Darum hat Erdogan trotz Inflation und Wirtschaftskrise gesiegt
upg. Der frühere Schweizer Botschafter in Berlin, Tim Guldimann, fasst sein neustes Podcast-Gespräch zusammen, das er mit dem langjährigen ZEIT-Auslandredaktor Michael Thumann führte sowie mit der Leiterin des Zentrums für Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik[i] in Berlin, Hürcan Asli Aksoy.
Wer schickt mehr Syrerinnen und Syrer nach Hause?
Der Sieg Erdogans habe, so Michael Thumann, sehr viel mit der Identitätsfrage zu tun: «Wer bin ich und was ist meine Biographie?» Das Votum für Erdogan sei «eine Wahl für die eigene Biographie» gewesen. «Ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung identifiziert sich geradezu biographisch mit Erdogan: Sein Aufstieg in den 2000er-Jahren, das war mein Aufstieg, da ging es mir plötzlich besser […] Und all diese Identitätsfragen von Herkunft und Glaube […] spielten eine wahnsinnig wichtige Rolle.»
Das reiche aber noch nicht für fünfzig Prozent. Erdogan sei es gelungen, im Wettlauf um die Wechselwähler die nationalistische Karte zu spielen. «Deshalb war dieser Wahlkampf auch so stark von nationalistischen Parolen geprägt, dass sich (sein Konkurrent) Kirikdoroglu ebenfalls darauf einliess […] Die beiden haben dann geradezu einen Wettbewerb veranstaltet, wer mehr Syrer nachhause schickt.»
Religiöse versus urbane Nationalisten
«Der Nationalismus», ergänzt Hürcan Alsi Aksoy, «war immer wichtig» in der Türkei und werde heute von sehr unterschiedlichen Gruppen vertreten. «Erdogan hat auf die religiösen Nationalisten, die Opposition auf die urbanen Nationalisten» gesetzt. Dabei habe Erdogan «eine kohärente Wahlstrategie erarbeitet», quasi «ein islamistisch-nationalistisches Bündnis». Das habe der Wählerschaft «ein klares Bild» gegeben. Dagegen habe man dem «ganz heterogenen Bündnis» des oppositionellen Sechserbündnisses mit «Sozialdemokraten, Nationalisten, Islamisten und Liberalen» nicht abgenommen, dass es «das Land führen könne».
Auch wenn kein grosser Wahlbetrug vermutet werden könne, habe es wohl «einen gewissen Grad an Manipulation», gegeben, so Thumann. Er kenne aber «keine Ziffern, keine Erhebung dafür, aber sagen wir ein oder zwei Prozent – dann wären wir genau bei dem Unterschied im Wahlergebnis».
Jetzt muss Erdogan selber aus der verursachten Wirtschaftskrise herausfinden
Bei aller Enttäuschung über den Ausgang der Wahlen könnte es besser sein, dass jetzt Erdogan selbst mit der von ihm angerichteten Wirtschaftskrise fertig werden muss, als dass eine siegreiche Opposition daran scheitern würde. Thumann jedenfalls möchte nicht ausschliessen, «dass sich die Türkei in einem stetigen Abwärtstrend befinden wird und daraus Chancen für die Opposition entstehen». Es könne aber auch sein, dass die Autokraten sich gegenseitig helfen. Putin habe der Türkei eine Gasrechnung gestundet. Es sei auch möglich, dass die Golfstaaten ihm weiterhin Geld geben. «Auf die Dauer reichen solche Spenden natürlich nicht aus», meint Thumann. Und wenn dann «der Kühlschrank leer bleibt, werden die Menschen daraus ihre Schlüsse ziehen».
Allerdings verfüge die Regierung quasi über ein Informationsmonopol, erklärt Aksoy: «Die Erdogan-Cronies dominieren die Medienlandschaft ja zu 90 Prozent.» 85 Prozent der Bevölkerung hätten ihre Information zu den Wahlen «von den staatlichen Kanälen, die alle von der AKP dominiert sind» bezogen. «Deshalb ist es wahnsinnig schwierig für die Opposition, ihre Information rüberzubringen.»
Berechtigte Angst vor noch repressiverer Politik
Aksoy geht davon aus, dass die Regierung ganz gezielt auf Oppositionspolitiker losgehen und mit dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu anfangen könnte. Die weitere Kriminalisierung der Opposition werde auch die kurdischen Parteien treffen ebenso die «zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie wir das nach dem Putschversuch 2016 gesehen haben». Damals seien mehr als 350 zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen worden. Das werde sich jetzt gegen Frauen- und LGBTQ-Organisationen richten, denen das tägliche Leben erschwert werde. «Aber die Zivilgesellschaft in der Türkei ist intakter und hat die Fähigkeit, sich umzuorientieren – ganz im Gegensatz zu Russland», so Thumann. Er befürchtet jedoch ebenfalls, dass die Regierung «in den kommenden Jahren diese Lücken» verbleibender Freiräume schliessen werde.
Antiwestlicher Trend könnte zunehmen
Die Aussenpolitik habe im Wahlkampf, so Aksoy, keine grosse Rolle gespielt. Es gebe zwar eine antiwestliche Haltung, aber «nicht nur bei Erdogan, sondern auch bei der Opposition». Das Gefühl, dass das Land vom Westen allein gelassen werde, herrsche in grössten Teilen der Bevölkerung. Nach Umfragen seien etwa zwei Drittel der Menschen anti-westlich ausgerichtet. Aksoy befürchtet, dass dieser Trend nach der Wahl noch weiter zunehme: «Erdogan wird seine nationalistische, islamistische, antiwestliche Rhetorik verstärken.»
Es gebe aber auch die Einschätzung, dass sich Erdogan nochmals nach Westen orientiert, weil er unbedingt Auslandsinvestitionen brauche.
Unterdessen hat Erdogan seinen früheren Wirtschaftsminister Mehmet Simsek zum Finanzminister ernannt. Dieser soll bei internationalen Partnern Vertrauen schaffen.
Im Ukrainekrieg gelingt Erdogan, so Thumann, eine erfolgreiche Balance zwischen dem Westen und Russland, und stehe «nach wie vor ziemlich gut da als ein möglicher Vermittler mit dem Vorteil, Anrainerstaat und NATO-Mitglied zu sein». An den westlichen Sanktionen gegen Russland beteilige er sich nicht. Sein bisheriges Veto gegen den schwedischen NATO-Beitritt werde er wohl für die Freigabe von F-16 Flugzeugen aufgeben. So werde er sich dem Westen weiterhin als nützlicher Partner für die regionale Stabilität anbiedern.
Bundeskanzler Scholz hat ihm nicht nur zur Wahl gratuliert, sondern ihn auch noch nach Berlin eingeladen. Diese positive Haltung schaffe aber, so Aksoy, ein «wahnsinnig schlechtes Gefühl bei den oppositionellen liberalen Kräften in der Türkei, denn diese sind noch antiwestlicher geworden, weil sie tatsächlich glauben würden, dass die EU den Machterhalt von Erdogan unterstütze.
Doch Erdogan garantiere nicht Stabilität. «Eine instabile Türkei ist aber nicht im Interesse Europas», ergänzt Aksoy.
Debatte zu dritt
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[i] Die Stiftung Wissenschaft und Politik nimmt neben öffentlichen Geldern auch Drittmittel u.a. von BP, Daimler, VW, Deutsche Bank, Fritz Thyssen Stiftung und Stiftung Mercator entgegen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Ich frage mich, woher die Selbstverständlichkeit kommt, dass sich jeder berufen fühlende Westeuropäer ständig in Wahlen in fremden Ländern hineinmischt, am liebsten bei «Problemländern» wie Russland, der Türkei oder Brasilien. Von Links nach Rechts werden Wahlverbote und -empfehlungen für ausländische Politiker ausgesprochen; mal der Teufel, mal der Heiland an die Wand gemalt, mal der Untergang von was auch immer, mal gloriose Hoffnung prophezeit. Man hantiert dann gerne mit Attributen wie «Autokraten», «westlich-fortschrittlich», «nach Westen gewandt». Ich halte das für eine seltsame westliche Hybris, die keine Grundlage in der Realität hat; wir sind nicht das gelobte Land, das anderen Lektionen erteilen könnte. Etwas mehr Bescheidenheit im Umgang mit internationalen Partnern wäre angebracht.
Gut so ! Mit einem neuen Präsidenten ( der auch nicht Zaubern kann) zusammen mit sechs Parteien (die alle verschiedene Ziele verfolgen ) hätte es bestimmt – nicht nur oben , auch unten – Unruhe, sogar Aufstände gegeben. Mittlerweile sollte bekannt sein, das es nicht reicht einen Diktator vom Sockel zu hauen und «alles wird gut» ( siehe Naher Osten) .
Und was heißt Stabilität? Ein weiteres Bollwerk für die westliche Seite? Die Türkei ist ein «Drehkreuz». Nur mit Flexibilität und Diplomatie kann die Türkei, sich selbst und den Frieden, nach allen Seiten erhalten.