Verletzter Soldat

Mehr als die Hälfte der schwer verwundeten Soldaten stirbt in den ersten zehn Minuten. © zabelin / Depositphotos

Kriegschirurgie: Entstellte Gesichter, zerstörte Körper

Martina Frei /  Auch Verwundete, die es ins Spital schaffen, sind noch lange nicht über den Berg. Kriegschirurgen berichten.

Seit 2014 arbeitet der Arzt und Chirurg Shazeer Majeed in Kriegsgebieten. Mehr als 20 Einsätze hinter der Frontlinie hat er hinter sich. «Jeder ist anders. Aber es sind immer Geschichten vom Leid», sagt der 40-Jährige, der für die humanitäre Hilfsorganisation «Ärzte ohne Grenzen / Médecins sans Frontières» (MSF) mehrmals in Syrien und im Irak war, im Jemen, im Südsudan, im Sudan, im Libanon, in Jordanien und in Afghanistan. 

Von den im Krieg schwerst verletzten Menschen sterben etwa 60 Prozent in den ersten zehn Minuten, weil sie Verletzungen haben, die so schlimm sind, dass sie mit dem Leben nicht vereinbar sind. Oft betreffen solche Verletzungen den Kopf. 

Bei der «Operation Herrick» im Afghanistan-Krieg wurden von 2004 bis 2014 insgesamt 2413 britische Soldaten verletzt, fast jeder fünfte starb. Neun von zehn davon schafften es nicht bis ins Spital, bilanzierte ein Fachartikel in «BMJ Military Health».

Tagelang schwer verletzt zum Spital gelaufen

«Das grösste Problem für die Patienten ist, das Spital zu erreichen», sagt Majeed, der aus Indien stammt. «Einer meiner Patienten lief drei Tage lang mit einer Schussverletzung zu uns, ohne jegliches Schmerzmittel. Ich weiss nicht, wie er das geschafft hat. Es war wohl der schiere Wille, zu überleben.» 

Selbst wenn das nächste Spital «nur» mehrere Stunden entfernt liegt, verbluten viele Verletzte auf dem Weg dorthin. Bei der «Operation Irak Freiheit (Iraqi Freedom)» 2003 zum Beispiel betrug die durchschnittliche Fahrzeit zum nächstgelegenen US-Militärspital, an dem Chirurgen arbeiteten, laut dem «American Journal of Emergency Medicine» rund 4,5 Stunden.

Viele verbluten, bevor sie das Spital erreichen

Wer im Krieg «Glück» hat, erhält am Verletzungsort Erste Hilfe und kann an einem «Stabilisierungs-Punkt» nahe der Front so weit versorgt werden, dass die Fahrt ins Spital eine Option wird. Ob er oder sie diese Fahrt überleben wird, hängt nicht nur von den Verletzungen und vom Blutverlust ab, sondern auch davon, ob die diversen «Checkpoints» auf seiner Route ihn passieren lassen und ob Strassen gesperrt, zerstört oder vermint sind. Die Wege zum Spital sind häufig unsicher.

Normalerweise befinden sich die Spitäler, in denen MSF-Teams arbeiten, etwas zurückversetzt hinter der Frontlinie. Eine Ausnahme erlebte Majeed in Khartoum im Sudan: Das einzige Spital weit und breit lag nur Minuten von der Kampfzone entfernt. «Wir haben dort Menschen mit allen Arten von Verletzungen gesehen.» In 45 Tagen behandelte das MSF-Team über 2000 Patienten und führte mehr als 700 Operationen durch. 

«Die Überlebenschancen hängen davon ab, welcher Teil des Körpers getroffen wurde. Verletzte mit Schrapnell-Wunden in Muskeln schaffen es oft. Auch wenn bei einer Schussverletzung ‹nur› die Gedärme getroffen werden, sind die Chancen intakt. Wenn es aber die Lunge, die Leber oder die Nieren erwischt hat – dann fangen die Probleme an», sagt Majeed.

Mehrstündige Operationen am Brustkorb, am Bauch, an den Beinen

Meist seien Kriegswunden «sehr komplex». Das unterscheide die Arbeit von der in der Traumachirurgie, sagt der Kriegschirurg. Was dies konkret bedeutet, schildert Majeed am Beispiel eines 20-jährigen Patienten in Syrien. Diesen jungen Mann mussten die Chirurgen mehrmals operieren: Um den Brustkorb zu schliessen, die Eingeweide zu untersuchen und Blutungen zu stoppen, die Milz zu entfernen und die Knochenbrüche an den Beinen zu stabilisieren. Patienten mit solchen Verletzungen seien in Kriegsgebieten oft die tägliche Realität, sagt der Chirurg. 

Im syrischen Aleppo zählte ein britischer Arzt einmal die Verletzten, die er der Reihe nach im Spital behandelte: Fast jeder dritte Patient war ein Kind, berichtete er 2022 in «The Lancet«. Das mittlere Alter der Verwundeten betrug 25 Jahre. Jedem vierten Verletzen wurde eine Extremität amputiert, jeder fünfte benötigte mehrere Operationen am offenen Bauch. Diejenigen, die als «unrettbar» galten – dazu zählten zum Beispiel alle mit Einschüssen am Kopf – erhielten eine Palliativbehandlung oder wurden getröstet, bis sie starben.

Um die Verletzten richtig zu behandeln, müsse man wissen, welche Art von Verletzungen das jeweilige Geschoss verursache, erläutert Majeed. Je nachdem, wie sich die Wucht der Kugel auf das Gewebe überträgt, resultieren daraus andere Verletzungen, bei denen teils viel Gewebe zerstört wird.

Unterschiede zwischen Schuss- und Detonationsverletzungen

Explosion Soldaten
Die Druckwelle einer Detonation und die dabei wie Geschosse herumfliegenden Teile führen zu schweren Verletzungen.

Kriegschirurgen unterscheiden zwischen Schuss- und Explosionsverletzungen. Letztere werden durch den enormen Luftdruck verursacht, der bei einer Detonation entsteht. Er führt zu multiplen und teils tödlichen Verletzungen in luftgefüllten Organen: Lungen, Darm, Mittelohr. Überdies können Detonationen tiefe Verbrennungen verursachen.

Dazu kommen Verletzungen durch herumfliegende Splitter sowie im Sprengsatz absichtlich eingebaute Drähte oder spitze Teile. Die Körper sind dann übersät mit Verletzungen. Diese Detonationsverletzungen können «erhebliche Schäden an den Eingeweiden verursachen – Verletzungen wie Blutungen in den Brustkorb, Risswunden an Leber, Milz und Nieren, Magen- und Darmdurchbrüche und offene Knochenbrüche mit damit verbundenen Gefäss- und Weichteilverletzungen», berichtete «Al-Jazeera» 2017 über einen Einsatz von Majeed in der Nähe der syrischen Stadt Ar-Raqqa. Zudem kann die Wucht der Explosion den Körper irgendwo dagegen schleudern oder zu Verletzungen durch einstürzende Gebäude führen. 

Zu den Schuss- und Detonationsverletzungen kommen Vergiftungen durchs Inhalieren giftiger Verbrennungsprodukte. Davon berichteten Mediziner kürzlich aus der Ukraine im «Journal of the American College of Surgeons«.

Trotz medizinischer Fortschritte ist laut dem Fachartikel in «BMJ Military Health» im Krieg «die Todesrate über die letzten hundert Jahre gleich geblieben». Die Schlussfolgerung daraus: Vermutlich habe die Tödlichkeit des Krieges Schritt gehalten mit den medizinischen Fortschritten.

Kinder, die Landminen berühren

Die meisten Patienten, die Kriegschirurgen operieren, sind junge Männer mit Verwundungen am Brustkorb, am Bauch, an Armen oder Beinen. «Aber der Krieg trifft auch viele Frauen und Kinder», sagt Majeed.

Im Jemen behandelte der Kriegschirurg zum Beispiel einen 14-jährigen Knaben, der eine Landmine gefunden hatte. Der Teenager rechnete sich dafür einen guten Preis bei einem Altmetall-Händler aus und versuchte, sie zu öffnen. Nach der Explosion kam er im Schockzustand mit gebrochenem Unterarm und vielen Schrapnell-Wunden an der Hand ins Spital. Die Arterie, welche die Hand mit Blut versorgt, war gerissen. «Bitte amputieren Sie meine Hand nicht», habe der Knabe den Chirurgen immer wieder gebeten. 

Explosion Kinderpuppen
Die «Kollateralschäden» des Kriegs betreffen Frauen und Kinder.

Dank einer Vene vom Bein die Hand behalten

Doch Shazeer Majeed fehlte die nötige Ausrüstung, um die Arterie wieder nähen zu können. Innerhalb von einer Stunde wurde das fehlende Material aus einem anderen MSF-Spital gebracht. «Man hilft sich gegenseitig, wo immer möglich», sagt der Chirurg. Er entnahm eine Vene am Bein des Teenagers und überbrückte damit den Defekt an der Unterarmarterie. Vier Monate später konnte der Knabe seine Hand wieder benützen. 

In Syrien suchte eine junge, stillende Mutter den Arzt wegen einer Schusswunde im Arm auf. Sie war im Schlaf von einem Querschläger getroffen worden. «Ich erinnere mich auch an vier kleine Kinder dort. Beim Spielen fanden sie etwas, das aussah wie ein Parfümfläschchen. Sie hoben es auf.» Es explodierte. «Wir mussten einem Kind, das noch kaum sechs Jahre alt war, das Bein amputieren», sagt Majeed.

Trotz solcher Erlebnisse empfinde der Kriegschirurg keine Wut, wenn er verwundete Soldaten medizinisch versorge, die zu den Angreifern gehören. «Man muss mitfühlend sein. MSF hilft allen Menschen, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen oder politischen Überzeugung. Wenn wir nicht da wären, hätten diese Menschen keinerlei medizinische Hilfe», sagt Majeed.

Übermüdete Teams

16 bis 18 Stunden Arbeit pro Tag seien die Regel. «Das ist kein 8-bis-17 Uhr-Job», sagt der Arzt. Man versuche zwar, die Behandlung in derselben Qualität anzubieten wie unter stabilen Lebensbedingungen, aber die Ausrüstung sei «bescheiden», kein Vergleich mit der Ausstattung in westlichen Spitälern. «Wir haben ein Röntgen- und ein Ultraschallgerät, plus eine minimale Laborausstattung – und nie genug medizinisches Personal.»

Kriegschirurgische Teams seien oft müde, gestresst, überarbeitet oder überfordert, berichteten griechische Ärzte 2008 im «American Journal of Emergency Medicine». Es komme vor, dass komplizierte Wunden von relativ unerfahrenen Allgemeinchirurgen, oder sogar von Chirurgen anderer Fachrichtungen versorgt werden müssten. 

In den Kriegsgebieten mangele es oft an sauberem Wasser, Treibstoff und medizinischer Ausrüstung wie Sterilisiermaschinen für die chirurgischen Instrumente, an Überwachungsmonitoren und an Medikamenten, berichtet Majeed. Wenn für Tage der Strom ausfalle, müssten Menschen in den Kampfgebieten manchmal mehrere Tage bei 50 Grad Celsius ausharren

Die medizinische Ausrüstung muss auf dem Weg zum Spital durch den Zoll und immer wieder an Kontrollposten vorbei. Die Logistik könne herausfordernd sein, vor allem, wenn die politische Lage instabil sei. Trotz all der Widrigkeiten erlebt Majeed diese Arbeit aber nicht als frustrierend. «Man bekommt sehr viel zurück.» 

«Im Krieg wird immer davon gesprochen, wie viele Menschen ihr Leben verloren haben. Aber nie davon, wie viele gerettet wurden.»

Shazeer Majeed, Kriegschirurg bei «Ärzte ohne Grenzen / Médecins sans Frontières»

Je nachdem, wie heftig die Kämpfe sind, arbeitet Majeed auch einmal 30 Stunden am Stück. Während der Kämpfe im Jemen etwa konnte der Kriegschirurg zeitweise nur dann kurz schlafen, wenn der Operationssaal für den nächsten Patienten gereinigt wurde. Sterbe bei einem solchen Massenandrang ein Patient, arbeite das Team sofort beim nächsten weiter, um dessen Leben zu retten. «Im Krieg wird immer davon gesprochen, wie viele Menschen ihr Leben verloren haben. Aber nie davon, wie viele gerettet wurden», sagt der Chirurg.

Zu den Operationen kommt die Arbeit auf dem Notfall, plus je nach Spital 30 bis 80 Kranke, die Majeed auf der Station betreut. «Man ist rund um die Uhr in Rufbereitschaft.» Ein gewisses Risiko gehe man dabei ein: In Äthiopien beispielsweise wurden schon Helfer von MSF getötet, in Afghanistan sei ein MSF-Spital bombardiert worden.  

Furchtbare Wundinfektionen

Ein Kriegschirurg sollte im Brustkorb ebenso versiert operieren wie im Bauch, er muss Gefässschäden, offene Knochenbrüche und Weichteilgewebeverletzungen behandeln können. Das sei die grösste Herausforderung, so Majeed. MSF versuche, «polyvalente» Chirurginnen oder Chirurgen in Kriegsgebiete zu schicken. In Workshops und vor Ort werden solche Fachleute ausgebildet, je nach Anzahl der Verletzten stehen mehrere im Einsatz. «Wir versuchen auch, den lokalen Teams diese Fertigkeiten weiterzugeben», sagt Majeed.

Selbst wenn die Erstversorgung glückt, ist nicht gesagt, dass die Patienten überleben. Ihre Wunden sind meist stark verschmutzt, was Infektionen Vorschub leistet. Solche Berichte kommen nun auch aus der Ukraine. Die Rate an resistenten Erregern in ukrainischen Militärspitälern ist hoch. Typischerweise seien die Erreger multi-resistent gegen mehrere Antibiotika. Britische Ärzte berichteten kürzlich in «The Lancet Infectious Diseases» von einem 35-jährigen Patienten aus der Ukraine mit einer infizierten Schusswunde am Bein. Nach mehreren Operationen mussten sie ihm den Unterschenkel schliesslich abnehmen, weil die Infektion mit antibiotika-resistenten Bakterien nicht anders in den Griff zu bekommen war.

In Syrien behandelte Majeed zwei Schwestern, die nach einem Luftangriff zwei Tage lang zum Spital unterwegs waren. Der 20-Jährigen hatte es einen Unterarm abgerissen, der 15-Jährigen Teile des Beins. Beide Wunden waren notfallmässig genäht worden. Als die jungen Frauen im Spital bei Majeed eintrafen, eiterten ihre bereits infizierten Wunden stark. Um das Leben der Schwestern zu retten, musste das Team noch mehr amputieren: Die 15-Jährige verlor ihr Bein vollständig. Sie wird die meiste Zeit ihres Lebens im Rollstuhl verbringen.

Verletzte aus der Ukraine werden auch in der Schweiz behandelt

Die Schweiz hat bislang 35 behandlungsbedürftige Zivilpersonen aus der Ukraine aufgenommen. Sie leiden vor allem an schweren Verletzungen oder Krebserkrankungen. Die Patientinnen und Patienten sowie ihre Begleitpersonen kamen mit 15 Ambulanzflügen der Rega in die Schweiz, der bislang letzte Transport fand am 24. Juli statt. Die 35 Personen wurden in zwölf verschiedenen Kinder-, Zentrums- und Universitätsspitälern behandelt sowie anschliessend teilweise von Reha-Kliniken aufgenommen. Vorgängig beurteilte ein «Medical Board», das per Videokonferenz tagt, ob die Schwerkranken transportfähig sind und ob eine Behandlung in der Schweiz zweckmässig und machbar ist. Der Transport in die Schweiz erfolgte erst nach der Zustimmung des aufnehmenden Spitals.

Für die Koordination ist die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) zuständig. Laut der GDK wurde zwischen der Ukraine und dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA vereinbart, dass aus der Ukraine nur Zivilpersonen aufgenommen werden und keine verletzten Soldatinnen und Soldaten.

Menschen mit schwer verletztem Gesicht

In Deutschland wurden laut einem Bericht im «Deutschen Ärzteblatt» bisher etwa 900 verletzte Soldaten und Zivilpersonen behandelt, die aus der Ukraine eingeflogen wurden. Darunter sind Menschen mit schweren, entstellenden Gesichtsverletzungen, die nicht mehr oder nur noch teilweise essen, sprechen und kauen können. Schätzungsweise 2000 bis 3000 weitere Patientinnen und Patienten aus der Ukraine haben laut dem Bericht selbständig deutsche Spitäler aufgesucht.

Auch Telemedizin, beispielsweise von Berlin nach Charkiv, Webinars auf Youtube, chirurgische Fallbesprechungen via «Whatsapp» und Facebook kommen im Ukraine-Krieg zum Einsatz.

Vom Krieg entstellt

In der Bilderserie «Der unbekannte Soldat» bildete der US-Fotograf David Jay vor zehn Jahren Soldatinnen und Soldaten ab, die sonst nicht gezeigt werden. Sie kamen im Irak und in Afghanistan mit dem Leben davon – aber sie werden ihr Leben lang vom Krieg gezeichnet bleiben. «Die Mehrheit unserer verletzten Soldaten sieht die Öffentlichkeit nicht. Sie kämpfen knapp um ihr Überleben», schrieb der preisgekrönte Fotograf, der diese Menschen in Szene setzte. Hier der Link zu seinen Fotos.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

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Die von den USA unterstützte saudische Koalition hat gezielt die Infrastruktur des armen Landes zerstört.

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