«Schandtaten grosser Konzerne werden kaum mehr geahndet»
upg. Ralph Nader, 89, gilt als Gründervater des Konsumentenschutzes und der Konsumentenschutzorganisationen. Er war ein Vorbild für Roger Schawinski, als dieser 1974 die Fernsehsendung «Kassensturz» gründete. In den letzten Jahren warnte Nader wiederholt vor der übergrossen Macht der Konzerne.
Die meisten Chefs von Riesenkonzernen sind trunken von ihrer eigenen Macht und schaden so wehrlosen Menschen. Diese CEOs glauben, dass sie mit allem davonkommen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen tun sie das auch. Strafrechtlich relevante Unternehmensverbrechen werden seit Obama über Trump bis Biden immer weniger häufig verfolgt. Das Justizministerium geht am liebsten Vergleiche ein. Im Ministerium arbeiten Anwälte, die es auf lukrative Stellen in Anwaltskanzleien abgesehen haben, welche auf der Seite der grossen Konzerne stehen.
Die Medien sollten diese Wirtschaftskanzleien viel genauer unter die Lupe nehmen. Denn im Laufe der Jahrzehnte haben sie eine Mauer der Immunität und Straffreiheit um ihre Konzernkunden und deren CEOs, die sich selbst bereichern, errichtet. Die CEOs der Konzerne verdienen heute im Durchschnitt pro Stunde 14’000 Dollar, während es ihre Angestellten mit Glück auf 20 Dollar bringen. Diese Kluft zwischen den Reichsten und den Armen ist schlimmer als im Mittelalter.
Bei den gesetzgebenden Abgeordneten des Kongresses finden diese Wirtschaftsanwälte ein offenes Ohr für Wahlkampfspenden ihrer Kundschaft und für ihre Vorarbeit beim Ausarbeiten von Gesetzesschlupflöchern. Sie helfen dabei, Geschäftsführer der Konzerne oder Leute von Anwaltspartnern in hohe Positionen der Ministerien zu schleusen (siehe Servants of the Damned: Giant Law Firms, Donald Trump, and the Corruption of Justice by David Enrich, 2022).
Delaware ist das gelobte Land
Die Wirtschaftskanzleien sind darauf spezialisiert, ein Geflecht aus geheimen, anonymen Unternehmensregistern zu errichten. Um das Geflecht undurchdringlich zu machen, lassen sich die meisten grossen US-Konzerne im US-Bundesstaat Delaware registrieren. Sie registrieren gleich Hunderte von Mantelgesellschaften (LLCs), um sich jeglicher Transparenz zu entziehen.
Das Unternehmensrecht von Delaware haben Anwaltskanzleien selber entworfen. Diese Unternehmenskapitalisten entmachten dabei hemmungslos ihre eigenen Aktionäre, die keinen Durchblick mehr haben. Doch an der Wall-Street kotierte Firmen, Kreditkartenunternehmen sowie Steuerflüchtlinge lieben Delaware. (Siehe What’s the matter with Delaware? How the First State Has Favoured the Rich, Powerful, and Criminal – and How It Costs Us All von Hal Weitzman, 2022.)
Die meisten Deliktsfälle laufen ins Leere
Täglich kommen neue Schandtaten ans Licht, welche die Flut von vermuteten kriminellen Deliktsfällen anschwellen lassen. Die meisten Enthüllungen laufen ins Leere. Das liegt an einem trägen Kongress, der einmal mehr bereit ist, den grössten Teil des Sommers bis nach dem Tag der Arbeit am 4. September 2023 zu pausieren. Und es liegt an unmotivierten Regulierungsbehörden. Der unternehmerfreundliche Kongress ist allerdings auch nicht bereit, den Behörden genügend Geld zum Durchsetzen und Vollzug der Gesetze bereitzustellen.
Die einzige Aufsichtsbehörde, die etwas aktiv ist, ist die winzige Federal Trade Commission (FTC) mit einem Jahresbudget von 430 Millionen Dollar. Die FTC-Vorsitzende Lina Khan hat gerade den Giganten Amazon (Jahresumsatz fast 525 Milliarden Dollar) verklagt, und zwar laut David McCabe, Reporter der New York Times, «weil Amazon Verbraucher auf illegale Weise dazu gebracht hat, sich für seine Prime-Dienste anzumelden und sie dann daran hinderte, das Abonnement zu kündigen…».
Die FTC wirft Amazon vor, «Menschen ohne ihre Zustimmung zu wiederkehrenden Abonnements verleitet, in die Falle gelockt […] und Millionen von Verbrauchern überlistet zu haben […] mit manipulativen, zwanghaften oder irreführenden» Benutzungstaktiken auf seiner Website. Die Anwälte von Amazon streiten natürlich alles ab.
In anderen Fällen spielen Unternehmensanwälte geradezu verrückt und lassen ihre Muskeln spielen. Sie verklagten den Bundesstaat Kalifornien, weil dieser ein Gesetz verabschiedete, das Kinder in geringem Masse vor Schäden durch Social Media schützt. Susan Linn schreibt und dokumentiert den Missbrauch durch High-Tech-Räuber in ihrem neuen Buch «Who’s Raising the Kids? Big Tech, Big Business, and the Lives of Children» (Big Tech, Big Business und das Leben der Kinder).
Krankes Gesundheitswesen: Zahlen oder sterben
Die Anwälte der Pharmaindustrie reichten kürzlich eine frivole Klage gegen die US-Regierung ein. Grund: Der Kongress ermächtigte die Regierung, der abgezockten Medicare-Versicherung zu gestatten, mit den Big Pharma über überteuerte Arzneimittelpreise zu verhandeln. Anders als diese soziale Krankenversicherung haben die Kriegsveteranen-Vereinigung und das Pentagon bereits das Recht, mit den Pharmaunternehmen Preisverhandlungen zu führen.
Den US-Pharmafirmen ist es wohl lieber, wenn die US-Steuerzahler über Medicare weiterhin die bei weitem höchsten Medikamentenpreise der Welt zahlen müssen, die von den ohnehin subventionsverwöhnten US-Pharmafirmen in Rechnung gestellt werden: «Zahlen oder sterben».
ProPublica deckte auf, dass Ärzte des riesigen Krankenversicherers Cigna die Ansprüche von Millionen von Patienten «aus medizinischen Gründen» verweigern, ohne die Patientenakten zu öffnen. Ein entsprechender Bericht von ProPublica stützt sich auf Unternehmensdokumente und Interviews mit ehemaligen Cigna-Ärzten. Doch weder Behörden noch Justiz wurden aktiv. Ein typisches Beispiel dafür, dass CEOs von Konzernen bis an die Grenzen gehen und damit durchkommen.
Eine Untersuchung der New York Times von Sarah Kliff et al. deckte auf, dass das wohlhabende gemeinnützige Krankenhausnetzwerk Allina Health im Mittleren Westen Patienten, die noch offene Arztrechnungen hatten, die reguläre medizinische Versorgung verweigert. Sie haben Patienten abgewiesen, «einschliesslich Kinder und solche mit chronischen Krankheiten wie Diabetes und Depressionen».
Kanadier mit ihrem universellen Medicare-System sind fassungslos, wenn sie erfahren, dass viele Spitäler in den USA verschuldete Patienten aggressiv verklagen, ihren Lohn pfänden und ihre Steuerrückzahlungen beschlagnahmen. Das ist schlimmer als im Gefängnis, wo die Eingesperrten medizinische Versorgung erhalten.
Keine Einzelfälle
Wer glaubt, dass nur ein paar schwarze Schafe die Verbrechen von Unternehmen begehen, kann mein Buch Getting Steamed to Overcome Corporatism: Build It Together to Win (2011) lesen. Es ist eine empörende Zusammenstellung von dokumentierten Unternehmensverbrechen und kriminellen Verhaltensweisen, die zum Verlust von Leben, Gesundheit und Geld von Verbrauchern und Arbeitnehmern führen. Eine der besten öffentlichen Datenbanken für Unternehmensverbrechen ist Violation Tracker, ein Projekt von Good Jobs First. Violation Tracker hat über eine halbe Million Einträge, die zivil- und strafrechtliche Klagen gegen Fehlverhalten von Unternehmen umfassen.
Anfang Juni 2023 richtete das Justizministerium, das sich jahrzehntelang geweigert hatte, eine umfassende öffentliche Datenbank zur Unternehmenskriminalität einzurichten, endlich eine bescheidene Datenbank ein.
Das amerikanische Volk sollte dem Kongress klar machen, dass es die grossen Schäden, die ihm täglich von Unternehmen zugefügt wird, nicht länger hinnehmen will. Zu diesem Schaden gehören gefährliche Produkte wie Opioide und schädliche oder unterlassene medizinische Behandlungen, die laut einem von Experten begutachteten Bericht der John Hopkins School of Medicine jede Woche zu 5000 Todesfällen führen. Dazu kommen gesundheitsgefährdende Umweltverschmutzungen, vermeidbare Unfälle am Arbeitsplatz, endlose Betrügereien an den Verbrauchern und andere unerträgliche Missstände.
Konsumenten und Konsumentinnen können sich wehren
Die meisten Unternehmensbetrüger stehen über dem Gesetz. Sie denken, dass «wir, das Volk» eine Nation von Schafen sind – unfähig und nicht willens, ihre Forderungen im Kongress einzubringen und ein starkes Gesetz für Recht und Ordnung in Kraft zu setzen. Umfragen zeigen, dass grosse Mehrheiten von links bis rechts wünschen, dass wohlhabende Firmenverbrecher Entschädigungen zahlen und in schweren Fällen ins Gefängnis müssen.
In den sechziger und siebziger Jahren hatten sich die Bürger gegen den Missbrauch durch Unternehmen mobilisiert. Das kann auch jetzt wieder geschehen, weil die Herren der Konzerne im Zusammenhang mit den nachgewiesenen Krisen – Klima, Pandemien und mächtige unregulierte Technologien – noch weitaus schlimmer agieren als in früheren Zeiten.
Public Citizen, die Lobbyorganisation gegen Unternehmensverbrechen, ruft die Öffentlichkeit mit einem Aktionsplan auf. Präsident Robert Weissman verfasste zusammen mit der ehemaligen Public Citizen-Präsidentin Joan Claybrook ein neues Buch, das im laufenden Monat erscheint. Es trägt den Titel «The Corporate Sabotage of America’s Future: And What We Can Do About It».
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Originaltext auf Englisch hier.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Warum auch in die Ferne schweifen? Die Schweiz: Die Konzernverantwortungsinitiative wurde mit tüchtiger Mithilfe von Bundesrätin Keller Suter per Ständemehr gekillt.
Und die CS? Ihre Manager hätten im Artikel durchaus eine Erwähnung verdient.
Für die meisten Deutschen ist die USA immer noch das Traumland Nr. 1. Die wenigsten wissen, wie es da wirklich zugeht. Das erfährt man nur, durch einzelne Dokus oder, wie hier, auf einem extra Blatt. Wenn da einer, nicht zu den oberen Zehntausend gehört, lebt er dort wie in einem Entwicklungsland. Auf der Straße, in Ghettos oder Wohnwagen. Gerade in der USA ist es doch ersichtlich, dass reiche «Einzelpersonen» immer reicher und noch reicher (und immer unverschämter) werden, während der Staat (und damit das Volk)… Wieviele Schulden «pro Kopf» haben? Weil Schulden wiederum, ganz gerecht und gleich verteilt werden. So ist das in einer Demokratie.