Die Migros leitet ihr Kulturprozent in die eigene Tasche
Wer glaubt, die Migros stecke ihr Kulturprozent in Kultur, liegt falsch. Vielmehr fliesst ein grosser Teil in Geschäfte, welche die Migros selber betreibt. Nämlich in die Klubschulen. Von den 139 Millionen Franken, die das Kulturprozent letztes Jahr ausmachte, zwackte die Migros 85 Millionen Franken für ihre Bildungskurse ab. Für die Bereiche Gesellschaft, Freizeit, Verwaltung und Wirtschaft gab es 28 Millionen. Für Kulturprojekte blieben nur knapp 26 Millionen Franken übrig.
Würde die Migros Bildung anbieten, die den kommerziellen Anbietern zu wenig einträglich ist, wäre wenig einzuwenden. Mit dem Kulturprozent könnte sie immerhin Kurse unterstützen, die sonst gar nicht stattfinden könnten. Doch stattdessen setzt die Migros auf das, womit sich Geld machen lässt:
- Derzeit sind es Trend-Kurse wie Pilates, Brotbackkurse oder Bodytoning – alles Kurse, die es auch ohne das finanzielle Engagement der Migros gibt.
- Das Kulturprozent finanziert zudem Aus- und Weiterbildungen in Informatik und Wirtschaft. Auch hier bietet die Migros kein Nischenangebot, sondern konkurrenziert viele andere kommerzielle Anbieter.
- In Zürich investiert die Migros Geld vom Kulturprozent in die Eventlocation «Eins0Eins», welche «unvergessliche Schulungen, Meetings und berauschende Feiern in einzigartiger Atmosphäre» anbietet.
- In Bern zählt die Migros auch das Restaurant «The Flow» in der «Welle 7» zu ihrem Bildungsangebot und lässt es grosszügig vom Kulturprozent profitieren.
- In der «Welle 7» zählen über 9000 Quadratmeter Arbeits- und Sitzungszimmer, die sie vermietet, zum Angebot des Kulturprozents.
Für die Migros ist das kein Problem. Auf Anfrage von Infosperber antwortete die Pressesprecherin, die Migros verstehe Bildung «als Motor für Gesellschaft und Wirtschaft».
In Bern finanziert das Kulturprozent den Bahnhof-Standort
Dank des Kulturprozents konnte sich die Migros in Bern einen der besten Standorte direkt beim Bahnhof sichern. Als die Post vor ein paar Jahren ihre ehemaligen Gebäude direkt bei den Gleisen freigab, mietete die Migros den ganzen Block, der heute «Welle 7» heisst.
Für eine Migros-Filiale war die Fläche auf mehreren Stockwerken allerdings viel zu gross. Doch die Migros zügelte auch ihre Klubschule an den teuren Standort, suchte sich Untermieter und richtete Dutzende von Arbeits- und Sitzungszimmern, die sie vermietet, ein.
Viele Untermieter warfen schon nach kurzer Zeit das Handtuch, weil die Mieten so hoch waren. Doch die Migros kann sich den Standort weiterhin leisten – dank des Kulturprozents, das über 10’000 Quadratmeter der «Welle 7» mitfinanziert.
Drei bis fünf Millionen Franken Miete pro Jahr
Die Jahresmiete für diese Fläche dürfte drei Millionen Franken betragen, wenn man von einem Mittelwert ausgeht, mit dem die Berner Immobilienexperten von Wüest Partner rechnen. Es können aber auch gut fünf Millionen Franken sein, wenn man mit Mietzinsen in der Nähe vergleicht. Vorher bot die Klubschule viele ihrer Kurse an weniger prominenter, dafür an viel billigerer Lage im eigenen Gebäude im Wankdorf an.
Mit dem Umzug an den Bahnhof konnte die Migros dank den Millionen aus dem Kulturprozent gleich doppelt profitieren: Sie konnte sich den prestigeträchtigen Standort bei den Gleisen leisten. Und sie konnte Coop ausstechen. Der Konkurrent hat zwar auch eine Filiale auf dem Post-Areal. Diese liegt aber sehr versteckt und abseits der grossen Pendlerströme.
Die Migros finanziert mit dem Kulturprozent vor allem eigene Interessen. Das wird auch bei den Gesundheitskursen deutlich. Dort steht: «Die Migros zählt zu den begehrtesten Arbeitgeberinnen in der Gesundheitsbranche.» Nach der Ausbildung würden «spannende Jobs» bei der Klubschule, Migros Fitness oder Medbase warten.
Auch bei den Sprachen beackert die Migros vor allem jenes Feld, auf dem auch die kommerziellen Anbieter arbeiten: Englischkurse. Aussergewöhnliche Sprachen, für die sich kaum kostendeckende Kurse finanzieren lassen, sind der Migros offenbar ebenfalls zu wenig einträglich. Kurse für Katalanisch oder Swahili gibt es nicht; und für Isländisch und Hebräisch beschränkt sich die Migros auf Online-Angebote.
Die Kultur muss darben
Für Kulturprojekte gab die Migros letztes Jahr weniger als einen Fünftel des Kulturprozents aus, nämlich 26 Millionen Franken.
Und ganz im Gegensatz zur Freigiebigkeit bei den einträglichen Klubschulangeboten, ist die Migros bei den eigentlichen Kulturausgaben zunehmend geizig. Während sie für ihre «Bildungsangebote» grosszügig Millionen ausgibt, spart sie in der Kultur ganze Einrichtungen und Projekte weg.
- Bis 2019 hatte die Migros Aare eine eigene Kunstsammlung und konnte mit jährlich 200’000 Franken Werke zukaufen. Damit wurde die regionale Kunstszene der Migros-Aare-Kantone Aargau, Bern und Solothurn gefördert. Die Sammlung wird nicht mehr weitergeführt.
- In fünf Schweizer Städten bieten Kulturbüros den Kulturschaffenden Werkplätze, Geräte und Unterstützung für ihr Projekte. Die Migros will ihre Unterstützung herunterfahren. Zum Beispiel soll das Kulturbüro Bern nächstes Jahr nur noch 100’000 Franken erhalten – weniger als die Hälfte des bisherigen Betrags.
- Auch bei gewissen Kursen setzt die Migros gnadenlos den Rotstift an. So führt die Berner Migros-Klubschule keine Keramik- und Töpferkurse mehr. Weil es dafür eine Werkstatt braucht, sind solche Kurse kaum einträglich – eigentlich ein klassischer Fall für Unterstützung vom Kulturprozent. Doch die Migros stellt lapidar fest: Sie richte sich «auf die sich dynamisch ändernden Marktbedingungen aus» und passe das Angebot «den veränderten Kundenbedürfnissen» an.
Nicht im Sinne des Gründers
Das Kulturprozent ist in den Staturen der Migros verankert. Die Migros kann den Betrag deshalb nicht einfach kürzen oder streichen. Die Verwendung des Gelds ist allerdings weit gefasst: Das Geld müsse «für wirtschaftspolitische, soziale und kulturelle Zwecke» verwendet werden. Das ermöglicht der Migros, die verfügbaren Millionen fast beliebig auszugeben – auch fürs eigene Geschäft.
Etikettenschwindel nennt das der Journalist Beni Frenkel in einem Artikel auf Inside-Paradeplatz. Sicher ist: Der heutige Einsatz des Kulturprozents entspricht nicht der Absicht von dessen Begründern. Ende 1950 veröffentlichten Adele und Gottlieb Duttweiler in der Migros-Zeitschrift «Brückenbauer» 15 Thesen, die als Leitlinie für die Weiterführung der Migros dienen sollten. Unmissverständlich halten die Duttweilers dort fest: «Das Allgemeininteresse muss höher gestellt werden als das Migros-Genossenschafts-Interesse […]. Wir müssen wachsender eigener materieller Macht stets noch grössere soziale und kulturelle Leistungen zur Seite stellen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Vielleich hängt es damit zusammen, dass man «Kulturschaffen» mit «Kunstschaffen» gleichsetzt. Es ist möglich, dass Künstler Kultur schaffen, aber an Kulturveränderungen sind wesentlich breitere Schichten beteiligt, auch wenn sie nicht bewusst an der Kultur schaffen.
Da passt es auch ins Bild, dass das Migros Kulturprozent seine nachhaltige, grosszügige und wirkungsvolle Unterstützung für junge klassische Musikerinnen und Musiker aus der Schweiz per Ende 2022 klammheimlich einstellte. Dieses erfolgreiche Programm mit Studienpreisen und einer subventionierten Konzertvermittlung bestand seit 1969, dazu kam 1974 ein Kammermusikwettbewerb mit Konzertvermittlung für die Gewinner. Davon profitierten nicht nur die jungen Musiker, sondern auch zahlreiche kleinere und mittlere Konzertveranstalter in der ganzen Schweiz. Fast alle heute im Konzertleben stehende Schweizer Musiker haben irgendwann von dieser tollen Unterstützung profitiert – alles gestrichen! Zum Glück hat sich der Förderkreis Kammermusik Schweiz vorgenommen, diese Lücke in der Nachwuchsförderung wieder zu schliessen, vorerst mit dem «Kammermusikwettbewerb Paul Juon», der im Oktober erstmals stattfindet und den Gewinnern ebenfalls eine wirkungsvolle Konzertvermittlung bietet (www.fkms.org).
Das ist ja nur konsequent. Die Migros ist auch auf dem Weg von der Genossenschaft zur AG. Gemeinwohl? Können sich andere drum kümmern. Die Duttweilers rotieren wohl in ihren Gräbern. Zu bedenken ist aber auch: die Migros macht nur was alle andern tun. Einen eigenen Weg schlägt heute keiner mehr ein. Weder in Wirtschaft noch Politik.
Ist mir als Gesuchsstellende für ein kostenhohes Musikprojekt auch schon aufgefallen – dieses Jahr war anfang MAI bereits die Tranche für Musik aufgebraucht, und man konnte keine weiteren Gesuche eingeben… sehr seltsame Verteilung des Geldes auch innerhalb den Sparten also. Weil: damit kann ja niemand rechnen, dass anfang Mai bereits das ganze Budget für Musikförderung alle ist….
Der Schweizerische Gehörlosenbund lässt Gebärdensprachkurse durch die Migros Clubschule durchführen. Kürzlich habe ich vernommen, dass die Migros Kurse gestrichen hat wegen schwacher Nachfrage. Die Gebärdensprache der Gehörlosen ist ein wertvolles linguistisch-kulturelles Konstrukt. So ist auch die Deutsch-Schweizer, die französische und die italienische Gebärdensprachen in der Schweiz «Landessprachen», also Sprachen, die aus der Schweiz stammen. Ich weiss nicht, was genau passiert ist, vielleicht ist es nur ein Gerücht, was ich vernommen habe. Aber wenn das wahr ist, würde es zur Haltung der Migros passen, so wie sie hier im Artikel beschrieben ist.