Kommentar

kontertext: Back in the USSR

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Lenin war noch Internationalist. Woher kommt die Vorstellung von der russischen Suprematie?

In der Sowjetunion gab es ein seltsames Phänomen. Hunderttausende von Menschen waren nicht unter ihrem richtigen Namen bekannt, sondern unter allen möglichen Spitznamen. Dies widerfuhr auch vielen Nicht-«Russen», die sich in einem dominant russisch­sprachigen Umfeld bewegten. Es bestand immer die Möglichkeit, dass der eigene Name den anderen zu ungewöhnlich erschien und die Mitmenschen (Mitarbeiter:innen, Familien­­angehörige, Freunde, Freundinnen) die Person auf ihre eigene, eher «russisch» erscheinende Art benannten. Der implizite Druck der Umgebung war so stark, dass viele Menschen sich selbst einen «russifizierten» Namen zulegten, ohne darauf zu warten, dass andere sie umbenannten. Auf diese Weise verlor die Person den Namen zusammen mit einem Teil der nationalen Identität. Wirklich überraschen kann das nicht, denn: Obwohl die Gleichheit aller Menschen in der UdSSR offiziell verkündet wurde, wurden die Menschen in Wirklichkeit überhaupt nicht als Gleiche behandelt.

Unter Gleichen der Erste!

Vor der Oktoberrevolution, als Russland noch ein Imperium war, gab es keine Gleichheit, weil Russland die Titularnation (die namengebende Nation) war, die die anderen Nationen erobert hatte, und damals taten viele «zivilisierte Länder» genau dasselbe. Doch im November 1917 war eines der ersten Dekrete Lenins die «Erklärung der Rechte der Völker Russlands», in der «Gleichheit, Souveränität und das Recht auf Selbstbestimmung» proklamiert wurden. So problematisch sein Wirken in vieler Hinsicht war, Lenin war immerhin noch Internationalist und Realist. Er setzte z. B. auch der Initiative Finnlands, sich vom Russischen Reich abzuspalten, keinen Widerstand entgegen. Ganz anders Stalin, der damals Kommissar für Nationalitäten war und nach Lenins Tod 1924 an die Spitze des Sowjetstaates trat. Er trat für eine rigide vertikale Machtverteilung und einen paramilitärischen Staat ein, er implementierte die Idee von Russland als «Erster unter Gleichen» zusammen mit der These vom «grossen russischen Volk».

1937 tauchte die Bezeichnung von Russland als dem «älteren Bruder» auf, der in der «Familie der Völker» eine besondere Stellung einnehme. Diese Sichtweise beherrschte die gesamte Sowjetzeit. Sie war nicht nur verbal präsent, sondern auch visuell. Auf Plakaten und Postkarten, auf denen Vertreter verschiedener Nationalitäten abgebildet waren, standen immer «Russen» im Mittelpunkt. Es ist wichtig, dass Stalin selbst Georgier war, und tatsächlich war die Idee einer gewissen Besonderheit der russischen Nation keine nationalistische Idee, sondern eine politische. So wie die Moskauer privilegiert waren, weil alle Ressourcen in die Hauptstadt flossen, hatten die Einwohner der RSFSR (Russische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik) einen gewissen Vorteil, weil sie sich im Zentrum des Landes befanden und ihre Muttersprache sprechen konnten.

Das Sowjetvolk

Aber solche Privilegien hatten auch ihre Kehrseite: Wenn in den «nationalen» Republiken die nationale Identität zumindest ein wenig bewahrt wurde, so wurde sie in der RSFSR weitestgehend ausgelöscht und durch das erfundene Konzept des «Sowjetvolkes» ersetzt. Fast unmittelbar nach der Revolution wurde die Abschaffung der alten Lebensweise (Feiertage, traditionelle Küche, Familienwerte und alles, was mit der Religion zu tun hatte) verkündet und im Laufe der Zeit zunehmend durch einen neuen sowjetischen Lebensstil ersetzt. Dazu trug vor allem die Kulturrevolution in den 1930er Jahren bei. Auch die Geschichte des Landes wurde umgeschrieben und ausschliesslich als die Geschichte des Kampfes der Arbeiter für ihre Rechte betrachtet. Infolgedessen kam es in Russland zu einem Identifikationsverlust: Die Umwandlung des Russischen in das Sowjetische führte dazu, dass für viele Menschen eine Substitution stattfand und die Nationalität überhaupt nicht mehr existierte, da die Ideologie schliesslich die Identität ersetzte.

Die «nationalen» Republiken hatten jedoch auch ihre eigenen Probleme, und jede hatte ihre spezifisch eigenen – oft abhängig davon, wann sie Teil der Sowjetunion geworden waren und wie sehr sich die Bevölkerung gegen diesen Beitritt wehrte. In den Republiken kam es zur physischen Vernichtung von Menschen, die die nationale Identität verkörperten. So wurden vom 27. Oktober bis zum 4. November 1937 in Karelien mindestens 290 Persönlichkeiten der ukrainischen Kultur erschossen, und von den 223 ukrainischen Schriftstellern, die in den 1930er Jahren ihre Tätigkeiten einstellten, starben nur sieben eines natürlichen Todes, die anderen wurden erschossen oder in Konzentrationslager verbannt. Natürlich konnten die Behörden die Nationalsprachen nicht gänzlich verbieten, aber in vielen Republiken versuchten sie, ihre Bedeutung zu schmälern – die Strassenschilder waren in russischer Sprache verfasst, und selbst wissenschaftliche Dissertationen konnten mancherorts nur in Russisch verteidigt werden. Die nationale Identität beschränkte sich oft auf äussere Erscheinungsformen wie Folkloreensembles, die an Feiertagen die Republik repräsentierten. Doch je grösser der Druck, desto stärker der Widerstand.

Neues Russland?

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums begannen die ehemaligen «nationalen» Republiken, ihre Identität wiederherzustellen, wobei sie sich auf das stützten, was sie in der Sowjetzeit – manchmal heimlich – bewahrt hatten. Die Sowjetzeit wurde als feindlich empfunden, und das neue Leben sollte zu einer Überwindung dieser Erfahrung werden.

Indessen hat Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion seine sowjetische Vergangenheit nicht überwunden. Das wichtigste Problem, das im neuen Russland nicht gelöst wurde, war, dass sich die Bevölkerung nicht darüber einig war, was für ein Land sie aufbauen wollte. Europäisch gesinnte Reformer versuchten, europäische Werte zu implementieren und ausländische Lebensweisen zu kopieren, oft ohne die nationalen Besonderheiten zu berücksichtigen und die eigene Bevölkerung zu verstehen. Viele Menschen denken immer noch mit nostalgischen Gefühlen an die Sowjetzeit, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: es gab Leute, die ihren sozialen Status verloren hatten und keinen Platz in der neuen Realität finden konnten, andere trauerten der vergangenen Jugend nach, wieder andere, vergiftet von der sowjetischen Propaganda, träumten von früherer Grösse.

Auch wenn sich Russland offiziell als Föderation bezeichnet, haben die in dieser Föderation enthaltenen nationalen Einheiten in Wirklichkeit nur sehr wenige Rechte. Russland ist nach wie vor nicht in der Lage, die nationalen Probleme, die innerhalb der Föderation bestehen, zu lösen oder auch nur zu sehen. Wie zu Sowjetzeiten verfolgt es innerhalb der Föderation eine Politik des sanften Kolonialismus gegenüber den nationalen Republiken und autonomen Regionen. So schafft es ständig Spannungen an seinen Grenzen. Man kann es auch so sagen: Die Russische Föderation, der es nicht gelungen ist, ein wirklich neues Russland zu werden, ist zum Geist der Sowjetunion zurückgekehrt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Nika Parkhomowskaia ist eine russische Wissenschaftlerin, Kritikerin, Kuratorin und Theaterexpertin. Die Sprachforscherin und Kulturjournalistin Inna Rozowa hat für verschiedene russische Medien geschrieben. Beide leben seit 2022 in Westeuropa.

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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2 Meinungen

  • am 8.10.2023 um 12:29 Uhr
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    Das ist genau das, was ich schon lange behaupte: Unter Putin ist die Russ. Föderation zur UdSSR 2 verkommen und der ganze Rückwärtsprozess ist noch nicht beendet. Es wird noch schlimmer werden !
    Das ist eigentlich schade, denn ich hoffte dass nach Jeltzin in den Köpfen des russ Volkes ein Geist der Renaissance entstehen würde.
    Scheinbar ist es noch verfrüht für einen Neuanfang. Die heutigen Herrscher stammen ausnahmslos aus der Zeit der UdSSR, wurden also von dieser Zeit geprägt. Das sind ihre Vorbilder !
    Sie betreiben eine Vogel-Strauss-Politik. In Zeiten der weltumspannenden Informationsmöglichkeiten kann man wohl die freiheitlichen Informationskanäle unterbinden, die Menschen kennen aber die Tricks um diese Sperren zu unterlaufen.
    Aus diesem Grund werden die Andersdenkenden zu hohen Freiheitsstrafen verdonnert und in Goulag gesteckt.
    Nur so können die Machthabenden ihre Macht aufrechterhalten.
    Wie lange noch, das ist die grosse Frage ?
    Auf diese Frage habe auch ich keine Antwort.

  • am 8.10.2023 um 12:34 Uhr
    Permalink

    Die Stellung der Minderheiten in der UdSSR muss ein bißchen differenzierter betrachtet werden als es dieser Artikel tut. Kulturgüter und Sprachen wurden gepflegt; es gab regelmäßig Ausgaben z.Bsp. turkmenischer, georgischer, armenischer usw. Literatur. Wir in der DDR wurden so u.a. mit Rustaweli, und Firdausi vertraut gemacht. Lokale Filmstudios ermöglichten den Teilrepubliken eine eigene Filmherstellung. Im sowjetischen Pass gab es neben der Staatsbürgerschaft den Punkt «Nationalität»: hier konnte frei eingetragen werden. Zweifelsohne war alles bedroht und unterdrückt, was das Primat der KP gefährdete – damit alle nationalen, zentrifugalen und anti-kommunistischen Bewegungen. Das jetzige Russland hat die größte autochthone muslimische Bevölkerung eines europäischen Landes – und die wenigsten Probleme damit. Ukrainisch ist weder im Donbass noch auf der Krim verboten, sondern hier weiterhin zugelassene Unterichts- und Amtssprache. Anders als das Russische in der Ukraine seit 2014.

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