Kommentar
Prämien: Mehr Wettbewerb oder mehr Staat – aber konsequent
In der Schweiz wollen viele Akteure ein «möglichst freiheitliches Gesundheitssystem». Das setzt Wettbewerb voraus – als Mittel zum Zweck. Der Zweck besteht darin, dass sich gute Spitäler, Ärzte, Apotheken und gute Medikamente durchsetzen und schlechte aus dem Markt geworfen werden. Oder anders ausgedrückt: Wettbewerb sollte für die besten Behandlungsresultate sorgen – mit möglichst geringem Aufwand. Werden diese Ziele nicht erreicht, herrscht kein Wettbewerb oder zu wenig Wettbewerb und/oder der Staat hat die Spielregeln des Wettbewerbs, also die Rahmenbedingungen, falsch gesetzt: falsche Anreize, keine Transparenz.
Der heutige Zustand
Die Leistungen in der Grundversicherung sind bis ins Detail und mit einheitlichen Tarifen staatlich festgelegt. Sie sind am gleichen Ort für alle Kassen identisch. Mit Spitälern, Ärzten, Physiotherapeuten oder Pharmafirmen dürfen die Kassen nicht selber Verträge abschliessen. Einen Wettbewerb gibt es in der Grundversicherung nicht. Deshalb ist die Forderung nach einer Einheitskasse nachvollziehbar.
Spitäler und Spezialärzte profitieren von staatlich garantierten Tarifen und Honoraren – gleichgültig ob sie gut oder schlecht sind. Trotzdem betrachten sich Praxisärzte als private Unternehmer und viele Spitäler sind gewinnorientierte Aktiengesellschaften. Die Patientinnen und Patienten können davon jedoch nicht profitieren. Weder gibt es am gleichen Ort unterschiedliche Preise und Tarife, noch wird – wo es möglich wäre – genügend transparent gemacht, welche Spitäler oder welche Spezialärzte bei gleichen Diagnosen besser behandeln und wo es zu weniger Fehlbehandlungen kommt und man schneller gesund wird.
Die Transparenz würde bei Wahloperationen einen sinnvollen Wettbewerb ermöglichen. Denn nach orthopädischen, urologischen, Herz- und Magenoperationen kann der Prozentsatz von vermeidbaren Fehlbehandlungen mit gesundheitlichen Folgen und sogar Todesfolge in einem Spital mit vergleichbaren Patienten um das Mehrfache grösser sein als in einem anderen. Das zeigen Erhebungen im Ausland. Würde darüber Transparenz herrschen, würden sich einige Spitalabteilungen schleunigst verbessern oder sie müssten schliessen.
Der Spitalfinder der Spital-Dachdorganisation H+ ist ungenügend. Erstens gibt er Wundinfekte, Stürze oder ungeplante Rehospitalisierungen nur für jeweils das ganze Spital an und nicht für bestimmte Operationsarten. Doch ein Spital kann sehr gut sein für Herzeingriffe, jedoch unterdurchschnittlich für neue Kniegelenke oder Prostata-Operationen. Zweitens wird die Datenerhebung nicht von unabhängiger Stelle kontrolliert und unvollständige Daten werden nicht geahndet.
Wenn es um das Erfassen von vergleichbaren Spitaldaten und um das Auswerten durch eine spitalunabhängige Stelle geht, schalten Spitäler und die Ärzte-Standesgesellschaft FMH seit Jahren den Bremsgang ein. Sie wollen beispielsweise nichts wissen von zentral erfassten Patientendossiers, deren Daten anonymisiert ausgewertet werden könnten. Den Krankenkassen wollen sie nicht einmal die erstellten Diagnosen mitteilen, die den Kassen Vergleiche ermöglichen würden. Meistens als Vorwand dient der Datenschutz. Es ist jedoch nicht bekannt, dass es etwa in den Niederlanden zu Datenschutz-Skandalen gekommen wäre, obwohl dort die Kassen die Diagnosen von Spitälern und Ärzten seit Jahren erhalten.
Ein unhaltbarer Interessenkonflikt besteht darin, dass die Kantone grosse Spitäler besitzen und gleichzeitig selber regulieren. Sie wollen lieber nicht, dass es bekannt wird, falls einzelne ihrer Spitalabteilungen zu viele vermeidbare Behandlungsfehler machen.
Die Beteiligten – ausser die Prämienzahlenden – können mit dem heutigen teuren System gut leben
Wirklich interessiert an tieferen Kosten und transparenter Qualität sind die Prämienzahlenden. Als Profiteure wehren sich die Spitäler, Spezialisten-Ärzte, Apotheker, Pharmakonzerne und Hersteller von Medizinprodukten sowohl gegen mehr staatliche Kompetenzen als auch gegen einen transparenten Wettbewerb um die beste Qualität. Denn jede einschneidende Systemänderung – mehr Transparenz, mehr Staat oder mehr Wettbewerb – könnte zu Abstrichen am heutigen 40-Milliarden-Kuchen führen. Und das will kaum jemand, der daran verdient.
Deshalb zeigen auch die Lobbyisten im Parlament kein wirkliches Interesse daran, die Weichen entweder in Richtung mehr Staat oder in Richtung mehr Wettbewerb zu stellen. Doch entweder mit mehr Staat oder dann mit mehr kontrolliertem Wettbewerb – beides mit mehr Transparenz verbunden – könnte man die Kosten und damit Prämien in den Griff bekommen.
Wege in die Zukunft
Es bräuchte eine klare Strategie
entweder in Richtung einer staatlichen Versorgung wie etwa in England oder Schottland. Dafür wären folgende untrennbaren Bedingungen zu erfüllen:
- Einheitskasse;
- alle Ärzte im Lohnverhältnis;
- keine privaten Spitäler.
oder dann in Richtung eines kontrollierten Wettbewerbs um die beste Qualität – wie etwa in den Niederlanden – mit folgenden nicht trennbaren Pfeilern:
- starke staatliche Instanz zur Qualitätskontrolle und wo immer möglich Erfassung und Transparenz der Behandlungsresultate;
- Vertragsfreiheit für die Kassen;
- Privatisierung aller Spitäler (Stiftungen oder AGs);
- Überall, wo es möglich ist, die Spital-Fallpauschalen abschaffen zugunsten von Pauschalen, welche die ganze Behandlung bis zur Genesung abdecken (Behandlungsführung bis zur Genesung oder der Wiederaufnahme der Arbeit, wie dies bei der SUVA für Berufskrankheiten und Unfälle der Fall ist). Die Pauschale könnten die beteiligten Anbieter ohne den Staat selber aufteilen. Das setzt die Vertragsfreiheit auch für die Spitäler voraus.
- Gate-Keeper-System (ausser in Notfällen zuerst zum Haus-, Kinder- oder Frauenarzt) und/oder integrierte Versorgungsmodelle.
- ausgebaute Kompetenzen für die Wettbewerbsbehörde.
Nach einem Grundsatzentscheid in die eine oder andere Richtung wäre ein konsequenter Anpassungsprozess nötig, der sich über Jahre hinzieht. Das Ziel wäre klar, Gesetze würden schrittweise angepasst, die Resultate ständig kontrolliert.
Das wichtigste Kriterium dabei muss die optimale Behandlung der Patientinnen und Patienten sein.
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Siehe Hintergrund:
Endlich Klartext zu den untragbar steigenden Kassenprämien
Es wimmelt von faulen Ausreden und Halbwahrheiten. Kaum jemand wagt es, das Übel der Kostenexplosion an der Wurzel zu packen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Leistungserbringer & Leistungsnehmer handeln zusammen aus, was das Beste ist, ohne dass sie auf die Kosten schauen müssen. Denn bezahlen tut ein Dritter: das Kollektiv der Versicherten, der Staat.
Solange das so ist, solange werden die Prämien weiterhin überproportional steigen. Da bringen auch die hier vorgeschlagenen Massnahmen bestenfalls eine temporäre Entlastung.
Warum sollen die Versicherungsnehmer nicht selbst wählen können, wofür sie sich versichern wollen und somit selbst die Kosten-Nutzenanalysen der verschiedenen Therapieformen & Medikamente beurteilen und sich entsprechend versichern lassen oder eben das Risiko selbst tragen?
Wir werden eh nie dahin kommen, dass eine Spritze gegen Krebs vergütet wird, die über Fr. 500’000.- kostet. Reiche können sich das aber sowieso leisten, weshalb wir wohl oder übel immer eine sogenannte Zweiklassenmedizin haben werden.
Warum also uns vom Staat bevormunden lassen, wenn doch jeder individuell passend für sich selbst entscheiden kann?
Das Gesundheitssystem ist wohl das schwierigste Gebiet für die Regulierung. Es gibt heute zu viele Fehlanreize für zu viele Akteure. Liberale befürworten in solchen Situationen grundsätzlich den Wettbewerb. Wettbewerb funktioniert aber nur, wenn er mit Transparenz und Wahlmöglichkeiten für alle verbunden ist. Urs P. Gasche liegt richtig mit seiner Kritik und seinen Vorschlägen zu verbesserter Transparenz.
Die wichtigste Rolle im gesamten Gesundheitssystem spielt der Hausarzt. Wie dessen Rolle verbessert werden kann, ist eine weitere ganz grosse Frage, welche die schweizerische Gesundheitspolitik beantworten muss.
Hervorragende Analysen von Herrn Gasche, man merkt sofort, dass hier vieljährige Erfahrung und Erkenntnis vorhanden ist. Leider scheinen die politischen und ökonomischen Interessen keine Veränderung zuzulassen, sofern es nicht zu einem Zusammenbruch kommt.
Mein Eindruck ist allerdings, dass sowohl das privatisierte System in den USA als auch das staatliche System in England (NHS) in der Praxis gescheitert sind. In den USA mit horrenden Kosten ohne allgemeine Versicherung, in England mit einem maroden und überlasteten System.
Wie sieht Herr Gasche das? Welche Länder haben es am besten gemacht? Holland, Dänemark?