US-Chirurgen berichten aus der Ukraine
Eines der ersten medizinischen Teams, das der Ukraine zu Hilfe eilte, war die «globale chirurgische und medizinische Unterstützungsgruppe», auf englisch abgekürzt «GSMSG». Diese spendenfinanzierte US-Organisation bietet in Kriegs- und Katastrophengebieten medizinische Hilfe. Neun Tage nach dem Kriegsbeginn traf ein zehnköpfiges Team von «GSMSG» in der Ukraine ein, um Helfer vor Ort zu schulen. Am 5. März 2022 – 15 Tage nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs – landete das erste chirurgische Team von «GSMSG» dort.
In einem medizinischen Fachartikel im «Journal of the American College of Surgeons» fassen zehn «GSMSG»-Chirurgen ihre Erfahrungen zusammen. Der Titel ihres Artikels lautet: «Lektionen aus dem Krieg in der Ukraine und Anwendungen für künftige Konflikte mit nahezu ebenbürtigen Gegnern.»
«Der Konflikt mit der Ukraine bildet eine einmalige Gelegenheit für die Vereinigten Staaten, sich auf einen potenziellen, künftigen Konflikt mit nahezu ebenbürtigen Widersachern vorzubereiten – gegnerische Nationen mit gleichwertiger militärischer Stärke.»
Autoren des Artikels im «Journal of the American College of Surgeons»
Grosse Unterschiede zum «Krieg gegen den Terror»
Ihre Angaben beruhten auf eigenen Erlebnissen und Berichten aus erster Hand, so die Autoren des Artikels. Infosperber fasst diesen Artikel im Folgenden zusammen. Er spiegelt die Sicht der US-Mediziner wider, die früher mehrheitlich im Dienst der US-Armee standen.
«Der Konflikt mit der Ukraine bildet eine einmalige Gelegenheit für die Vereinigten Staaten, sich auf einen potenziellen, künftigen Konflikt mit nahezu ebenbürtigen Widersachern vorzubereiten – gegnerische Nationen mit gleichwertiger militärischer Stärke», schreibt die Gruppe einleitend. Seit dem Kalten Krieg seien die USA noch nie durch «fast ebenbürtige Kontrahenten» wie China und Russland so stark bedroht worden wie jetzt.
Der Ukraine-Krieg unterscheide sich stark vom über 20-jährigen «globalen Krieg gegen den Terror», heben die Autoren hervor. Im Kampf gegen terroristische Gruppen, die unkonventionell und mit begrenzten Möglichkeiten agierten, habe allgemein ein grosses Ungleichgewicht zugunsten der USA bestanden.
Innerhalb von Minuten bis Stunden hätten die USA dort jeweils durch ihre Dominanz zu Luft, zu Wasser und zu Lande die Oberhand gewonnen. Daher sei die Evakuierung von Verletzten relativ sicher vonstatten gegangen, so dass die Verwundeten an oder nahe der Kampfzone medizinisch versorgt werden konnten. Durch die rasche Versorgung, zum Beispiel mit lebensrettenden Bluttransfusionen, stiegen ihre Überlebenschancen.
Fünffach höhere Opferzahl
Im Ukraine-Krieg sei dies nun aber anders. Die Kämpfe dort seien anhaltend statt kurz, es sei der Ukraine oft unmöglich, die Oberhand zu gewinnen, verschiedenste Waffen kämen zum Einsatz – auch über weitere Strecken –, die Front verschiebe sich rasch, Erste Hilfe sei aus Sicherheitsgründen oft nicht machbar.
Ukrainische Spezialteams hätten teilweise nur 500 Meter von der Front entfernt unter Artillerie- und Raketenbeschuss Erste chirurgische Hilfe geleistet, berichtet das «GSMSG»-Team. Die russische Artillerie habe an die 60’000 «Artillerie-Runden» pro Tag abgefeuert – ein Ausmass, das die US-Truppen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hätten.
Aus all diesen Gründen gebe es im Ukraine-Krieg mehr und schwerer verletzte Menschen als im «Krieg gegen den Terror». Einer groben Schätzung zufolge würden fünf bis zehn Prozent der Soldaten im Einsatzgebiet verwundet oder getötet. Im «Krieg gegen den Terror» sei die Opferrate auf Seiten der USA mit 1,3 bis zwei Prozent deutlich niedriger gewesen. Die Lehre der GSMSG-Ärzte daraus: In künftigen Kriegen mit nahezu ebenbürtigen Gegnern sei mit einer etwa fünffach höheren Zahl an Opfern zu rechnen.
Achtzig Prozent der Haut verbrannt. Tot.
Geschosse, die gegen Panzer abgefeuert werden, hätten «verheerende Verletzungen» zur Folge. Richteten sie sich gegen Personen oder leichtere Fahrzeuge als Panzer, würden fast drei Viertel der Menschen sterben.
Das russische Militär habe spezielle Raketen gegen Panzer eingesetzt, die sowohl schwere Wunden verursachen als auch furchtbare Verbrennungen. Bei einem solchen Einsatz zum Beispiel seien 12 Personen getötet worden, die sich im Umkreis von 20 Metern befunden hätten. Bei einer 60 Meter entfernten Person verbrannten 80 Prozent der Körperoberfläche. Sie verstarb drei Tage später. Die Lehre der «GSMSG»-Ärzte daraus: Für künftige Kriege sei es daher wichtig, sich auf Verletzte mit schweren Verbrennungen vorzubereiten.
Stromgeneratoren gefährden die Sicherheit der Helfer
Im Gegensatz zum «Krieg gegen den Terror» ende die Bedrohung nicht, wenn die Verletzten aus der Kampfzone gebracht worden seien. Denn im Ukraine-Krieg reichten Drohnen und Flugkörper bis weit ins Hinterland. Die chinesische CJ-10 Rakete etwa könne über 1500 Kilometer weit feuern. Das bedeute, dass Patienten und medizinische Helfer selbst in geschützten Anlagen nicht sicher seien.
Etwa 25 Prozent der Patienten, die bei den ukrainischen chirurgischen Spezialtruppen nahe der Front eintreffen, befänden sich wegen des starken Blutverlusts im Schock. Weitere 15 bis 20 Prozent seien zwar nicht im Schock, brauchten aber ebenfalls Bluttransfusionen.
Die «GSMSG»-Autoren schildern einige der Probleme vor Ort: Die Blutbeutel, die den Verwundeten das Leben retten können, müssen kühl gelagert werden – doch wenn die Stromgeneratoren zum Kühlen länger laufen, könne dies nahe der Front die Sicherheit gefährden. Gefrorene Blutprodukte wiederum können bei Stromausfall nicht schnell genug erwärmt werden. Zudem gerate der Nachschub für die chirurgischen Ersthelfer regelmässig unter Beschuss.
Die «goldene Stunde»
Im Jahr 2009 verfügte der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass schwer verletzte US-Soldatinnen und Soldaten innerhalb von einer Stunde nach Eingang des Notrufs an einen Ort gebracht werden, wo sie medizinisch versorgt werden können. Er wollte so ihre Überlebenschancen erhöhen. Kriegschirurgen sprechen auch von der «goldenen Stunde». Noch wichtiger als der rasche Transport zum Spital sind jedoch rasche Bluttransfusionen für die Schwerverletzten. Da die meisten Blutprodukte aber nicht beliebig lange haltbar sind und zudem gekühlt werden müssen, hat die US-Armee seither verschiedene Lösungen für dieses Problem getestet. Eine Variante ist die «gehende» Blutbank aus Universalblutspendern mit Blutgruppe Null. Eine andere Variante ist der Einsatz von gefriergetrocknetem Blutplasma, das mit sterilem Wasser vermischt und infundiert wird. Als dritte Möglichkeit gibt es die Lieferung von Blutprodukten mittels Drohnen und Lagerung im tragbaren, batteriebetriebenen Kühlschrank.
Körperschild schützt weder an der Seite noch am Unterleib
Über 70 Prozent der Verletzungen im Ukraine-Krieg stammen von Artilleriefeuer und Raketenbeschuss, was zum «Polytrauma» an multiplen Organen führe. Demzufolge müsste bei einem künftigen Krieg der USA mit einem fast gleichwertigen Gegner einkalkuliert werden, dass es nicht nur signifikant mehr Patienten mit massiven «Polytraumen» geben werde, sondern dass der einzelne Verletzte auch mehr medizinische Ressourcen benötige.
Obwohl die allermeisten Soldaten in der Ukraine Helm und Körperschild tragen, drangen Fremdkörper durch den Schild hindurch oder – häufiger – seitlich oder unterhalb des Schilds ein. Einer der Gründe: Im Moment der Bedrohung rissen die Soldaten die Arme hoch, um ihren Kopf schützen.
Schädel-Hirn-Traumen mit möglichen, verheerenden Spätfolgen seien im Ukraine-Krieg ebenfalls deutlich häufiger als im «Krieg gegen den Terror». Beim Raketen- oder Artilleriebeschuss kam es bei den Patienten fast immer zu Gehirnerschütterungen, berichten die «GSMSG»-Mediziner. Diese Gehirnerschütterungen seien allerdings oft durch andere Verletzungen und Wunden überschattet worden. Penetrierende Verletzungen am Schädel seien fast alle tödlich gewesen.
Spitäler im Untergrund bauen
Das russische Militär habe gezielt Ambulanzen und Gesundheitseinrichtungen angegriffen, etwa 1100 seien beschädigt oder zerstört worden, berichten die «GSMSG»-Ärzte. Da die Evakuierung in weiter entfernte, sicherere Gegenden praktisch unmöglich oder erst später machbar sei, könne es künftig nötig werden, medizinische Einrichtungen komplett im Untergrund einzurichten, denn Betonmauern und Erdwälle wie jetzt böten nicht genügend Schutz gegen Beschuss.
Ein zusätzliches Problem ist die Kommunikation im Notfall, die durch den Gegner gezielt gestört wird. Die ukrainischen Helferteams wüssten deshalb oft nicht im voraus, mit welchen Verletzungen die Verwundeten kommen und worauf sie sich einstellen müssen. Auch der Nachschub an Material und Medikamenten werde immer wieder unterbrochen.
Am Schluss des Artikels geben die Autoren Empfehlungen im Hinblick auf künftige Kriege der USA mit Gegnern, die militärisch etwa gleich stark seien. Sie raten beispielsweise, Situationen zu simulieren, in denen Schwerverwundete unangekündigt eintreffen. Denn: «Der aktuelle Konflikt in der Ukraine bietet die Möglichkeit, Taktiken, Ausbildung und ein Gesundheitssystem zu entwickeln, um sich auf einen zukünftigen Konflikt mit einem fast ebenbürtigen Gegner vorzubereiten.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Kriege machen die Reichen das Volk bringt die Leichen….
Die Amerikaner machen sich Sorgen um Ihre Verwundeten in einem zukünftigen Krieg. Die könnten sie sich ersparen, wenn sie keinen Krieg mehr anzetteln würden!
Was soll in diesem schrecklichen Krieg anders sein, als das bekannte Grauen und unendliche Leid der Menschen?
Sehr erschütternd,dies zu lesen. Der einzige Schluss,der bei mir aufkommt,ist diesem sinnlosen bestialische Tun schnellmöglichst Einhalt zu gebieten. Krieg holt das schlechteste aus dem Menschen hervor und traumatisiert noch weitere Generationen. Dass neuerliche Waffenlieferungen den Krieg beenden ist angesichts des letzten Jahres eine Illusion. Setzt euch endlich an den Verhandlungstisch. Wie sagte Max Uthoff,man wird wohl erst über Frieden sprechen,wenn sie daran mehr verdienen,als mit dem Krieg. Eine ewigeTragödie bahnt sich an.
«Am Schluss des Artikels geben die Autoren Empfehlungen im Hinblick auf künftige Kriege der USA mit Gegnern, die militärisch etwa gleich stark seien. Sie raten beispielsweise, Situationen zu simulieren, in denen Schwerverwundete unangekündigt eintreffen. Denn: «Der aktuelle Konflikt in der Ukraine bietet die Möglichkeit, Taktiken, Ausbildung und ein Gesundheitssystem zu entwickeln, um sich auf einen zukünftigen Konflikt mit einem fast ebenbürtigen Gegner vorzubereiten.»»
Das verschlägt mir den Atem.
MEDIZIN war schon immer eingehegt in vorherrschende Systeme.
Ukraine-Krieg, » Krieg gegen das Virus»
spiegeln deren Größenphantasien.
Wer achtet noch den «Nürnberger Kodex»?
«Die Lehre der «GSMSG»-Ärzte daraus: Für künftige Kriege sei es daher wichtig, sich auf Verletzte mit schweren Verbrennungen vorzubereiten.»
Die USA haben es in der Hand, Verletzte mit schweren Verbrennungen zu vermeiden. Sie müssen ihrer
Grosshans-Hegemonialpolitik abschwören!
Es ist äusserst verstörend, diesen Bericht zu lesen. Sind die Verfasser der Vorschläge für» künftige Kriege» überhaupt zu primitivsten menschlichen Regungen noch fähig?
Eines ist doch ganz offensichtlich: NIE WIEDER KRIEG!
Und all jene, die Kriege provozieren, als «unausweichlich» bezeichnen, aus Kriegen Gewinne erzielen etc. sind schlimmste Verbrecher gegen die Menschlichkeit und müssen von der Staatengemeinschaft / UNO zur Rechenschaft gezogen werden, auch verantwortliche Regierungen und Nationen. die USA steht da zuoberst auf der Liste…..
Die Berliner Zeitung berichtet heute von einem Telefonat zwischen Saluschnyj (ukrain. Oberbefehlshaber) und General Mark Milley, Vorsitzender der US-Stabschefs. Danach wurde Saluschnyj aufgefordert, „sich auf die Front in Richtung Melitopol zu konzentrieren, … und die russischen Minenfelder und andere Verteidigungsanlagen zu durchbrechen, selbst wenn die Ukrainer dabei mehr Soldaten und Ausrüstung verlieren“.
Dies, obwohl schon jetzt unvorstellbar viele Menschen in diesem sinnlosen Krieg massakriert und ganze Landstriche verwüstet werden. «Kanonenfutter» ist noch ein viel zu mildes Wort für dieses Zermetzeln.
Vom Grauen und den unsagbaren Todesängsten, die von den Männern (mit Sicherheit auch Frauen) an der Front dieses – und anderer Kriege – durchlitten werden, ist in der Tat in den Medien kaum die Rede. Danke Frau Frei für diesen Beitrag! Die patriarchale Kriegslogik dominiert die Analysen in den Medien und meistens auch die Diskussionen im eigenen Umfeld. Leider. Gewisse Analyst:innen halten gar genau eine, ihre eigene, überhaupt für legitim und diskreditieren alle andern, nämlich jene, die sich für Friedensgespräche aussprechen. Selbst Feministinnen versuchen mich zu überzeugen, dass dieser Krieg unterstützt und bis zum «Sieg» der Ukraine weiter geführt werden muss. Wie Friedensgespräche initiiert und in Gang werden können ist Sache der Machtträger und der Diplomatie. Ich muss es nicht wissen. Der Bericht bestärkt mich, Friedensbewegungen – auch wenn sie gegen Sanktionen und gegen Waffenlieferungen sind – zu unterstützen und weiterhin an Friedensdemonstrationen teilzunehmen.
Der Artikel verdeutlich in meinen Augen folgendes:
In der Ukraine geht es nicht um die Verteidigung westlicher Werte oder Demokratie. Es scheint mir mehr darum zu gehen, dass beide Seiten (West und Ost) Ihre Kräfte messen und austesten, wie gut ihre jeweiligen Waffensystem am realen und ebenbürtigen Gegner funktionieren.
Die Bestände der Militärs können aufgeräumt und alte Waffen entsorgt werden.
Die Rüstungsindustrie darf die Bestände modernisieren.
Die Volkswirtschaften bezahlen.
Der Militärisch-industrielle Komplex wurde durch die USA in Europa in allen Bereichen verankert, das Modell exportiert, ein Konzept welches auch andere Länder dankbar übernehmen. Nie wieder Krieg! Schade, dass Geld dies unmöglich zu machen scheint.