Kommentar

kontertext: Die blühende Stadtwüste

Johannes Kaiser ©

Johannes Kaiser /  Die Stadt gilt als unwirtlich, die Natur als artenreich. Stimmt das? Nur zum Teil. Denn die Natur flüchtet in die urbanen Zentren!

Enge Hochhausschluchten, versiegelte Parkflächen, Beton und Asphalt, Glas und Stahl, Auspuffgase und Feinstaub, Lärm und Dreck – Städte gelten vielen Menschen als naturfeindlich. Pflanzen und Tiere scheinen aus ihnen verbannt. Natur, so glauben sie, findet sich nur draussen auf dem Land, jenseits der Städte, dort, wo Getreide und Gras wächst und sich Wälder ausbreiten, in Naturschutzgebieten und Nationalparks, dort, wo die vorherrschende Farbe grün ist und nicht betongrau, asphaltschwarz oder aluminiumglänzend, nicht ziegelrot oder putzbeige.

Und doch lebt die Stadt Tag wie Nacht, zwitschern Vögel zwischen ihren Glastürmen, brüten Bussarde, Sperber und Falken in Kirchturmspitzen und jagen Tauben und Mäuse. Artenschützer und Naturfreunde wissen inzwischen, dass sich die Städte zu Hotspots der Artenvielfalt entwickelt haben. Sie bieten oftmals einen Artenreichtum, der auf dem Land, auf den pestizidgespritzten und kunstdüngerreichen Acker- und Wiesenflächen der Bauern weitgehend verschwunden ist.

Das Öko-Dilemma

Die Bioland-Wirtschaft steuert zwar dagegen an, verzichtet auf chemischen Pflanzenschutz, muss aber auch Wildkräuter entfernen, um die Ernte nicht zu schmälern. Das verzögert das Artensterben, hilft aber angesichts der relativ kleinen Flächen nur wenig. Viele bedrohte Arten brauchen mehr Raum, um sich und ihren Nachwuchs zu ernähren. Die flickenartig verteilten Biohöfe nehmen in Deutschland nur knapp 10 Prozent der Landfläche ein. In der Schweiz sind es nach Angaben der Bundesverwaltung rund 15 Prozent.

Unter Naturschutz stehen in Deutschland nur etwa eineinhalb Prozent der Landfläche, so der Münchner Ökologe Josef F. Reichholf, während die Städte 10 bis 15 Prozent der Landfläche in Deutschland bedecken. Selbst wenn davon nur etwa ein Drittel grün ist, «ergibt sich daraus», so Reichholf, «immer noch ein Mehrfaches der Flächengrösse der Naturschutzgebiete».

Für die Schweiz liegen solche eindeutigen Zahlen nicht vor. Das 1977 eingeführte Bundesinventar erfasst einzigartige oder für die Schweiz typische Landschaften und ruhige, ungestörte, besonders schöne Erholungslandschaften. Die umfassen zwar 19 Prozent der Landesfläche, aber das ist nicht gleichbedeutend mit strengem Naturschutz. Es gibt insgesamt 20 Pärke, aber dazu gehören auch Gebiete, die wirtschaftlich genutzt werden. Kurzum: Naturschutz light, der den Arten nur bedingt beim Überleben hilft.

7,5 Prozent der Schweizer Landfläche sind laut Statistikamt Siedlungen, also alles vom Dorf bis zur Grossstadt. Das ist etwa gleich viel wie in Deutschland, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass rund ein Viertel des Landes unbebaubare und unbestellbare Gebirge, Schluchten und Gerölllandschaften sind.

Bienenweide Stadt

Viele bedrohte Arten finden in den Städten Unterschlupf, denn auf Balkons und auf Terrassen wachsen Blumen, Kräuter und Gemüse. Auf Flachdächern legen Anwohner kleine Gärten an und halten Hobbyimker Bienen. Die sammeln auf eben jenen Blumen ihrer Umgebung chemiefreien Nektar und unbelastete Pollen. Keine Neonikotinoide, besonders starke Insektengifte, wie sie die Landwirte zur Saatgutbeize einsetzen, stören ihre Entwicklung, schwächen sie und lassen sie sterben. Alle Arten von Insekten, die durch die Allround-Pestizide der Bauern auf Feldern und Wiesen drastisch reduziert werden, profitieren von den chemiefreien Stadtwiesen, den grosszügigen Parkanlagen mit Bäumen, Büschen und Blumenbeeten, den uralten weiträumigen Friedhöfen. Sie bieten ebenso wie efeu- und weinbewachsene Fassaden Vögeln Unterschlupf und nächtlichen Schutz. Die wiederum profitieren von der Insektenvielfalt. Und von ihnen wiederum ernähren sich Greifvögel. Bussarde und Sperber finden hier ein grösseres Nahrungsangebot als auf dem Land.

Trotz der Wohnungsnot gibt es in Städten immer wieder Brachflächen, unbebaute, verwilderte Grundstücke, leerstehende Fabrikgelände, auf denen sich zahlreiche seltene Wildpflanzen ausbreiten. Feldmäuse, Spitzmäuse, Haselmäuse, selbst Hamster, allesamt auf dem Land rar geworden und besonders geschützt, graben hier ihre Tunnel.

Lebensraum Brachfläche

Niemand vernichtet diese Natur, bekämpft sie, zerhackt sie, spritzt sie tot, wie das die intensive Landwirtschaft unternimmt.

Aufgrund der Daten, die die städtische Abteilung GrünStadtZürich erhebt, kommt der Zürcher Biologe und Schriftsteller Stefan Ineichen letztes Jahr im Sachbuch «Stadtfauna» auf 700 Tierarten. Das reicht von der Libelle über Heuschrecken, Tagfalter, Amphibien, Reptilien bis zu den Vögeln. Natürlich gehören angesichts des Zürichsees und der Limmat auch Fische und alle möglichen Wasserorganismen dazu. Das Forschungsprojekt BetterGardens der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) hat 2015 in 85 Gärten über 1000 verschiedene Arten von Wirbellosen gesammelt. Die sogenannte ländliche Natur, die intensiv genutzten landwirtschaftlichen Flächen sind und bleiben dagegen Artenwüsten.

Angstfreie Tierwelt

Noch ein Bespiel: Die Berliner Stadtfläche besteht fast zur Hälfte aus Wasser- und Grünflächen. Da tummeln sich Rehe und Wildschweine, die bis in die Gärten der Villenviertel vordringen und sie zum Ärger der Besitzer kräftig umwühlen. Dafür respektieren sie sogar Ampeln. Im Berliner Stadtteil Zehlendorf wartete eine Wildsau mit ihren Frischlingen an einer Ampel, bis sie Grün bekam. So gesehen und wiedergegeben im Buch «Stadt Land Fluss» des Münchner Ökologen Josef F. Reichholf. In diesem und seinem gerade erschienen Folgebuch «Stadtnatur» zeigt er an zahlreichen Beispielen, warum große Städte eine «neue Heimat für Tiere und Pflanzen» geworden sind.

Man kann das auch selbst beobachten. So querte im Berliner Stadtpark Schöneberg ein Fuchs am frühen Abend seelenruhig eine Strassenkreuzung, um zum anderen Parkteil zu gelangen. Wir Fussgänger liessen ihn völlig kalt. Auch Eichhörnchen, Wiesel und Ziesel, Krähen und Raben schätzen die Parks. Dort finden sie immer eine reich gedeckte Tafel: Pizzareste und andere weggeworfene Lebensmittel. Über die Dächer spazieren Waschbären und springen auf Dachterrassen, bedienen sich vom Vogelfutter. So auf der eigenen Terrasse im fünften Stock unseres Miethauses gesehen. Sie alle haben gelernt, dass ihnen keine Gefahr droht, kein Jäger auflauert. Die Stadt ist tolerant, bekämpft kein Tier. In seltenen Fällen wird in Berlin schon mal ein wild gewordener Eber abgeschossen, der Menschen attackiert hat. Ansonsten ist jede Verfolgung untersagt.

Nachteulen

Viele der neuen Stadtbewohner bekommt man allerdings selten zu Gesicht, denn die meisten wie Igel, Siebenschläfer oder Marder sind nachtaktiv. Selbst Fledermäuse schätzen die städtischen Quartiere. Sie lockt das grosse Angebot an Nachtfaltern unter Strassenlaternen. Tagsüber schlafen sie in Kellern, Gewölben, alten Bunkern. Sämtliche europäische Fledermausarten, auf den Roten Listen bedrohter Arten verzeichnet, finden hier Schutz und Nahrung. In freier Natur haben sie weitaus schlechtere Überlebenschancen.

Neben den menschlichen Nachteulen tummeln sich in den Städten auch echte Eulen und Käuzchen. In alten Parkbäumen finden sie ebenso wie Spechte und Eichelhäher Bruthöhlen. In den Wäldern draußen werden solche alten Riesen oftmals gefällt, in der Stadt gehegt und gepflegt.

Freche Spatzen

Und das gilt auch für die Sperlinge. Angesichts des dramatischen Insektenschwunds auf dem Land ist der Spatz dort zur bedrohten Art geworden. Frech und gar nicht scheu springt er in der Stadt auf die draussen stehenden Tische von Cafés und Restaurants, pickt Brotkrümel und Kuchenreste auf.

In freier Wildbahn nur noch selten zu hören, ebenfalls stark gefährdet: die Nachtigall. Allein in Berlin singen über 1000 Exemplare. Keine Landschaft kann da mithalten.

Umgeben sind eigentlich alle Städte von sogenannten Speckgürteln, grünen Vorortsiedlungen mit Einfamilienhäusern mit Gärten und Schrebergartenkolonien, verwilderten Grundstücken. Da wachsen wieder weitgehend pestizidfrei Obst- und Nussbäume, alle möglichen Sträucher. Igel schätzen das reichhaltige Angebot. Blumenrabatten und Gemüse locken wiederum Insekten, Käfer und Schmetterlinge – nicht immer zum Wohlgefallen der Gärtner, aber zur Freude der gefiederten Welt. Berlin hat, so der Ornithologe Peter Berthold in seinem Buch «Unsere Vögel», deutschlandweit die meisten Vogelarten: 150. Das sind fast zwei Drittel aller in Deutschland vorkommenden Arten. Kein Nationalpark, keine Naturschutzfläche kann da mithalten.

Ganz so viel kann Zürich nicht bieten. Aber immerhin leben hier laut Brutvogelkartierung der Stadt inzwischen 56 Arten. Das sind 10 Prozent mehr als 2009 und die Gesamtrevierzahl der Brutvögel steigerte sich um 42 Prozent.

Dass Tiere und Pflanzen die Städte lieben, liegt auch an deren Wärme, denn Städte sind erheblich wärmer als die Landschaft weitab. Ein Kältetod ist im Häusermeer weit weniger wahrscheinlich als in freier Natur.

Bedrohung Stadtverdichtung

Doch droht der neuen verfolgungsfreien Heimat mit reich gedeckter Speisetafel, ausreichenden Nisträumen und Duldungserlaubnis von ganz anderer Seite Gefahr: Die Diskussion um Verdichtung der Innenstädte, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, könnte den Garaus für viele offene Grünflächen und Gärten bedeuten. Das würde den Lebensraum für die Landexilanten stark reduzieren. Keine allzu gute Idee auch aus Klimaschutzgründen. Offene Gartenböden, Grünflächen, Parkanlagen lassen Starkregen eher versickern und den Grundwasserspiegel für Dürrezeiten ansteigen. Versiegelte Flächen schlucken dagegen kein Regenwasser. So profitiert vom städtischen Grün nicht nur die Natur, sondern auch der Mensch. Wenn das keine Win-win-Situation ist!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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