Kommentar
kontertext: Russlands verlorene Generation
In der Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues» erzählt der Regisseur Edward Berger die Geschichte der verlorenen Generation des ersten Weltkrieges. Der Film erhielt im März 2023 den Oskar für den besten ausländischen Film des Jahres. Zur gleichen Zeit ereignete sich in Russland eine Art Wiederholung der Geschichte: das normale Leben einer ganzen Generation junger Menschen hatte sich auf furchtbare Weise verändert oder war sogar völlig zerstört worden. Verschiedene Stimmen sprachen denn auch von einer neuen verlorenen Generation in Russland, aber sie meinten nicht alle dasselbe.
Brain-Drain
Russische Demographen und Soziologen, wie z.B. Alexey Raksha, betonen, dass niemand genau sagen kann, wie viele Russen aus dem Land geflohen sind. Einige Forscher sind der Meinung, dass es sich um mindestens 600’000 Personen handele, andere beharren darauf, dass es um nicht weniger als eine Million Menschen gehe, auf jeden Fall sind sich alle einig, dass die Zahlen in die Hunderttausende gehen müssen.
Es ist auch klar, dass die Mehrheit von ihnen junge Menschen unter 35 Jahren sind, die den aktivsten und anpassungsfähigsten Teil der Bevölkerung darstellen. Und auch wenn dieser Verlust in einem riesigen Land mit mehr als 140 Millionen Einwohnern nicht so gross erscheint, so ist er, bedenkt man die intellektuellen Kapazitäten und Zukunftsperspektiven des Landes, doch von entscheidender Bedeutung.
Vor allem, weil die meisten der Emigranten keinerlei Bereitschaft zeigen, nach dem Ende des Ukraine-Krieges und dem Scheitern des derzeitigen russischen Regimes zurückzukehren. Diese jungen Russen sprechen andere Sprachen und kennen sich in fremden Kontexten recht gut aus, sodass sie Arbeit finden, Familien gründen, im Ausland Wurzeln schlagen und sich als «neue Europäer» oder «neue Asiaten» verstehen. Und vor allem: Sie fühlen sich betrogen, denn sie sind in einer Atmosphäre relativer Toleranz aufgewachsen und haben im Februar 2022, als sich alles änderte, begreifen müssen, dass ihr Leben recht eigentlich ruiniert war.
Inzwischen verhalten sich die russischen Behörden so, als hätten sie diese Generation für sich und das Land abgeschrieben. Sie versuchen, diejenigen, die die «falschen» Werte teilen, loszuwerden und helfen ihnen sogar in gewisser Weise, das Land zu verlassen: Selbst während der sogenannten Teilmobilisierung im September/Oktober 2022 haben sie die Grenzen nicht geschlossen, obwohl alle damit gerechnet hatten.
Was von Regierungsmitgliedern nicht laut ausgesprochen wird, sagen Propagandisten: Zakhar Prilepin (1) beispielsweise gibt zu, dass diejenigen, die das Land verlassen haben, für die Machthaber bereits verloren sind; deshalb will das Regime sich auf die Jüngeren konzentrieren, die jetzt im Land aufwachsen. Die wachsende Kluft zwischen den Generationen ist auch für die andere Seite offensichtlich: Im Juni 2022 drehte der russische Journalist und Dokumentarfilmer Andrey Loshak den Film «Broken ties» (Zerbrochene Bande), in dem er zeigte, wie der Krieg viele russische Familien entzweit und den Konflikt zwischen den Generationen sichtbar macht, und zwar nicht nur den Konflikt zwischen Kindern und Eltern, sondern vor allem zwischen Enkeln und ihren Grosseltern.
Kaufen oder töten!
Der Begriff «verlorene Generation» könnte jedoch auch auf diejenigen angewandt werden, die im Land geblieben sind – schliesslich leiden sie alle unter der unausgesprochenen Regel «Kaufen oder töten». Viele Faktoren begründen die Macht dieses eisernen Gesetzes.
Zunächst ist klar, dass nicht alle jungen Menschen, die mit der Politik des Staates nicht einverstanden sind, Russland verlassen können: Einige von ihnen haben nicht genug Geld (vor allem wenn ihre Eltern eine andere Meinung haben und ihnen nicht helfen). Andere werden wegen ihrer russischen Staatsbürgerschaft an ausländischen Universitäten nicht angenommen. Und wieder andere – vor allem Menschen aus kleineren Städten und der Provinz – sind nicht bereit, ihr Leben so drastisch zu ändern.
Kommt hinzu: Wer sich offen gegen das Regime stellt, wird verfolgt, verhaftet oder, wie vor allem die ethnischen Aktivisten aus den nationalen Republiken, bevorzugt in den Krieg und den Tod geschickt. Auch gibt es sehr viele junge Leute, die sich nicht politisch engagieren und in Ruhe gelassen werden wollen. Sie würden in Friedenszeiten wohl ein unauffälliges Leben führen. Unter den derzeitigen Umständen aber sind sie bereit, mit dem Regime zusammenzuarbeiten, um die versprochenen oder vermeintlichen Privilegien zu erhalten.
Es gibt auch junge Menschen, die in patriarchalischen Familien aufgewachsen sind. Sie sind obrigkeitsgläubig und geraten leicht in den Bann von Putins Propaganda. Ausserdem glauben sie aufrichtig, dass ihre Zeit endlich gekommen ist und sie nun schnell Karriere machen können, indem sie die Plätze derer einnehmen, die das Land verlassen haben oder mobilisiert wurden.
Man könnte auch sie als verloren betrachten, weil sie nichts Neues vorschlagen und die alten konservativen Ideen bedienen, die das Land in die Stagnation, die anhaltende Krise und den Abgrund führen. Ganz sonderbar ist die Karriere derjenigen, die freiwillig in die Armee gehen. Es sind vor allem Provinzbewohner. Sie verdienen zunächst einmal verglichen mit den durchschnittlichen russischen Löhne ziemlich viel Geld. Dann aber… Man könnte sagen: Sie werden zuerst gekauft, dann getötet oder verstümmelt.
Der grösste Schrecken aber kommt erst noch, dann nämlich, wenn die Überlebenden nach Hause zurückkehren – oft körperlich verletzt, fast immer geistig versehrt. Aus den Erfahrungen der jüngsten Kriege wissen wir von den Depressionen, Traumata und Re-Integrationsschwierigkeiten der Kriegsheimkehrer. Auch sie sind eine «verlorene Generation», weil sie nicht oder nur schwer in ein Leben nach dem Krieg werden zurückfinden können. Ganz grundsätzlich ist zu erwarten, dass in der Gesellschaft während oder nach Kriegen die Gewalt ansteigt. In Russland ist das schon zu beobachten. Nach Berichten des russischen Innenministeriums nimmt die Zahl der Verbrechen mit Waffen seit Ausbruch des Krieges ständig zu. Eines der Hauptverbrechen des Putin-Regimes besteht darin, dass Tausende von jungen Menschen die Erfahrung von nicht bestrafter und gewollter Massengewalt machen und zu Aussenseitern werden, auch wenn sie als Helden des Landes bezeichnet werden.
(1) Russischer Schriftsteller und Publizist, Befürworter des Krieges, bekannt für seine radikalen Pro-Regime-Statements.
Aus dem Englischen von Felix Schneider
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Nika Parkhomowskaia ist eine russische Wissenschaftlerin, Kritikerin, Kuratorin und Theaterexpertin. Die Sprachforscherin und Kulturjournalistin Inna Rozowa hat für verschiedene russische Medien geschrieben. Beide leben seit 2022 in Westeuropa. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Dass Kriege Heerscharen an traumatisierten, für immer geistig und körperlich verstümmelten Männern zurücklassen, ist ja nun kein Spezifikum des «Putin-Regimes» (wieso sagt man eigentlich nie Macron-, Scholz- oder Biden-Regime?), sondern passiert leider in jedem Krieg. In den USA warten immer noch tausende Veteranen auf Anerkennung und Entschädigungen ihrer gesundheitlichen Kriegsfolgen. Zur Wirtschaft und «braindrain»: ich halte die Analyse für verfrüht. Russland hat immer noch einen enormen Aufholbedarf in der Infrastruktur, Industrie, in der Landwirtschaft, in der Entwicklung und Erschließung Sibiriens. Öl- und Gasförderung werden gewaltig ausgebaut. Überall werden Fachleute gebraucht. Russland kommt wegen dieses Potentials und der Fähigkeit zur Erschließung neuer Märkte gut durch die Sanktionen. Junge Leute gehen meist dahin, wo gut gezahlt wird, wo man sicher Kinder großziehen kann, wo es günstigen Wohnraum gibt. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Ich finde, dieser Text malt ein sehr einseitiges Bild von der russischen Gesellschaft. Wie leider das Meiste, was über Russland im Westen momentan publiziert wird. Ich muss vorausschicken: ich lebe seit mehr als 20 Jahren in Russland. Weiss also schon einigermassen, wovon ich hier rede.
Als erstes sind lange nicht alle, die im letzten Sommer Russland verlassen haben, aus politischen Gründen geflohen. Viele Freiberufler hatten schlicht Angst, ihre Aufträge aus dem Ausland zu verlieren. Das Abschalten des SWIFT und die Blockierung der Kreditkarten war ein Schock. Ich weiss auch, dass viele schon wieder zurück möchten. Und ich bin mir sicher, viele werden zurückkommen. Denn die russische Gesellschaft ist viel freier und toleranter, als das hier dargestellt wird. Es ist ein Trugschluss, dass nur die westlichen Werte ein glückliches und zufriedenes Leben garantieren. Insbesondere der Begriff Freiheit wird im Westen überstrapaziert. Sie existiert auch in Russland in nicht geringem Ausmasse.
So ist es, die USA können uns ein Liedchen singen mit all ihren Kriegen auf der ganzen Welt, aber sie sprechen nicht über die Nachwirkungen ihrer Kriege. Was der Artikel über die verlorene Generation in Russland sagt, gilt genau so für die Ukraine. Und da ist der Westen mitverantwortlich: hätten wir im Februar und März ’22 Zelenski seinen Friedensvorschlag an Russland übergeben lassen, hätten sich die Russen zurückgezogen. Aber Boris Johnson, die Nato und die USA zogen es vor, Zelenski davon abzubringen und ihm den Sieg mit Waffenlieferungen zu versprechen.