Kommentar
kontertext: Spieglein, Spieglein in der Hand
«Man isst nicht nur Fleisch, man ist Fleischesser. Man fährt nicht nur Rad, man ist Radfahrer.» Mit diesen zwei Beispielen umreisst die Wiener Philosophin Isolde Charim in ihrem Buch «Die Qualen des Narzissmus» ein Kernproblem der gegenwärtigen Debatten um Wokeness, politische Korrektheit und LGBTQIA+. Aus dem abwägenden Argumentieren ist ein Wettbewerb der Haltungen und fixen Zuschreibungen geworden. Es geht dabei ums Ganze: Wer bin ich, was bin ich, wofür stehe ich? Das Ich will bestehende Normen zugunsten des eigenen Gefühls hinter sich lassen – wenigstens von Fall zu Fall. Es fordert individuelle Selbstbestimmung, um sich im täglichen Wettbewerb zu behaupten. Während sich die politische Rechte nun, beispielsweise in der NZZ, diskursiv auf dieses «woke» Ich-bin-Ich einschiesst, verankert es Isolde Charim tiefer in der neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft – also genau da, woher die scharfe Konfrontation zurzeit kommt.
In ihren Überlegungen bezieht sich Charim dabei nicht bloss auf modische Phänomene wie Selfies oder Influencer, ihre Aufmerksamkeit zielt auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt: «Die narzisstische ‹Moral› – also der Anspruch, die Welt zu meiner zu machen – ist genau das: eine Form, Gesellschaftlichkeit zu negieren.» Wo jeder und jede für sich das normativ moralische «Über-Ich» abstösst zugunsten eines selbstbegründeten «Ich-Ideals», geht in letzter Konsequenz das Gemeinsame verloren. Was bleibt ist ein sich selbst bespiegelnder Unterhaltungs- und (mitunter kasperlhafter) Politbetrieb.
Die «narzisstische Krücke»
Die Qual dieses Narzissmus ortet Charim nun darin, dass er letztlich unerfüllt bleibt, bleiben muss, weil er an keine äussere Instanz mehr delegierbar ist, schon gar nicht an die Stars, die als Rollenmodelle des Ich-Ideals fungieren. Jeder und jede bleibt diesbezüglich eigenverantwortlich, also auch auf sich allein gestellt. Bei Ungenügen bleibt nur die Scham über das eigene Ungenügen, was notdürftig durch gesteigerte schamlose Intimität wettzumachen versucht wird. Von fern klingt hier Günter Anders› «prometheische Scham» von 1956 unter neuen Vorzeichen an. Aber die Scham, so Charim, ist nur Ausdruck eines «hemmungslosen Individualismus» im «entfalteten Kapitalismus», in dem «alle sozialen Beziehungen, ob familiäre, freundschaftliche, professionelle, ja sogar das Verhältnis zu sich selbst … nach dem Modell Investition-Kosten-Gewinn» begriffen und gelebt werden sollen. Wir sind human ressources, die sich in der freiwilligen Unterwerfung noch den Anschein von individueller Freiheit geben. Charim betont, dass die «narzisstische Krücke des Erfolgs» ambivalent ist, ein Versprechen ebenso wie eine Drohung, die Scheitern heisst. In diesem Wettbewerb der Selbst-Ökonomisierung fühlen wir uns allein noch in der Bubble von unseresgleichen sicher, wo nichts in Frage gestellt, sondern alles rituell gelikt und bestätigt wird. In der Trumpschen «Gesprächskultur» gelangt dieses System zur gesteigerten politischen, ja tyrannischen Entfaltung. Mit Blick auf die vulnerablen, verletzlichen Subjekte gilt indes: «Gerade weil die Selbstgewissheit nur auf dem eigenen Gefühl gründet, ist sie zugleich absolut und prekär.» Denn die Freiwilligkeit, mit der wir uns dem eigenen Ich-Ideal unterwerfen, bleibt nur ein pragmatisch verkümmerter schaler «Ersatz der wahren Freiheit», und unsere Pflege der Einzigartigkeit ist bloss «das imaginäre Gegenprinzip zur absoluten Austauschbarkeit».
Charims differenziert entwickelter Gedankengang geht von Freuds primärem und sekundärem Narzissmus aus, um ihn über Roland Barthes› Mythentheorie oder Andreas Reckwitz› «Gesellschaft der Singularitäten» in die Gegenwart zu führen. Am Schluss ist es niemand geringerer als Hegel, der ihr die letzte Pointe leiht: «Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse». Isolde Charim bietet in ihrem Buch keine Ausflucht. Doch allein schon der gedankliche Weg, den wir als Leser:in mit ihr nachvollziehen, bietet einen Gewinn an Erkenntnis und regt dazu an, das eigene Ich-Ideal in Augenschein zu nehmen. Sollte ein Weg aus dem Dilemma hinausführen, dann nur über eine solche Selbstbefragung.
Das ethische Dilemma
Charims Überlegungen zur gesellschaftlichen Befindlichkeit sind ohne namentlichen Bezug anschlussfähig an einen Essay von Roberto Simanowski von 2019. Unter dem Titel «Todesalgorithmus» zeigt er auf, wie das gequälte narzisstische Ich fundamental durch jene sozialen Medien bedroht ist, die längst zum Medium seiner Selbstbespiegelung geworden sind. Der titelgebende «Todesalgorithmus» steht für ein kategorisches Dilemma. Es geht um die Entscheidung, ob in einem akuten Notfall ein selbstfahrendes Auto einen Rentner oder ein Kind überfahren soll. Das eigentliche Dilemma besteht darin, dass der Algorithmus nicht wie der Mensch spontan reagieren kann, sondern programmiert werden muss. Es gilt also vorab eine Entscheidung zu setzen, die im deutschen Grundgesetz ausdrücklich verboten ist: Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden, auch nicht zum Zweck der Minimierung von Opfern. Wie immer die Frage durchgespielt wird, am Ende bleibt ein Konflikt zwischen absoluter und pragmatischer Moralvorstellung. Dieses Dilemma verknüpft Roberto Simanowski nun mit einer gravierenden, den «Kult des Individuums» radikal in Zweifel ziehenden Problematik. Aus der Perspektive der planetarischen Klimakrise gibt es keinen Platz mehr für das von Charim beschriebene narzisstische Ich. Seinem individuellen Streben nach Selbstbestimmung stellt sich die kollektive Sorge um das Überleben der Menschheit entgegen.
Rettung aus diesem Zwiespalt könnte, so Simanowski, von den sozialen digitalen Medien kommen. Beginnend mit dem Spamfilter (SpamAssassin) sind sie seit langem «ein Übungsfeld der künstlichen Intelligenz», auf dem grössere Aufgaben erprobt werden: elaborierte KI-Anwendungen wie eben das selbstfahrende Auto. Es wäre unverantwortlich, trotz des geschilderten Dilemmas, solche Anwendungen nicht einzuführen, denn der Mensch stellt jederzeit das grössere Sicherheitsrisiko dar. Algorithmen beispielsweise tippen am Steuer keine Textnachrichten und sie sind nie betrunken.
Rettung durch eine Öko-KI?
Wäre es daher nicht klug, fragt Simanowski, der KI weitere Aufgaben zu übertragen, etwa solche im Zusammenhang mit der Bewältigung der Klimakrise? Mit Rekurs auf Adornos Essaydefinition, in Freiheit zusammenzudenken, «was sich zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand», weitet er die Perspektive ins Globale und Spekulative. Im Grunde ist allen klar, dass eine Wachstumsökonomie die Klimakrise nie wird bewältigen können, die Frage ist bloss, wer wie viele persönliche Annehmlichkeiten dafür aufgeben muss. Angesichts der drohenden Verteilkämpfe erscheint einzig eine KI-Diktatur in der Lage, die Schwundökonomie zu regeln und die rar werdenden Güter so rigoros wie neutral unter den Menschen zu verteilen. «Der Algorithmus hat keine Freunde», gerade deshalb wäre er prädestiniert, all jene Eigeninteressen auszublenden, mit denen Menschen tagtäglich ihr dringliches Handeln auf morgen verschieben.
«Kernpunkt der neuen Ordnung ist eine Art ‚Kult der Gesellschaft‘, der die Interessen des Ganzen über die Rechte des Einzelnen stellt.» Die Künstliche Intelligenz wäre darauf trainiert (gewissermassen als KI-Nanny), mit allen verfügbaren Daten die Handlungsoptionen des Menschen richtig einzuschätzen und angesichts der klimatischen Bedrohung die notwendigen Entscheidungen zu fällen. So gesehen, hält Simanowski fest, wäre die Herrschaft einer solchen Öko-KI «die Extension der Willenskraft des Menschen; eine technisch organisierte Impulskontrolle». Allerdings könnte sie dadurch so stark werden, dass sie das ausbalancierte Verhältnis Mensch-Maschine zum Kippen bringt und so dominant wird, dass sie sich der menschlichen Kontrolle ganz entzieht. An diesem Punkt hebt Simanowski die «Spekulation zur Moral der künstlichen Intelligenz vollends auf eine metaphysische Stufe», indem er (wie schon Charim) bei Hegel landet: beim Weltgeist, der sich unnahbar, gottähnlich über den Menschen stellt. Ihm werden alle die listig gesammelten Daten der narzisstischen Selbstdarstellung – die Selfies, Likes und Matches – zugeführt. Aus dieser Perspektive erweisen sich die Zuckerbergs, Elon Musks und Xi Jinpings dieser Welt «als Helden der Datenbeschaffung im Lichte des digitalen Pantheismus. Sie alle produzieren das Öl, mit dem die KI uns in die Zukunft bringt».
Auch wenn Roberto Simanowski in seinen Darlegungen bis zum Äussersten geht, lässt er durchscheinen, dass er, unter dem Strich, nicht zu den Apologeten einer «singulären» Herrschaft durch KI gehört, wie sie seit den 1970er Jahren am MIT und im Silicon Valley herumgeistern. Mit seiner radikalen, durchaus plausiblen Spekulation gibt er uns vielmehr einen pointierten Denkanstoss. Er bekräftigt ex negativo, wie dringlich ein konkretes Handeln unsererseits wäre, sowohl im Umgang mit den digitalen Systemen wie mit der ökologischen Krise. Beides darf weder narzisstischen Männern mit Geltungsdrang noch der marktgeregelten Wachstumsökonomie überlassen werden. Vielmehr sollten wir in Anspruch nehmen, was uns auszeichnet: Vernunft, Kreativität und Handlungskraft. Mit der unscheinbaren Frage: «Wofür lebe ich denn?», lässt er immerhin die zarte Hoffnung anklingen, dass es vielleicht doch anders herauskommen könnte. «Der Verzicht müsste sich als Gewinn darstellen», hält er fest, dann liesse sich vielleicht auch der gequälte Narzissmus befrieden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Wird die Idee, dass eine ökologische KI die Menschheit retten könnte, nicht dadurch in Frage gestellt, dass auch diese KI von Menschen programmiert wird, die Interessen haben, Machtansprüche, in Konkurrenz zu anderen stehen? Dann wäre auch diese KI nicht unabhängig, sondern auch sie ein Machtinstrument. Dagegen scheint mir der innere Weg, durch Bewusstsein die eigenen narzistischen Anteile zu erkennen und im Aufgeben und Loslassen eine ganz neue Lebensqualität zu entdecken, doch der verheissungsvollere Ansatz. Er wird die Welt auch nicht retten, doch immerhin im freiwillig gewählten Verzicht (Fleisch, unbegrenzte Mobilität, Konsumwahn…) ein Glück erfahren, das in der Verbundenheit mit allem, was lebt, einzigartig ist.
Der Weg, den Sie bevorzugen, ist durchaus zu begrüssen. Die ökologische KI, mal abgesehen, ob Sie neutral bleibt, zeigt aber die Drastik der möglichen Alternativen auf. Auch wenn es schön ist, reicht es nicht, dass 69 Prozent den Klimawandel «als ein grosses Problem, bei dem ein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht» (Quelle: SRF Umfrage) anseheh – und im Stau erst recht besorgt sind.