 und 3 solche Babys behandelten, hörten im Jahr 2020 damit auf.
Operationen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas)
Für Pankreas-Operationen schreibt Deutschland den Spitälern eine jährliche Mindestfallzahl von 20 vor.
In der Schweiz wollte die Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK den Spitälern schon vor zehn Jahren vorschreiben, dass sie nach einer Übergangsfrist mindestens 20 Operationen pro Jahr durchführen müssen, um weiterhin einen Leistungsauftrag der Kantone zu erhalten. In ihrer Begründung hatte die GDK festgestellt: «Für die Pankreasresektion gibt es gesicherte wissenschaftliche Evidenz, dass Krankenhäuser mit grösseren Behandlungsvolumina eine niedrigere Mortalität und bessere Langzeitergebnisse aufweisen.»
Doch in der Schweiz wurden auch im Jahr 2020 noch 19 Prozent oder fast jeder fünfte aller komplexen Eingriffe an der Bauchspeicheldrüse in einem Spital ausgeführt, das weniger als 20 solche Eingriffe im Jahr hatte. Betroffen waren 40 Spitalstandorte.
Infosperber hat am 25.8.2022 ausführlich darüber informiert:
«Diese Spitäler operieren zu wenig und gefährden Patientinnen»
Komplexe Eingriffe am Organsystem Speiseröhre (Ösophagus)
Für Ösophagus-Operationen schreibt Deutschland den Spitälern eine jährliche Mindestfallzahl von 26 vor.
In der Schweiz wurden im Jahr 2020 noch 37 Prozent aller dieser Operationen in Spitälern ausgeführt, welche diese Operation sogar weniger als 20 Mal durchführten. Betroffen waren 122 von 329 Operationen an 17 Spitalstandorten. Bereits im Jahr 2019 hatte keines dieser Spitäler die in Deutschland geltende Mindestzahl von 26 erreicht.
Spitalstandort | Eingriffe im 2020 |
Hirslanden Bern AG | 18 |
Stadtspital Triemli, ZH | 17 |
Les Hôpitaux Universitaires de Genève HUG | 16 |
Kantonsspital Aarau AG | 11 |
Luzerner Kantonsspital | 9 |
UNI-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung | 8 |
Lindenhofgruppe AG, BE | 7 |
Clinique de La Source, VD | 7 |
HFR – Hôpital fribourgeois | 7 |
Hôpital de la Tour, GE | 6 |
EOC Ente ospedaliero cantonale, TI | 5 |
Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) | 4 |
Stiftung Ostschweizer Kinderspital, SG | 3 |
Hirslanden Klinik St. Anna AG, LU | 1 |
Universitätsspital Basel | 1 |
Stiftung Spital Muri, AG | 1 |
Privatklinik Bethanien – GSMN Schweiz, ZH | 1 |
Spitäler mit knapp reichenden Fallzahlen kontrollieren
Auf eine Gefahr von vorgeschriebenen Mindestfallzahlen hatte Jürg Schmidli, Chefarzt für Gefässchirurgie am Berner Inselspital, hingewiesen. Chirurgen könnten versucht sein, «Diagnosen grosszügig auszulegen», um auf die nötige Zahl von Operationen zu kommen. Das betrifft Spitäler, die nur wenig von der geforderten Zahl von Operationen entfernt sind.
Chirurgen und Spitäler beteuern zwar stets, sie würden keine Operationen vornehmen, die nicht zweckmässig sind. Doch in Spitälern, welche minimale Fallzahlen nur knapp nicht erreichen, wären Kontrollen der Patienten-Dossiers und Befragungen der Patientinnen und Patienten angezeigt.
In Deutschland vorgeschriebene Mindestfallzahlen
Operation | Jährliche Mindestfallzahl |
Lebertransplantation | 20 |
Nierentransplantation | 25 |
Stammzellentransplantation | 25 |
Komplexe Eingriffe Bauchspeicheldrüse | 20 |
Versorgung Früh- und Neugeborene <1250 Gramm | 25 |
Komplexe Eingriff Speiseröhre (Ösophagus) | 26 |
Kniegelenk-Totalprothese | 50 |
Thoraxchirurgische Behandlung Lungenkrebs | 75 |
Chirurgische Behandlung von Brustkrebs | 100 |
Chirurgische Eingriffe an den Herzkranzgefässen | noch offen |
Quelle: Gemeinsamer Bundesausschuss
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
So beissen sich verschiedene Interessen:
1. möglichst routinierte Teams für bestimmte Behandlungen, wie im Artikel beschrieben
2. Behandlungen nur durchführen, wenn wirklich notwendig
3. Spitäler möglichst nahe bei den Patienten und mit einem möglichst breiten Spektrum an Behandlungen
Gibt es weitere? Von den dreien ist das letzte wohl noch am ehesten verzichtbar.
Sollen aber Behandlungen im Zweifelsfall durchgeführt werden, obwohl sie dem einzelnen Patienten ggf. nichts bringen, aber quasi zur Schulung eines Teams dienen, was dann anderen Patienten zu Gute kommen könnte?
Wäre das verantwortbar, wenn man die Patienten entsprechend informierte: «wir werden Sie operieren, obwohl es nicht unbedingt nötig ist, aber unsere Teams brauchen Erfahrung.» Wie solidarisch wären die Patienten, wie solidarisch die Prämienzahler der Krankenkassen?
Punkt 3 muss man wirklich weglassen. Wenn man sieht, wie viel die Leute für völlig nebensächliche Dinge herumreisen, dann ist die Forderung, ein komplizierter Eingriff müsse sozusagen im Quartier möglich sein, einfach unsinnig.
Punkt 1 und 2 lassen sich vereinen, wenn man die Zahl der Spitäler, die diesen Eingriff durchführen dürfen, markant senkt. Die Idee, hier den Markt spielen zu lassen, ist katastrophal. Wenn schon, müsste es eine Art von Wettbewerb sein, in welchem die Spitäler versuchen, die von der regulierenden Behörde vorgegebenen Kriterien (Qualität des Eingriffs, in zweiter Linie auch Kosten) möglichst gut zu erfüllen.
«Routine» bei Eingriffen? Es geht seltener um die «Routine» der Spitäler, sofern alle notwendigen Einrichtungen vorhanden sind, als um die Kompetenz des Personals. In grossen Spitälern hat man immer wieder mit Anfängern in der Ausbildung zu tun. (selber erlebt in BS!!!) Das ist je nachdem viel heikler, als wenn eine erfahrene Person einen Eingriff seltener vornimmt!
Es geht nicht um die Routine des «Spitals» im Sinne eines Gebäudes, sondern um die Routine des operierenden Teams. Neben der Routine gibt es zweifellos auch noch andere Faktoren, die einen wesentlichen Einfluss auf das Behandlungsresultat haben.
Es wäre ein wichtiger Schritt, die Anzahl von Spitälern, welche solch heikle Operationen durchführen dürfen, deutlich zu reduzieren. Ergänzend müsste auch die Qualitätskontrolle verbessert werden.
Anfänger müssen ja irgendwo einmal beginnen können. Es müsste aber auch klar sein, dass sie dabei sehr sorgfältig begleitet und betreut werden müssen.
Spricht für die Schliessung der Spitäler und den Bettenabbau.
Falls Fallzahlen vorgeschrieben werden, besteht da nicht die Gefahr, zur Erreichung der Mindestanzahl noch schnell ein paar unnötige Ops einzubauen? Der finanzielle Druck auf die Spitäler ist offenbar gravierend.
Dieses Problem wird am Schluss des Artikels thematisiert. Es betrifft Spitäler die knapp unter der erforderlichen Fallzahl liegen.