Urteile aus Tätersicht bagatellisieren Übergriffe
Ein Gericht in Italien hat kürzlich einen 66-jährigen Schulabwart freigesprochen, der einer 17-Jährigen auf der Schulhaustreppe in die Hose gefasst und ihr Gesäss berührt hatte. Der Hausmeister gab laut italienischen Medien später zu, das Gesäss der 17-Jährigen berührt zu haben. Er habe einen Scherz gemacht. Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft gefordert.
Freispruch mit kurzer Dauer begründet
Das Gericht in Rom begründete den Freispruch damit, dass der Übergriff weniger als zehn Sekunden gedauert habe. Er sei «ungeschickt, aber frei von lüsternen Absichten» gewesen.
Die betroffene Schülerin kritisierte das Urteil im «Corriere della Sera»: «Die Richter halten das für einen Scherz? Der Hausmeister packte mich von hinten, ohne etwas zu sagen. Dann liess er seine Hände in meine Hose und unter meinen Slip gleiten, betastete meinen Hintern und zog mich dann so weit hoch, dass mein Intimbereich schmerzte. Das ist, zumindest für mich, kein Scherz.» Sie habe seine Hände deutlich gespürt. «Wenn es länger gedauert hätte, was hätten die Richter dann gesagt? Dass ich eingewilligt habe?»
Es sei wohl ein Fehler gewesen, dass ihre Schule die Justiz eingeschaltet habe: «Nach dieser Entscheidung wird ein Mädchen, das betatscht wird, denken, dass es sich nicht lohnt, Übergriffe anzuzeigen.» Dieses Schweigen schütze die Täter. Die Schülerin hofft deshalb, dass die Staatsanwaltschaft in Berufung geht. «Wenn sie es nicht tut, werde ich es als weiteren Verrat empfinden.»
Opfer nimmt man nicht ernst
Zehn Sekunden können für einen Täter unerheblich, für ein Opfer hingegen eine Ewigkeit sein. Unter dem Hashtag #10secondi (zehn Sekunden) veranschaulichten Videos in den Social Media, wie lange zehn Sekunden für Betroffene sein können. Initiant war der bekannte italienische Schauspieler Paolo Camilli. Ihm folgten die populäre Influencerin und Modeunternehmerin Chiara Ferragni, die sich für Frauenrechte einsetzt, und viele andere.
Sie kritisierten, dass das Gericht das Scherz-Argument des Hausmeisters übernahm und das Empfinden der jungen Frau überging. Sexuelle Übergriffe verletzen die körperliche Integrität, unabhängig von der Dauer oder der Intensität. Die Botschaften solcher Urteile aus Tätersicht: Opfer nimmt man nicht ernst, und Täter müssen keine Konsequenzen fürchten. Die Folge: Betroffene zeigen Übergriffe nicht an.
Urteile aus Tätersicht
Urteile aus Tätersicht sorgten diesen Sommer nicht nur in Italien für Schlagzeilen: In Deutschland kam ein geständiger Vergewaltiger auf freien Fuss. Als Grund nannte das Gericht, dass der Afghane in Deutschland gut integriert ist. Zum Zeitpunkt der Tat sei er alkoholisiert gewesen – wie bei früheren Übergriffen. Sein Verteidiger Christian Reiser sagte zur «Bild», der 23-Jährige sei ein Musterbeispiel, wie man in Deutschland gut ankommen könne. Laut der Boulevardzeitung ist das Opfer bis heute in Therapie.
Schmerz und Schrecken der Opfer nehme man nicht ernst, kritisierten diesen Sommer Tausende in Bulgarien. Anlass für die landesweiten Demonstrationen war die vorübergehende Freilassung eines Mannes, der seine Ex-Freundin brutal misshandelt und mit dem Messer auf sie eingestochen hatte. Das Gericht hatte die Verletzungen bloss als «leichte Körperverletzung» beurteilt. Eine 39-jährige Demonstrantin sagte gegenüber Nachrichtenagentur afp: «Wie kann es sein, dass ein solcher Sadismus als ‹minderer Fall von Körperverletzung› bezeichnet werden kann? Die Einschätzung des Gerichts ist einfach nur schockierend.»
«Keine übermässige Gewalt»
In der Schweiz hat das Bezirksgericht Zürich im Frühjahr einen nordmazedonischen Staatsangehörigen in erster Instanz für schuldig befunden, ein finnisches Au-pair vergewaltigt zu haben. Es verurteilte den Täter jedoch lediglich zu einer bedingten Haftstrafe von 22 Monaten. Er muss also nicht ins Gefängnis. Das milde Urteil begründete das Bezirksgericht damit, dass der Täter «keine übermässige Gewalt angewendet» habe. Die Tat sei nicht geplant gewesen und habe nicht lange gedauert. Auch diese Begründung basiert auf der Sicht des Täters.
Ähnlich begründete das Amtsgericht Olten-Gösgen vor zwei Jahren ein mildes Urteil gegen einen Vergewaltiger. Die Vergewaltigung sei «relativ mild» gewesen. Sie habe «nur kurz gedauert» und der Täter habe «ein Minimum an nötiger Gewalt» ausgeübt. Das Gericht verurteilte den Täter zu einer Haftstrafe von 28 Monaten, davon nur 12 Monate unbedingt. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von drei Jahren gefordert.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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