Les Soeurs Pathan

«Les Soeurs Pathan» von Eléonore Boissinot: Eines der Highlights im diesjährigen Locarno-Programm © Dryades Films

Was hat sich gelohnt am Locarno Filmfestival?

Alfred Schlienger /  Die qualitativ zuverlässigste Sektion ist ganz klar die gehaltvolle Dokumentarfilmreihe «Semaine de la critique».

Filmfestivals sind, und das ist überall so, die programmierte Überforderung. Dieses Jahr in Locarno: 214 Filme an 13 Spielorten und in 11 Sektionen, vom internationalen Wettbewerb über das Piazza-Programm, die Retrospektive, die Nachwuchsreihen, die Histoire(s) du cinéma bis hin zu Panorama Suisse und zum Kids-Programm. Auch ambitionierte Festivaliers schaffen in den zehn August-Tagen maximal 15 bis 20 Prozent dieses Angebots. Ein belastbares Gesamturteil über einen Jahrgang wäre also geprägt von einiger Überheblichkeit – wie man sie in manchen sogenannten Leitmedien beobachten kann.

Wenn man das Locarno Filmfestival seit Jahrzehnten verfolgt, sind aber doch einzelne Trends und Problematiken zu erkennen. Das Urdilemma seit Jahren: Locarno liegt meteorologisch und touristisch zwar günstig, aber terminlich und cineastisch bezüglich Wettbewerb – eingeklemmt zwischen Cannes, Venedig und Toronto – eher suboptimal. Für Filmschaffende gilt: «Wer kann, geht nach Cannes.» Oder an eines der anderen grösseren Festivals in diesem Zeitfenster. Für Locarno bleibt der Rest.

Preiswürdig?

Film ist eine teure Kunst. Und es gibt schlicht nicht genügend echt gute Filme im Bereich des jungen Autorenkinos, auf das Locarno im Wettbewerb spezialisiert ist. Im diesjährigen Programm war maximal ein Drittel der Filme wettbewerbs- und damit preiswürdig. Der Rest ist Füllmaterial, das es nie ins Kino schaffen wird.

Wobei man gleich nachschieben muss: Kinotauglichkeit kann natürlich weder das einzige noch das wichtigste Auswahlkriterium sein. Festivals müssen zwingend auch Orte für cineastische Experimente und Innovationen sein, für das Erforschen neuer Wege des filmischen Schauens und Erzählens. Genau deswegen reisen ja auch viele an die Festivals, weil sie hier Filme sehen können, wie man sie im Kino sonst (noch) nicht sieht.

Manche der ungenügenden Filme sind aber gar nicht experimentell, sie sind oft recht konventionell erzählt und genügen einfach bezüglich Plausibilität, dramaturgischer Kohärenz, Schauspielführung oder Bildkraft nicht den minimalen Standards.

In Locarno war in den letzten Jahren der internationale Wettbewerb oft mit mehr als zwanzig Filmen arg verstopft. Der aktuelle künstlerische Direktor Giona A. Nazzaro scheint erkannt zu haben, dass weniger oft mehr ist, und begnügte sich in diesem Jahr mit 17 Filmen aus 15 Ländern. Eine weitere Reduktion auf 10 bis 12 Filme würde der weiteren Qualitätssteigerung des Festivalwettbewerbs wohl guttun.

Die Qualitätsgaranten

Der sichere Gegenwert zum Wettbewerbsprogramm bildet die Dokumentarfilm-Sektion «Semaine de la critique». Jeder Film zeigt hier eine andere Herangehensweise an sein Thema, kein einziger Film fällt ab, alle besitzen sie eine inhaltliche und formale Souplesse, eine Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit, die überzeugt und berührt. Zahlreiche Festivalbesuchende gruppieren deshalb ihr Locarno-Programm um diese festen Qualitätsgaranten herum. Jeder einzelne dieser Filme hätte eine ausführliche Besprechung verdient. Hier müssen ein paar Streiflichter genügen.

Les Soeurs Pathan_3© Dryades Films
«Les Soeurs Pathan» von Eléonore Boissinot

«Le soeurs Pathan» von Eléonore Boissinot taucht ein in die beschränkte Welt der beiden Schwestern Sofia und Suzain. Sie stammen aus dem westindischen Gujarat, der Heimatregion Gandhis. Vor zwanzig Jahren fand dort ein antimuslimisches Pogrom statt, das sie zwar selber nicht mehr erinnern, das aber als Trauma über der ganzen Familie schwebt. Tausende Muslime wurden damals getötet, Hunderttausende vertrieben. Wie ein harscher Wächter wacht der Vater über seine Töchter und will sie vor der gefährlichen Aussenwelt schützen – aber nichts möchten die beiden Schwestern sehnlicher, als am öffentlichen Leben selber teilnehmen, von dem sie abgeschnitten sind. Boissinot schafft mit viel Nähe ein so berührendes wie erfrischendes Intimbild dieser Huis-clos-Situation der beiden jungen Muslimas.

Variantenreiche Nähe

Ähnlich nah kommt Mehdi Sahebi mit «Prisoners of Fate» jungen Geflüchteten aus dem Mittleren Osten, die versuchen, in der Schweiz eine neue Heimat zu finden. Sahebi ist vor vierzig Jahren selber aus dem Iran in die Schweiz geflüchtet und hat hier Ethnologie, Geschichte und Völkerrecht studiert. Ist man Gefangener einer Vorbestimmung oder kann man sich dagegen auch auflehnen, das Leben in die eigenen Hände nehmen? Die Fragen gehen unter die Haut. Und die Antworten sind nicht einheitlich. Die Schwere des Themas wird aber immer wieder von einem herzlichen, freundschaftlichen Humor durchbrochen. Die höchst sehenswerte Dokumentation kommt im Frühjahr 2024 in die Schweizer Kinos. Gerne hätte man ihn schon in diesem Wahlherbst dort gesehen.

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«Prisoners of Fate» von Mehdi Sahebi

Wieder ganz anders rückt der Israeli Ohad Milstein seinen Eltern – und sich selber – auf die Pelle. In «Monogamia» befragt er Vater und Mutter je einzeln auch nach ihrem Intimleben und wie sehr sie sich sexuell in all den Jahren treu geblieben seien. Es gehört zweifellos zu den Stärken dieses Filmes, dass der Autor sich und seine eigene Frau in diesen Diskurs mit einbezieht. Die Behauptung dieser Dokumentation: Dass sich die Intimverhältnisse sowohl des alten wie des jüngeren Paares durch diese neue Offenheit deutlich dynamisiert haben. Beweisen kann das natürlich selbst ein Dokumentarfilm nicht wirklich.

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«Wanha Markku» von Markus Toivo

In Vater-Sohn-Geschichten geht es ja oft um fehlende, um vermisste Nähe. Der junge Finne Markus Toivo spürt in «Wanha Markku» auf raffinierte, sehr offene und spielerische Weise den Spuren nach, die ein meist abwesender Vater in der neunköpfigen Familie hinterlassen hat. Da werden zwei grundverschiedene Charaktere sichtbar, ohne sich gegenseitig zu entwerten. Der Vater ist ein Macher, der lebenslang an seinem Haus herumbaut, das dennoch nie fertig wird. Der Sohn ein stiller, reflektierter Grübler, der den lauteren Vater zu rhetorischen Höhenflügen herausfordert. Man schaut den beiden ungemein gerne zu dabei. Und reflektiert seine eigene Vatergeschichte.

Formung ist alles

Scheinbar ganz anders, nämlich formaler gehen die drei weiteren Filme der «Semaine de la critique» an ihr Sujet heran. Ästhetisch strukturiert, puzzleartig montiert, vermeintlich mehr objekt- als subjektbezogen. Aber das alles wäre ja traurige L’art pour l’art, wenn dahinter nicht die menschlichen Bezüge und Verflechtungen spürbar würden. Das ist einer der Gründe, warum diese grossartige Auswahl zu so vielfältigen, intellektuell, emotional und ästhetisch bereichernden Einblicken und Empfindungen beiträgt.

Mit «Archiv der Zukunft» nähert sich der Österreicher Joerg Burger einem quasi unverfilmbaren, total statischen Thema: dem Museum. Am Beispiel des Naturhistorischen Museums in Wien mit seiner 30 Millionen Objekte umfassenden Sammlung verbindet er den wissenschaftlichen Blick in die Vergangenheit mit wichtigen Erkenntnissen für die Zukunft. Auch wer sich selber nicht unbedingt in der Rolle dieser Museumsarchivare sehen möchte, wird mitgerissen von der Begeisterung dieser Menschen für ihr Tun und von den Einsichten, die sie uns bieten. Vier Jahre Arbeit für den Filmer und sein Team, 92 Minuten für die interessiert Zuschauenden.

«Vista Mare» von Julia Gutweniger und Florian Kofler leuchtet so ironisch wie liebevoll objektivierend hinter die Kulissen des Sommerferientraums an der italienischen Adria. Das Filmpuzzle ist letztlich eine Hommage an all die Abertausenden von helfenden Händen, Füssen und Köpfen, die diese Ferienindustrie von Frühling bis Herbst am Laufen halten. Das gut getaktete visuelle Backstage-Protokoll einer Badesaison für die Massen. Am überraschendsten wirken die Bilder aus der Grosswäscherei, wo jene wie am Fliessband schuften, die das Meer höchstens von Weitem sehen.

Les Premiers jours_2©Stéphane Breton
«Les premiers jours» von Stéphan Breton

In «Les premiers jours» von Stéphane Breton sieht man am Anfang einen einzelnen Menschen an Chiles Nordküste dicke Algenstränge aus dem Meer ans Land schleppen. Man denkt an einen einsamen, idealistischen Strandreiniger – bis der Blick sich weitet auf einen dichten Recycling-Kosmos, in dem sich die Anfänge des Lebens aus dem Meer mit dem Zivilisationsmüll der Gegenwart vermischt. Ein Film ganz ohne Worte, aber mit einer ausgeklügelten Tonspur, die den Bildern ebenbürtig ist. Es wirkt wie erste und letzte Tage der Menschheit. Grosses Kino für die grosse Leinwand.

Das Team dahinter

Der Qualitätsstandard der «Semaine de la critique» verdankt sich einer Auswahlkommission von erfahrenen Filmfachleuten, die sich jedes Jahr über 200 neuste Dokumentarfilme anschauen. Es sind dies aktuell: Ruth Baettig, Till Brockmann, Chiara Fanetti, Thomas Gerber, Brigitte Häring, Andrien Kuenzy und Teresa Vena.

Und man kann die Verneigung vor dieser Crew nicht abschliessen, ohne auch auf die ungemein souveränen und vielsprachigen Moderationen des Delegierten Till Brockmann hinzuweisen, der auf Italienisch, Englisch, Französisch und Deutsch durch die Gespräche der Filmschaffenden mit dem Publikum führt. Till Brockmann verfügt über die seltene Fähigkeit, selbst mehrminütige Statements von Beteiligten nicht einfach zusammenzufassen, sondern sie mit allen Schlenkern und Schlaufen wort- und stimmungsgetreu wiederzugeben. Schon allein das zu verfolgen, ist jeweils ein grosses Vergnügen.

Wenn man sich noch etwas wünschen könnte: Dass die Schweizer Verleiher und Kinobetreiber vermehrt auf diese Fundgrube für gute Dokumentarfilme schauen würden, um sie auch einem breiteren Kinopublikum zugänglich zu machen.

Dokumentarfilm als Stärke der Schweiz

Interessanterweise waren die spannendsten Filme auch in der Sektion «Panorama Suisse» die Dokumentarfilme. «I Giacometti» von Susanna Fanzun ist ein faszinierendes Porträt dieser aussergewöhnlichen Künstlerfamilie aus dem Bergell, die es alle in die weite Welt hinauszog, aber immer auch wieder zurück ins enge Bündner Heimattal. Der sehenswerte Film kommt ab dem 19. Oktober in die Deutschschweizer Kinos.

Verblüffend ist auch Martin Schilts neugieriger Dokfilm «Krähen – Nature Is Watching Us». Krähen sind die engsten Begleiter des Menschen. Sie waren schon vor uns da. Und sie werden uns als Gattung wahrscheinlich auch überleben. Kein Tier kennt uns besser. Mit Wissenschaftlern aus aller Welt schaut Schilt in die Chronik der Menschheit. Der Film ist seit diesem Januar in der Kinoauswertung und auch über Streamingsdienste zugänglich.

Und sonst?

Vergessen kann man den Siegerfilm des internationalen Wettbewerbs, der, offenbar mangels von Besserem, mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde: «Mantagheye bohrani» (Critical Zone) von Ali Ahmadzadeh aus dem Iran. Es darf bezweifelt werden, ob dieses einfallslose Imitat überhaupt je in die Kinos kommt. Der Regisseur kopiert die Grundidee von «Taxi Teheran» von Jafar Panahi (Goldener Bär an der Berlinale 2015). Fast der ganze Film spielt im Auto eines Drogendealers, der durch die Unterwelt Teherans kurvt und seine Kunden bedient. Ist das wirklich ein Film, der für Freiheit und Widerstand einsteht, wie es der abtretende Festivalpräsident Marco Solari, gewohnt pathetisch, verkündete?

Vorbehaltlos freuen kann man sich aber auf den Cannes-Sieger «Anatomie d’une chute» von Justine Triet, der die Piazza aufwühlte, mit einer einmal mehr grandiosen Sandra Hüller. (Ab 26.8. in der Romandie im Kino, in der Deutschschweiz etwa ab Dezember). Standing Ovation gab es auch für Ken Loachs «The Old Oak», auch wenn es nicht der beste Film ist des grossen, 87-jährigen Humanisten des europäischen Kinos (ab 23.11.).

Und einen Start in unseren Kinos wünschte man sich auch für den durchgeknallten Wettbewerbsfilm «Yannick» von Quentin Dupieux sowie den sorgfältigen ukrainischen Beitrag «Stepne» von Maryna Vroda, einer dokumentarisch stimmungsvollen Studie über eine verlassene Dorfgemeinschaft. Oder für den durch und durch schrägen und klugen Eröffnungsfilm «L’étoile filante» des belgischen Komiker-Duos Dominique Abel und Fiona Gordon, ein Schein-Krimi zwischen Marthaler und Kaurismäki, zum Schreien komisch – und: endlich mal kein US-Ballerfilm, der die Piazza als Startrampe missbrauchen darf.

Was bleibt? Es gibt wenige Orte in der Schweiz, wo über zehn Tage hinweg die verschiedenen Landesteile, die italienische, französische, romanische und deutsche Schweiz, so intensiv mit der weiten Welt zusammenerlebt werden können. Man muss dazu Sorge tragen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Eine Meinung zu

  • am 15.08.2023 um 10:19 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank, lieber Alfred Schlienger, für diese ausführliche Berichterstattung zum Filmfestival Locarno, die in den Leitmedien leider gar nicht mehr stattfindet. In den TA-Medien wurde mehr über den Besuch in Locarno von Bundespräsident Alain Berset berichtet als über die Filme. Die Unübersichtlichkeit in Filmfestivals ist enorm geworden, weshalb die kritische Auseinandersetzung umso notwendiger wäre. Es wundert niemanden, dass es ohne eine mediale Aufmerksamkeit die eigentlichen Perlen – gemäss Schlienger die in der «Settimana della critica» gezeigten Dokumentarfilme – es leider nicht in die Kinos schaffen, und wenn leider schnell untergehen.

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