Arbeitsmigration rational betrachtet
Unsere Vor- und Nachdenker sind gemeinhin die Ökonomen und die Wirtschaftspolitiker (männliche Form bewusst gewählt). Diese haben leider extrem enge und dogmatische Vorstellungen davon, was Wirtschaft ist, und wie sie unser Wohlergehen beeinflusst.
Sie machen vor allem zwei entscheidende Fehler, und die hindern uns auch daran, vernünftig über die Arbeitsmigration nachzudenken.
- Fehler Nummer 1: Die Ökonomen interessieren sich nur für das, was wir gegen Geld tun.
- Fehler Nummer 2: Sie unterschätzen die soziale Dimension massiv. Unser Wohlergeben hängt zwar auch von dem ab, was wir mit der Arbeit produzieren, aber ebenso wichtig ist die mit der Arbeit verbundene oder dadurch erschwerte soziale Integration.
Wenn unser Glück nur vom Produkt der Erwerbsarbeit abhängt, dann fördern wir den Wohlstand, indem wir die bezahlte Arbeit immer genau dort einsetzen, wo sie am meisten Bruttoinlandsprodukt (BIP) produziert. Das ist die ökonomische Logik, die sich etwa hinter der «Personenverkehrsfreiheit» versteckt, welche in der EU als eine der «vier Grundfreiheiten» hochgehalten wird. Aus demselben Grund halten die Ökonomen auch die «Flexibilität der Arbeitsmärkte» für wohlstandsfördernd. Die Arbeitskräfte ziehen weltweit dahin, wo ihre Arbeitskraft am meisten BIP generiert.
Durch die Migration geht viel unbezahlte Arbeit in der Heimat verloren
Das ist ein doppelter Trugschluss. Erstens sind Arbeitskräfte immer auch Menschen, die in der Familie, in der Nachbarschaft und Vereinen und Parteien wichtige unbezahlte Arbeit leisten. Durch die Migration geht diese Arbeit verloren und die entsprechenden «Produktionsstätten» (die Familien und Nachbarschaften) werden entscheidend geschwächt. Noch wichtiger ist, dass dadurch auch soziales Kapital zerstört wird. Unbezahlte Arbeit mag zwar weniger produktiv sein, aber in Bezug auf den sozialen Nutzen ist sie der bezahlten Arbeit fast immer weit überlegen.
Diese Überlegung verändert auch den Blick auf die Migration. Nur leicht überspitzt kann man es so formulieren: Die Arbeitskräfte wandern nicht dahin, wo sie am meisten verdienen, sondern dahin, wo das soziale Umfeld weniger kaputt ist. Sei es, weil es dort noch funktionierende Sozialsysteme gibt, sei es, weil sie dort auf die soziale Unterstützung der vor ihnen Geflüchteten zählen können. Auswanderung wird so zum doppelten Teufelskreis: Jeder Wegzug ist ein Grund mehr auszuwandern, und ein Grund mehr, dorthin zu ziehen, wo ein besseres soziales Umfeld lockt. («Wir kennen dort schon ein paar Leute.»)
Die tiefen Löhne der Einen sind die Gewinne und Boni der Anderen
Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir das Wechselspiel zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit einerseits und lokaler und globaler Nachfrage andererseits besser verstehen, als dies mit dem intellektuellen Werkzeug des ökonomischen Dogmas möglich ist. Auswanderungsländer oder -regionen werden letztlich deshalb verlassen, weil sie nicht (mehr) in der Lage sind, sich so zu organisieren, dass sie die lokalen und nationalen Bedürfnisse befriedigen können. Diese interne Nachfrage nach Nahrung, Wohnraum, Erziehung, Pflege usw. verursacht selbst in der global aufgestellten Schweiz mehr als 75 Prozent der bezahlten und 90 Prozent aller Arbeit (hier). Hier – in der Organisation dieser Tätigkeiten – liegt der Schlüssel zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Allerdings gibt es da ein Problem: Anders als einst benötigt heute jedes Land und jede Region Importe und ist somit auf ein externes Devisen-Einkommen angewiesen. Dazu braucht man Exportindustrien, und um diese wird weltweit immer härter gekämpft – Stichwort Standortwettbewerb. Es gilt, die Gunst der globalen Investoren zu gewinnen. Zu diesem Zweck muss man die Lohnkosten und die Steuern tief halten, was wiederum die interne Nachfrage nach öffentlichen und privaten Gütern schwächt. Gleichzeitig wird auch die Ungleichheit verschärft, denn die tiefen Löhne der vielen sind die hohen Gewinne, Boni und Saläre der oberen zehn Prozent.
Auch die privaten Haushalte sind heute zwingend auf ein externes Geldeinkommen angewiesen. Notfalls muss ihnen der Staat unter die Arme greifen. Dieser hat deshalb ein Interesse daran, möglichst viele unbezahlte in bezahlte (Dienstboten-) Arbeit zu verwandeln oder eine entsprechende Auswanderung zu fördern. Dazu passt, dass die Doppelverdiener in den Siegerländern des Standortwettbewerbs auf billige Dienstleistungen angewiesen sind. So entstehen globale Migrantenströme – welche letztlich die Verliererländer weiter schwächen.
Ständiger Wechsel schwächt die soziale Integration
Doch auch für die meisten Bewohner der «Siegerländer» wie die Schweiz, Deutschland, Frankreich etc. geht die Rechnung nicht auf. Auch hier werden die Produktionsstätten der unbezahlten Arbeit systematisch geschwächt. Deutschland hat zwischen 1992 und 2013 pro Kopf 13 Prozent unbezahlte Arbeit verloren.(hier). Dass solche Daten nur alle zehn Jahre erhoben werden, spricht für sich. Dazu kommt, dass der mit der Einwanderung und der Arbeitsmobilität verbundene ständige Wechsel der Nachbarn und Arbeitskollegen die soziale Integration der Einheimischen schwächt. Das ist nicht Fremdenfeindlichkeit, sondern schlicht die menschliche Natur – welche die Ökonomen leider ausklammern.
Ein weiterer grosser Nachteil sind die explodierenden Immobilienpreise in den Ballungsgebieten, die eine stetige Binnenmigration (auch Gentrifizierung genannt) zwischen Zentrum und Vororten auslösen. Was wiederum die Produktionskraft der Familien und Nachbarschaften enorm schwächt.
Nur am Rande sei hier erwähnt, dass die durch den Standortwettbewerb und die hohen Bodenpreise verschärfte Umverteilung von unten nach oben den Finanzsektor gewaltig aufbläht. Dieser verschlingt immer grössere Teile des BIP, ohne einen nennenswerten Beitrag zum Wohlbefinden zu liefern.
Ein beträchtlicher Teil der Migrationsströme wird folglich durch eine falsche Wirtschaftspolitik ausgelöst, die zudem den Wohlstand in den Ein- und Auswanderungsländern stark beeinträchtigt. Was müssen wir besser machen?
Die Schweiz sollte alle Arten von Einwanderung betrachten
Vereinfachend formuliert, geht es darum, dass die Auswanderungsländer und –regionen wieder in die Lage gebracht werden müssen, auf die eigenen Bedürfnisse reagieren zu können. Es braucht Entwicklung von innen heraus. Mit staatlichen Zuschüssen irgendeine Exportindustrie anzulocken reicht nicht. Das bringt vor allem dann nichts, wenn gleichzeitig die lokale Nachfrage und die unbezahlte Produktion geschwächt werden.
Mit einer jährlichen Einwanderung von rund 180’000 brutto und 80’000 netto hat die Schweiz die Grenzen ihrer Assimilationskraft zumindest geritzt. Finanziell und sozial. Darüber müssen wir reden: Einerseits steht die reiche Schweiz gegenüber den meist mausarmen Migranten in einer moralischen Pflicht. Andererseits muss die Belastung tragbar bleiben und auf alle Schultern verteilt werden. Das heisst, dass wir alle Arten von Einwanderung gleichermassen ins Visier nehmen müssen.
Beim Zustrom von Kriegsflüchtlingen ist der Spielraum begrenzt. Bei den Wirtschaftsflüchtlingen müssen wir bei der Ursache ansetzen. Der Druck zur Auswanderung muss geringer werden. Schnelle Erfolge sind dabei nicht zu erwarten und unsere Eingriffsmöglichkeiten sind beschränkt. Aber als globale Finanz-und Rohstoffdrehscheibe tragen wir eine Mitverantwortung, die wir etwa mit der Konzernverantwortungsinitiative wahrnehmen können.
Wir sollten aber auch vor der eigenen Tür wischen: Mit unserer aggressiven Wirtschafts- und Standortpolitik entfachen wir einen starken Sog zur Einwanderung in die Schweiz – meist auch zum Schaden unserer Nachbarländer. Wir können zwar den norwegischen Steuerflüchtlingen die Ausreise aus ihrem Land nicht verbieten, aber wir könnten die Doppelbesteuerungsabkommen in Übereinstimmung mit den Herkunftsländern so ändern, dass sie viele Jahre lang keine Steuern sparen. Hoch lebe die internationale Solidarität.
Einwanderer mit sehr unterschiedlichen ökologischen und ökonomischen Fussabdrücken
Und brauchen wir wirklich – wie dies avenir-suisse fordert – in den nächsten sieben Jahren 800’000 ausländische Fachkräfte? Müssen wir unsere demographische Lücke mit Einwanderern füllen? Warum füllen wir nicht einfach nur die durch die tiefe Geburtenrate entstandene Lücke, ohne Nettoeinwanderung? Letztlich geht es hier um unser auf chronischen Exportüberschüssen beruhendes Wirtschaftsmodell.
Es zielt darauf ab, dass möglichst viele Schweizer in den Branchen mit der höchsten Produktivität tätig werden – Finanzen, Pharma, Werbung, Google, Unternehmenszentralen etc. So könnten wir unsere BIP enorm steigern und die Staatskassen füllen.
Doch das ist Illusion. Die Spezialisten, die in die Schweiz kommen, um hier ihre teuer bezahlte Arbeit zu leisten, brauchen auch Wohnungen, Infrastrukturen, Schulen, Restaurants, Coiffeure, Dienstboten usw. Unser Modell zielt darauf ab, dass wir uns diese Arbeitskräfte billig aus dem Ausland beschaffen. Nachhaltig ist das nicht. Wir können die kleine Schweiz nicht immer weiter aufblähen. Letztlich muss sich jeder Wirtschaftsraum nach der Decke strecken, sprich nach den Bedürfnissen seiner Bewohner. Die Arbeit ist dort, wo die Menschen sind.
Gut bezahlte Fachkräfte oder norwegische Multimillionäre sind zwar Netto-Steuerzahler, aber ihr ökologischer und ökonomischer Fussabdruck ist wesentlich grösser als der von ukrainischen Flüchtlingen. Wenn wir über die Grenzen der Einwanderung reden, dann muss alles auf den Tisch. Wir können nicht gleichzeitig Bootsflüchtlinge zurückschicken und für reiche Steuerflüchtlinge den roten Teppich ausrollen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Bravo Herr Vontobel. Und die Unternehmen, die von der Einwanderung profitieren , sollten eben auch die damit verursachten Kosten übernehmen. Zum Beispiel für die Zusatzaufwendungen in der Bildung; aber der Politiker will das Verursacherprinzip nur so lange, wie seine Lobby davon profitiert («Gewinne, Boni und Saläre der oberen zehn Prozent»).
Ein treffender Artikel. Er stellt die Frage der Grenze des Wachstums und des Wohlstandes! Auch der Schweizer Wohlstand kennt seine Grenzen. Und die Auswanderungsländer geraten immer stärker in Rückstand, weil sie ihre Fachkräfte und gefragten Arbeitskräfte ins Ausland verlieren!
Und die Schweiz gerät als wirtschaftlich stärkstes Land in Bezug auf die Einwanderung weiter unter Druck, denn die Schweiz bleibt für ausländische Arbeitskräfte, auch aus der EU das Land der Träume!
Ich sehe, dass es Alternative Analysen zur SVP-Ideologie gibt. Dringend nötig, dass man das Thema eben nicht der SVP überlässt, die damit ihr eigenes Ziel verfolgt. Um die Linke – die blind-ideologische – zu überzeugen, dass da Handlungsbedarf besteht – das wird eine wohl unmögliche Überzeugungsarbeit. Immerhin hat Jacqueline Badran im Interview mit der NZZ am Sonntag von heute, 3. September 2023, klare Worte gefunden und das Thema auf den Punkt gebracht. Das Thema der Zuwanderung darf nicht der SVP überlassen werden, denn für sie ist das nur ein – wirksames – Wahlkampf-Thema. Die Steuergeschenke sind für die SVP tabu…
Was völlig ausser acht gelassen wird ist der Genderaspekt / Doing Gender.
Die Schweiz hat dem erwähnten Missstand präventiv vorgebeugt und anlässlich des Gender Mainstreamings, die richtigen prioritären Massnahmen getroffen. Zwecks Arbeitsbeschaffung abertausende Stellen von Frauen- (Gleichstellungs)beauftragten (anstelle Lehrern) geschaffen und Hochschulabschlüsse für Genderstudies (anstelle Ingenieuren, Informatikern).
Die aus Südwestasien einreisenden Fachkräfte, genügen den Gendervorgaben nicht.
Da haben wir u.a. seit Jahren den Girlsday, damit die Mädchen ‹Männerberufe› erlernen und im Ergebnis rekrutiert die EU Krankenschwestern aus Tunesien, da sich unter den eingereisten Fachkräften keine Krankenpfleger befinden.
Dieser sich seit Jahren abzeichnende Demographiewandel konnte ja niemand erahnen und war nicht vorsehbar, da nicht Teil des staatlichen Gender Mainstreamings.
siehe ua
https://www.eda.admin.ch/dam/deza/de/documents/themen/gender/24712-gender-lernprozesse_DE.pdf
«… abertausende Stellen von Frauen- (Gleichstellungs)beauftragten» existieren nicht in der Schweiz. Höchstens vielleicht ein paar Dutzend. Und Hochschulabschlüsse für Ingenieurwesen und Informatik gibt es zuhauf. Dass diese Studiengänge zu selten gewählt werden (erst recht von Frauen), ist halt ein Resultat unserer Freiheit. Jedenfalls ist es gewiss nicht die Schuld der Gender-Politik. Im Gegenteil: Diese fördert das Selbstbewusstsein der Frauen, um auch «männerlastige» Berufe anzustreben.
Welch eine Freude diesen gelungenen Bericht zu lesen, vielen Dank. Zugleich ist dieser ein weiterer Nachweis, dass die Ökonomie nach wie vor keine exakte Wissenschaft ist. Als solche gilt es, immer mit dessen Grenzen und den externen Zusammenhängen bewusst zu arbeiten (aka. Externalities). Wer im Unternehmen nur dem Buchhalter zuhört, wird selber nie ein innovatives Produkt entwickeln können. Ich habe diese allgemein herrschende, ausufernde Hellhörigkeit gegenüber Milieus wie Economie «Suisse», HSG, Bänkler usw. nie verstanden. Auch ist es kein Wunder, wenn diese Kreise immer mehr zu gesellschaftlichen Feindbildern verkommen.
Die freiheitssicherheitliche Vorstellung der Wirtschaftswelt mit Lebewesen & Natur ist die beliebteste Illusion der strategischen Planschmieden. Die grösste aller bekannten wissenschaftlichen Erfahrungen bleibt das Scheitern, wie schon der wirkvolle physikalische, anfanglose bis endlose ZerfallsExpansion des Komos aufzeigt. Individuen sind wenig rational, viel eher irrational, aber ständig auf wegsuchend zum meist kleinen bis grossen nächsten Erfolg und Glück. Wohin der zufällige Wahnsinn im strukturierten System die Menschen noch bringt, lässt sich am besten in den Geschichtsbüchern heraus ahnen. Die weitverbreitet grassierende Unzulernfähigkeit bleibt eines der grössten Übel auch in der Newage Zeit.
Die Fehler Nummer 1 und 2 sind nicht wirklich ‹Fehler›. Sie ergeben sich zwingend aus der Systematik des Kapitalismus und darin ist die lukrativste Form des Verdienstes eben Geld mit Geld zu machen. Man nennt das ‹investieren›, aber in Tat und Wahrheit nutzt es einfach die Arbeitskraft und Innovation von anderen, um reich(er) zu werden, ohne dass er selbst einen Finger rühren muss. In diesem System will man natürlich denen, die tatsächlich arbeiten, nicht zu viel Geld abdrücken müssen und das geht nur, wenn es ein Überangebot an Arbeitskräften gibt. Deshalb braucht es Migration.
Wer nun glaubt, was in Wirtschaft und Politik vorgeht, seien alles Fehler von Leuten, die nicht verstünden, was sie tun, der sollte vielleicht ein wenig tiefer graben.