Zu wenig Geld für geschuldete Renten – sagt der oberste IV-Chef
Seit vergangenem Dezember hat die Invalidenversicherung einen neuen obersten Chef. Florian Steinbacher ist neuer Vizedirektor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) und für die IV zuständig. Sein Start verlief zumindest in der Aussenwirkung fulminant: Gleich dreimal in seinem ersten halben Jahr war er zur besten Sendezeit im Schweizer Fernsehen zu sehen.
Einen guten ersten Eindruck zu machen, muss ihm schwergefallen sein angesichts der Kritik, mit der er konfrontiert wurde. Erst ging es in der «Tagesschau» um die irritierende Frage, warum die IV die Leistungen für schwer kranke Kinder kürzt. Als nächstes wollten Journalisten vom «Kassensturz» von Steinbacher wissen, weshalb die Versicherung den Vertrag mit einer Gutachterfirma verlängere, die zuvor durch zahlreiche Skandale aufgefallen war und die neun Strafverfahren am Hals hat.
Wer versichert ist, hat Rechte
Vor wenigen Tagen schliesslich waren erneut «Tagesschau»-Mikrofone auf Steinbacher gerichtet. Warum, wurde er gefragt, ignoriert die IV bei der Berechnung der Renten wissenschaftliche Studien sowie den Willen sämtlicher Parteien?
Das Zitat, das von Steinbacher schliesslich ausgestrahlt wurde und bisher nicht weiter beachtet wurde, hat es in sich. Wörtlich sagt er:
«Es ist natürlich einmal die Studie BASS, die in diesem Bereich durchgeführt wurde, die aktuelle gesetzliche Lage und sicherlich auch die finanzielle Lage der Versicherung.»
Um die ganze Aussage zu verstehen, braucht es einiges an Hintergrundwissen (siehe Kasten). Entscheidend ist jedoch einzig die letzte Passage. Steinbacher sagt, dass die finanzielle Lage der Versicherung mitentscheidet, wie hoch die IV-Renten sind. Warum das rechtlich sehr heikel ist, lässt sich am besten mit einem Beispiel illustrieren: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Verkehrsunfall und melden diesen ihrer Autoversicherung. Diese teilt Ihnen mit, dass sie leider nur für einen Teil des Schadens aufkommen kann, da es ihr gerade an finanziellen Mitteln fehle.
So unterschiedlich die Rahmenbedingungen zu denjenigen einer privaten Versicherung auch sein mögen, es gilt eben auch für die staatliche Invalidenversicherung: Wer jahrelang eingezahlt hat und versichert ist, hat das Recht auf eine bestimmte Leistung, wenn er oder sie aus gesundheitlichen Gründen langfristig erwerbsunfähig wird. Und zwar egal, wie viel Geld sich gerade im Kässeli der Versicherung befindet.
Rechtlich unhaltbar
Auf dieses Problem hat auch schon Rechtsprofessor Thomas Gächter hingewiesen. Gegenüber dem «Surprise Magazin» sagte er, dass es unhaltbar sei, dass die Politik derzeit den Spardruck der Verwaltungspraxis überwälzt. Um die Finanzen der Versicherung ist es seit vielen Jahren nicht gut bestellt. Gächter sagt, dass die Politik entweder für eine zusätzliche Finanzierung sorgen, oder aber ins Gesetz schreiben müsse, dass nicht alle unterstützt werden, die dauerhaft erwerbsunfähig bleiben – beispielsweise, indem einfach keine Teilrenten mehr ausbezahlt werden. Doch Leistungen aus Kostengründen einfach nicht vollständig auszuzahlen: das ist aus rechtlicher Sicht nicht haltbar.
Anzeichen dafür, dass das Geld eben doch eine Rolle spielt, wenn es um die Vergabe von IV-Renten geht, gibt es schon lange. Doch die Offenheit, mit der Steinbacher das ausplaudert, ist bemerkenswert. Sein Vorgänger Stefan Ritler wie auch Bundesrat Alain Berset hatten es stets vermieden, die Kosten als Argument ins Feld zu führen, wenn es um Reformen zu Gunsten der Versicherten ging. Wenn jemand fragte, warum die IV in den letzten 20 Jahren trotz starkem Bevölkerungswachstum die Zahl der Renten reduzieren und damit sparen konnte, dann hiess es: Die IV sei eine Eingliederungsversicherung. Wenn mehr Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren, so die Logik, dann müssten weniger Menschen unterstützt werden. Eine Erfolgsgeschichte also – wenn sie denn stimmen würde. Eine Studie, die zeigte, dass zahlreiche Betroffene in der Sozialhilfe landen, machte vor zwei Jahren die Verlogenheit dieses Narrativs offenbar.
Unbedachtheit oder Kalkül?
Über die Motive, die Florian Steinbacher zu dieser Aussage bewegten, lässt sich nur spekulieren. Womöglich war es bloss die Unbedachtheit eines Neulings auf dem rutschigen Parkett zwischen Verwaltung und Politik. Vielleicht war es aber auch mehr als das, ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Politik. Möglich, dass er sagen wollte: Wenn ihr faire Leistungen für Versicherte fordert, dann müsst ihr auch die Rechnung dafür begleichen. Denn das Geld, das ihr uns gebt, reicht dafür nicht aus. Sollte das seine Absicht gewesen sein, dann wäre das ein mutiger Schritt. Denn bislang ist die Forderung nach einer Zusatzfinanzierung für die IV – etwa über einen Schuldenschnitt bei der AHV oder über zusätzliche Lohnabgaben – politisch undenkbar. Doch die politischen Realitäten können sich bekanntlich schnell ändern.
Parteien kritisieren Vorschlag als unwissenschaftlich
Bundesrat Alain Berset und sein Bundesamt für Sozialversicherungen sind vom Parlament beauftragt worden, die IV-Renten korrekt zu berechnen. Denn viele IV-Renten, vor allem von Geringverdienern, erwiesen sich als viel zu tief. Grund dafür sind unpräzise Basisdaten. Bersets Bundesamt für Sozialversicherungen wusste zwar seit vielen Jahren Bescheid, tat aber nichts – selbst dann nicht, als die IV 2022 revidiert wurde und ausnahmslos alle Parteien auf den Missstand aufmerksam machten. Es brauchte eine weitere Motion, um dem Amt Beine zu machen.
Im April ist das BSV nun auf wiederholten Druck hin dieser Pflicht nachgekommen und hat im Namen des Bundesrats einen Vorschlag präsentiert, wie IV-Renten fairer berechnet werden können. Vor wenigen Tagen lief dazu die Vernehmlassungsfrist ab. Und erneut sind ausnahmslos alle Parteien von links bis rechts unzufrieden mit der vom Bundesrat abgesegneten Arbeit des Amts.
Lieber pauschal als individuell
Der Grund für den Unmut: Das BSV schlägt vor, die für die Berechnung der IV-Renten massgeblichen Vergleichslöhne pauschal um 10 Prozent zu senken. Dies hätte in der recht komplizierten Berechnung höhere IV-Renten zur Folge. Allerdings war zuvor eine wissenschaftliche Studie zum Schluss gekommen, dass dieser Abzug 17 Prozent betragen sollte. FDP, Die Mitte und Grüne wiesen in ihren Vernehmlassungsantworten darauf hin, dass der Vorschlag des Bundesrats darum nicht genüge und auch nicht wissenschaftlich begründet sei. «Mit einem Pauschalabzug von lediglich zehn Prozent stützt sich der Bundesrat weder auf anerkannte statistische Methoden, noch auf den aktuellen Stand der Forschung ab», schreiben etwa die Grünen. Die SVP wiederum forderte, dass die Abzüge individuell berechnet werden sollten, da ansonsten die Landbevölkerung benachteiligt würde. Ein entsprechender Vorschlag, wie das passieren könnte, liegt auf dem Tisch.
Im erläuternden Bericht zum Vorschlag stellt sich der Bundesrat auf den Standpunkt, dass ein pauschaler Abzug schneller umgesetzt werden könne als eine individuelle Lösung. Ausserdem zeigte sich das federführende Bundesamt für Sozialversicherungen von den Ergebnissen der Studie BASS nicht restlos überzeugt. Warum nicht, führte es indes nicht im Detail aus.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen das die IV wertlos ist. Ich empfinde es als eine Beschäftigungstherapie für Verwaltungsbeamte.
Zu 100% Arbeitsunfähig seit über 10 Jahren hat man mir vor 2 Jahren doch glatte 20% anerkannt. Berechnet auf der Grundlage meine letzten Einkommens ohne Gehaltserhöhungen oder Inflationsausgleich wurde das einem viel zu hohem fiktivem Einkommen heutiger Zeit verglichen und eine Rentenhöhe ermittelt.
Die Versicherung ist eigentlich eine Bodenlose Frechheit und ein Schlag ins Gesicht eines jeden der sich im Krankstand befindlich mit ihr streiten muss.
So wie die IV arbeitet, verhindert sie nicht nur eine mögliche Integration, sondern auch eine gesundheitliche Besserung. Denn eh schon krank und psychisch belastet wird einem nicht geholfen, sondern Angst um die eigene Existenz gemacht. Und das ist für nichts förderlich….
Das ist ein wichtiges Thema. Die IV-Finanzierung durch Transfers aus der AHV sollte definitiv Geschichte sein. Die IV verdient korrekt finanziert zu werden ohne dabei die AHV zu gefährden.
Die Sozialversicherung sollte nicht durch politisch motivierte Aktionen destabilisiert werden. Die SUVA zeigt offenbar, wie es sachgerecht gemacht werden könnte.
Eine schreckliche Zeit für Behinderte wie mich. Wir bekommen, kurz vor der Pensionierung, Formulare mit einer IV-Revision und Revision der Hilflosenentschädigung. Dazu müssen wir ein Formular unterzeichnen, eine Vollmacht, welche die Kontrolleure von jedem Datenschutz entbindet. Nun warte ich seit 2 Mon. auf die neue Verfügung, und wie bei jeder Revision greift die Existenzangst nach mir. Durch meine Einschränkungen, welche zunehmend sind, bin ich auf Zusatzleistungen angewiesen. Die Spitex-Kosten wurden um über 22% erhöht, so dass das Amt für Sozialbeiträge diese nicht mehr voll decken kann. Gleichzeitig haben die gesundheitl. Probleme zugenommen, da die Therapie mit Antikörper alle 6 Monate nun zu viele Nebenwirkungen zu erzeugen scheint. Ein Absetzen dieser aber mit einem hohen Risiko verbunden wäre. Angst, ich habe Angst an den Briefkasten zu gehen. Als Behinderter habe ich solange es ging ehrenamtliche (Zertifizierte) Dienste geleistet. Meine Frakturen nehmen zu, ich habe Angst.
Ein Grund dürfte sein, dass im Land von Wilhelm Tell, Duttweiler und Direktdemokratie, viele im Volk apolitisch sind (oder es keine Partei gibt, die die Armen vertritt und gleichzeitig nichts Unwählbares im Programm hat). «Sozialmissbrauch» sehen viele Medien seitens Armer, obwohl jener seitens Reicher via «Steueroptimierung» um Welten mehr Summe ergibt.
Danke für diesen Hinweis zur Aufklärung der bisherig abgelehnten oder zu Unrecht gekürzten IV-Gesuche/Renten. Diese langjährige polit. Sparübung unter der Leitung der SP (EDI & BSV) hat leider dazu geführt, dass gemäss IVG leistungsbeinträchtigte kranke, handicapierte Mitmenschen gemäss KVG einfach im finanz. Eigeninteresse der Sozialversicherungsindustrie gesund geschrieben, auf Kosten der Steuerzahler kostenoptimierend in die Sozialhilfe abgeschoben werden können. Ein unglaublich jurist.Widerspruch der med. Leistungsrechtfertigung im CH-Sozialversicherungssystem (siehe dazu DMZ online: Reformation Invalidengesetz IVG, resp. Wiederherstellung & Weiterentwicklung der med. IV-Gutachtenqualität).
Wo dies nicht angewendet werden kann, kommt es dank Restarbeitsfähigkeit zusätzlich zu willkürlich realitätsfremden Rentenanspruchsberechnungen, die dank fiktiven Jobangeboten herbeigezogen werden können, zu weiteren Ablehnungen oder Kürzungen!
Dies widerspricht jeglicher Rechtsstaatlichkeit!
Die Revisionen sin aus meiner Sicht ein problem das andere ist, dass man unnötige hohen Hürden gebaut wurde um eine IV-Rente zu bekommen im Übrigen gehört den Begriff invalid schon lange aus dem System gestrichen. Es braucht eine Einheitskasse und die Inklusion gemäß UNO BRK 1:1 umgesetzt werden .
Ich bin selbst von diesem System betroffen.
Was mich stört, dass man sich im Infosperber einmal mehr verzettelt in Detailfragen.
Das eigentlich Problem ist, dass unserer Sozialwerke primär durch Lohnangaben finanziert werden. Einerseits nehmen die Bezüger aus den Sozialwerken als Folge der demografischen Entwicklung ständig zu und die Zahlenden ständig ab.
Wir müssen von einem System weg kommen, das vorwiegend auf Umverteilung von Löhnen beruht. Was wir brauchen sind Abgaben auf natürlichen Ressourcen (z.B. Energie) und auf Finanztransaktionen.