Sprachlupe: Wenn Kinder mehr als ein Zuhause haben
Wenn, sagen wir, die Mutter meiner Enkelin nicht meine Schwiegertochter ist, wie soll ich sie dann benennen? «Mutter meiner Enkelin» geht natürlich, aber geht auch «Enkelmutter» – oder suggeriert das ein männliches Enkelkind? Und was, wenn da mehrere Kinder sind, gar solche unterschiedlichen Geschlechts? Überdies: Falls wir uns auf «Enkelmutter» geeinigt haben, darf ich sie dann «meine» nennen, obwohl zwischen dieser Mutter und mir weder biologisch noch gesetzlich ein Verwandtschaftsverhältnis besteht? Und was, wenn ich nicht der leibliche Grossvater bin, sondern «nur» der soziale, die Verwandtschaft also allein auf ausgeübter Elternschaft beruht – sei es meine eigene gegenüber dem Kindsvater oder dessen Rolle bei der Betreuung der Enkelin?
Schwirrt Ihnen der Kopf? Gut so, denn hier geht es darum, unsere Begriffe für Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse neu zu denken und – soweit nötig – zu benennen. Bedarf dafür besteht, weil zwar die meisten Kinder nach wie vor bei ihren gemeinsamen Eltern aufwachsen, aber andere Verhältnisse ebenso real wie gesellschaftlich weitgehend akzeptiert sind. Für jede denkbare Beziehung zwischen Kindern und den mit ihnen verbundenen Erwachsenen eine eigene Bezeichnung zu prägen, ist indes weder praktikabel noch nötig. Es reicht, sich zumindest eine gewisse Lockerheit im Umgang mit Verwandtschaftsbezeichnungen anzugewöhnen, um im Alltag nicht immer die (ehemalige) Norm zu meinen.
«Haushaltübergreifende Familienbeziehungen»
Um andere Familien als die herkömmlichen Kernfamilien ging es kürzlich in der SRF-Radiosendung «Doing Family – aufwachsen in multilokalen Familienarrangements». Dabei handelte es sich mehr um die tatsächlichen Verhältnisse als um Bezeichnungen dafür, aber diese wurden zumindest gestreift und drei davon standen schon im Titel. «Doing Family» ist demnach in Fachkreisen geläufig für die Bemühungen, die es braucht, damit ein solches Familienarrangement funktioniert – eben ein multilokales, bei dem die Kinder mehr als ein einziges Zuhause haben. Nebenbei gesagt: Auch in «unilokalen» Familien braucht es «doing», gibt es allerhand zu tun, damit sie gedeihen.
Die Sendung beruht auf einer ausführlichen Studie des Marie Meierhofer Institut für das Kind, die auch ein Glossar enthält – allerdings eher für den wissenschaftlichen und juristischen Umgang mit diesen multilokalen Familienarrangements als für den gelebten Alltag. Der wird dafür in vielen Facetten untersucht («qualitative Fallstudien bei Nachtrennungs-, Patchwork- und queeren Familien»). Wie viele Kinder so aufwachsen, lässt sich nur schätzen, denn: «Die offizielle Statistik wird der Realität haushaltübergreifender Familienbeziehungen nicht gerecht.»
«Postromantische Elternschaft»
Diese Statistik hält (per Ende 2019) fest, 80 % der 1,4 Millionen Minderjährigen in der Schweiz lebten mit beiden Eltern zusammen, 10 % hätten den Wohnsitz bei der Mutter, 2 % beim Vater, 6 % in einer «Fortsetzungsfamilie», 2 % in einem Mehrgenerationenhaushalt. Schliesslich: «Rund 1000 Kinder leben in einer Regenbogenfamilie mit gleichgeschlechtlichen Eltern (0.07%).» In den Resultaten einer Online-Befragung stellt die Studie fest, von den erfassten Kindern mit getrennt lebenden Eltern verbrächten 46 % mehr als zwei Drittel der Nächte bei der Mutter, 10 % beim Vater. Auch bei den andern überwiege meist ein Elternteil; nur 19 % schliefen bei jedem in mindestens einem Drittel der Nächte und (in diesem Anteil enthalten) 7 % in beiden Wohnungen annähernd gleich oft.
Rund um die vielfältigen Betreuungsverhältnisse sind mir in der Radiosendung einige Ausdrücke – nebst den bereits genannten – besonders aufgefallen: postromantische Elternschaft, Bonus-Papa oder -Mama, caring community. Letzteres steht für die Gesamtheit der Leute, die sich um ein Kind kümmern; Englisches gelangt aus der Sozialwissenschaft auch in die Alltagssprache, siehe Patchworkfamilie. Viele Familienformen können Kindern ein Zuhause bieten – oder eben mehr als eines, nur fehlt für «Zuhause» noch die Mehrzahl, wie am Radio Muriel Degen festhielt, eine der beiden Autorinnen der Studie.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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