Krebs-Screening-Programme: keine Lebensverlängerung
«Früherkennung rettet Leben.» Mit diesem Slogan warb Jeanne Fürst, die Botschafterin der Krebsliga Schweiz im «Brustkrebsmonat Oktober» für das Brustkrebs-Screening mittels Mammografie.
Zu einem ganz anderen Schluss kam wenige Monate zuvor eine Forschungsgruppe um den norwegischen Gesundheitswissenschaftler Michael Bretthauer: Die Behauptung, Krebs-Früherkennungs-Programme würden Leben retten, werde durch die aussagekräftigsten Studien, die es dazu gebe, nicht belegt.
Nicht nur das Mammografie-Screening betroffen
«Dass übliche Krebsfrüherkennungs-Massnahmen zur Lebensverlängerung beitragen, lässt sich nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zeigen, ausser vielleicht beim Darmkrebs-Screening mit Sigmoidoskopie», schrieb die Gruppe Ende August im Medizinjournal «Jama Internal Medicine».
Für den deutschen Risikoforscher Gerd Gigerenzer, der sich eingehend mit dem Krebs-Screening befasst hat, ist das eine wichtige, neue Nachricht – doch Medien hätten kaum darüber berichtet, kritisierte er in der «Unstatistik des Monats». Über Pläne, das Brustkrebs-Screening auszuweiten, sei dagegen ausführlich berichtet worden. Auch in der Schweiz ignorierten die Medien Bretthauers Resultate komplett, berichteten aber über Bestrebungen, das Brustkrebs-Screening auszuweiten.
Bretthauers Meta-Analyse im Medizinjournal «Jama Internal Medicine» liefert Anhaltspunkte für Politiker, die – angesichts von Gesundheitskosten, die für viele die Schmerzgrenze erreicht haben–, entscheiden müssen, wo das Geld im Gesundheitswesen am besten eingesetzt werden soll. Denn für die Politik geht es um die Frage, welche Gesundheitsmassnahmen der Bevölkerung am meisten (möglichst gesunde) Lebensjahre bringen.
Das einzige Früherkennungs-Programm, das Bretthauer zufolge einen deutlichen Effekt hatte, war die «kleine Darmspiegelung» (sogenannte Sigmoidoskopie, dabei werden nur die letzten rund 30 Zentimeter des Darms untersucht). Durchschnittlich 110 Tage leben Menschen demnach länger, die zu einem Darmkrebs-Früherkennungsprogramm mit Sigmoidoskopie eingeladen wurden. Das Brustkrebs-Screening-Programm mit Mammografie hingegen brachte im Durchschnitt keinen Gewinn an Lebenszeit, verglichen mit Frauen, die nicht dazu eingeladen wurden.
Grosse Unsicherheit bei den Schätzungen
Einen ungewissen Effekt auf die Gesamtsterblichkeit hatten Screening-Programme mit PSA-Test zum Nachweis von Prostatakrebs sowie das Screening auf Lungenkrebs mittels Computertomogramm (CT) bei aktuellen oder ehemaligen Rauchern und Raucherinnen. Der PSA-Test könnte etwa 37 Lebenstage bringen, das Lungen-CT circa drei Monate Lebenszeit.
Allerdings ist die Unsicherheit bei diesen Schätzungen sehr gross: Das Lungenkrebs-Screening-Programm beispielsweise könnte die Lebenszeit um ein Jahr verlängern oder auch um etwa 200 Tage verkürzen – irgendwo in dieser Bandbreite liegt vermutlich der wahre Wert. Auch beim Mammografie-Screening war die mögliche Spanne gross. Für präzisere Schätzungen bräuchte es Studien mit Millionen von Teilnehmenden anstelle der rund 20’000 bis 675’000 wie in denjenigen, die Bretthauer analysierte.
In seine Meta-Analyse flossen ausschliesslich Studien ein, bei denen die Teilnehmenden per Los einer Screening- oder einer Vergleichsgruppe zugeteilt wurden. Sie gelten als qualitativ hochstehend. Wer in der Screening-Gruppe landete, erhielt in regelmässigen Abständen eine Einladung zur entsprechenden Untersuchung – ob sie oder er das Angebot wahrnahm oder ausschlug, blieb den Personen selbst überlassen. Die ausgewerteten Studien bildeten also das Vorgehen bei den Screening-Programmen ab. Die Beobachtungsdauer lag im Durchschnitt zwischen 10 und 15 Jahren.
Zwei denkwürdige Erklärungen
Manche Studien zum Krebs-Screening zeigten zwar einen Rückgang der Todesfälle beispielsweise an Prostata- oder Darmkrebs – aber die Todesfälle insgesamt waren in der Screening-Gruppe und in der nicht zum Screening eingeladenen Gruppe gleich. Das sei auch kein Wunder, kritisieren einige Leserbriefschreiber die Bretthauer-Studie. Brustkrebs etwa sei zwar eine der häufigsten Todesursachen bei Frauen, trotzdem würden in der Regel weniger als drei Prozent der Frauen daran sterben. «Selbst wenn die Todesfälle durch Brustkrebs durch das Screening vollständig beseitigt würden, bräuchte es eine riesige Studie, um einen Rückgang der Gesamtsterblichkeit zuverlässig festzustellen», wendet ein US-Wissenschaftler ein.
Darauf weist auch der US-Medizinprofessor Gilbert Welch in einem Artikel in «Jama Internal Medicine» hin. Welch gilt als einer der profiliertesten Kritiker von unnützen Tests. Seine Erklärung: Entweder haben die Krebs-Screening-Programme nur sehr kleine Auswirkungen auf die Gesamtsterblichkeit, die mit Studien in der Grössenordnung von mehreren Zehn- bis Hunderttausend Teilnehmenden nicht gemessen werden können. Oder die Anzahl der Todesfälle aufgrund anderer Ursachen steige in der Gruppe, die zum Screening eingeladen werde.
Risikofaktoren begünstigen sowohl Krebs als auch andere Erkrankungen
Letzteres hält Welch für möglich. Denn Todesfälle im Gefolge des Krebs-Screenings – etwa im Zusammenhang mit nachfolgenden Untersuchungen oder einer Krebsbehandlung – würden oft nicht als Krebs-assoziiert erfasst. Etwa vier von zehn Todesfälle, die sich kurz nach einer Krebsoperation ereigneten, würden einer anderen Ursache als dem Tumor zugeschrieben, berichtet Welch. Wenn also aufgrund des Screenings ein Tumor entdeckt wird und der Patient nach der Krebsoperation am Herzinfarkt stirbt – dann hat das Screening zwar vielleicht sein Krebssterberisiko reduziert, aber sein Leben trotzdem nicht verlängert.
Ausserdem würden sich die Risikofaktoren für Krebserkrankungen und für andere Krankheiten mindestens teilweise überlappen: Rauchen etwa schadet nicht nur den Lungen, sondern begünstigt auch Herzinfarkte. Übergewicht ist ein Risikofaktor für Darmkrebs, aber auch für Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck, was ebenfalls Herzinfarkte begünstigt. Und Gebrechlichkeit sei ein Risikofaktor für aggressive Tumoren – aber auch für viele andere Todesursachen, gegen die das Krebs-Screening nichts ausrichte, so Welch.
Trotz kleinem Nutzen werde am Screening festgehalten
Selbst die Schweizerische Krebsliga – eine langjährige Befürworterin der Screening-Programme in der Schweiz – wies in einer Medienmitteilung zum «Brustkrebsmonat Oktober» darauf hin, «dass der Trend künftig vermehrt in Richtung personalisierte Brustkrebsvorsorge geht. Bei diesem sogenannten risikoadaptierten Vorgehen werden zum Beispiel der Zeitpunkt der Untersuchung oder die Untersuchungsmethode auf das individuelle Brustkrebsrisiko angepasst.» Noch aber seien flächendeckende Brustkrebs-Screening-Programme am wirkungsvollsten. Die Krebsliga empfiehlt deshalb den Kantonen, die noch kein solches Programm haben, «eine zeitnahe Einführung in die Wege zu leiten».
Bretthauer und seine Kollegen sehen das anders: Auch wenn die von ihnen untersuchten Krebs-Screening-Programme in Einzelfällen durchaus zu längerem Leben verhelfen könnten, zeigten sie im Durchschnitt doch einen ähnlich geringen Nutzen wie die vorbeugende Einnahme von Aspirin gegen Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Krebs bei Gesunden (0,6 verhinderte Todesfälle pro 1000 Personen und Jahr). Während das Aspirin aufgrund des ungünstigen Verhältnisses von Nutzen und Risiko aber nicht empfohlen werde, werde an Krebs-Screening-Programmen festgehalten.
«Grosses Massenexperiment»
Das PSA-Screening auf Prostatakrebs sei in den späten 1980er Jahren sogar schon propagiert worden, bevor es überhaupt grundlegend wissenschaftlich untersucht wurde, kritisieren drei der Studienautorinnen und -autoren in einem begleitenden Meinungsartikel in «Jama Internal Medicine». Erst Jahrzehnte später habe sich gezeigt, dass das PSA-Screening nur wenige Todesfälle an Prostatakrebs verhinderte, aber zu einer «substanziellen» Anzahl von sogenannten Überdiagnosen führte. Gemeint ist damit, dass Krebszellen gefunden werden, die dem Betroffenen jedoch bis zum Lebensende keine Beschwerden bereiten würden. Allein in den USA seien einer Schätzung zufolge 1,5 bis 1,6 Millionen Männer wegen eines Prostatakrebses untersucht oder behandelt worden, der ihnen auch ohne Behandlung wohl zeitlebens keine Probleme bereitet hätte. Ein Teil dieser Männer leidet nach unnützer Behandlung an Inkontinenz und Impotenz.
Bretthauer und seine Co-Autoren halten fest: «Krebs-Screening kann als grosses Menschenexperiment eingeführt werden, bevor grundlegende Informationen vorliegen, wie leistungsfähig der Screening-Test ist, wie nützlich, wie schädlich und ob er kosteneffizient ist.»
Die Lobby für Krebs-Screening-Programme sei gross und es bestünden Interessenkonflikte, schreiben der norwegische Gesundheitswissenschaftler Michael Bretthauer und zwei KollegInnen in einem Meinungsbeitrag in «Jama Internal Medicine» und listen auf:
- Krebsligen und wohltätige Organisationen müssten, um Spenden zu erhalten, aktiv und engagiert wirken. Auch sie würden das Krebs-Screening befürworten und daran festhalten. Über Schäden wegen Überdiagnosen oder infolge der Behandlung würden sie hingegen weniger informieren.
- Unter denjenigen Patientenvertreterinnen und -vertretern, die sich vehement für eine Ausweitung der Screening-Programme einsetzen, seien solche übervertreten, die glauben, ihr Leben dem Krebs-Screening zu verdanken – die in Wahrheit aber zu den überdiagnostizierten Opfern des Screenings zählen würden.
- Politiker befinden sich «inmitten eines Sturms der Lobbyisten», schreiben die drei Wissenschaftler. «Es ist schwer vorstellbar, dass ein Politiker bei der nächsten Wahl mehr Stimmen erhält, wenn er vorschlägt, bestehende Krebs-Screening-Programme abzuschaffen […]; es ist attraktiver, neue Krebs-Screening-Programme vorzuschlagen. Daher haben wir nie von einer politischen Kampagne gegen einen Krebs-Screening-Test gehört.»
- Allein in den USA würden sich die Ausgaben fürs Krebs-Screening auf 40 bis 80 Milliarden Dollar jährlich belaufen. Das verschaffe zehntausenden von Gesundheitsfachleuten und weiteren Personen Arbeit. Sie würden wohl kaum in einem Bereich arbeiten wollen, den sie als unnütz erachteten. Sie würden auch ihre Arbeit nicht verlieren wollen. Die Gastroenterologen beispielsweise zählten in den USA zu den bestverdienenden Fachärzten, was vor allem auf das Darmkrebs-Screening zurückzuführen sei.
Die Schlussfolgerung der drei Wissenschaftler: Personen mit medizinischen oder finanziellen Interessenkonflikten sollten sich an Empfehlungen für das Screening nicht in führender Position beteiligen dürfen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ärzteverband ist zum verlängerten Arm der allmächtigen Pharmaindustrie geworden….
Wohl fast Alle sind schon der Screening- Manie begegnet.
Als Nicht- Mediziner*In gilt man aber als komplett unfähig beurteilen zu können, ob ein Screening Sinn oder Unsinn ist. Beispiel: sich als Frau gegen ein Brustkrebsvorsorgescreening zu entscheiden, wird derselben als nicht verantwortungsvoll sich selber gegenüber ausgelegt.
Es wird immer und überall betont, wie wichtig etwelche Krebsvorsorge sei, abgesehen vom tatsächlichen Nutzen.
Es spricht mir aus der Seele, wenn es sich jemand erlaubt, dieses als «Grosses Massenexperiment» zu bezeichnen. Es gehört Mut dazu.
Vielen Dank für diesen Artikel, der hoffentlich mehreren Menschen hilft, selbstbestimmter zu leben und nicht Allem und Jedem blindlings Folge zu leisten!
Wieder ein sehr informativer Gesundheitsartikel. Der Normalbürger geht davon aus, dass mehr Screening natürlich weniger Krebstote und schwere Krebserkrankungen bedeutet; wie bei einem Auto, dessen Ölstand lieber zu oft als zu wenig nachgeschaut wird. Wir sind einfache Kausalketten und simple Modelle gewöhnt und als Gewohnheitstiere schwer von etwas neuem zu überzeugen.