Kommentar
kontertext: Umrisse einer weiblichen Literaturlandschaft
Geendet hat die Preisverleihung am Sonntag in Solothurn mit der Geehrten selber: Gertrud Leutenegger las ihren kurzen Prosatext «Kabine», in welchem sie 2002 einst ihre ganze Poetik entwarf und der sich jetzt, an der Schwelle zum Sommer besonders gut macht:
«… noch einen Augenblick verharre ich in der von Algengeruch, Bremsengesumm und Sommerwärme erfüllten Kabine, denn hier, in der Abgeschirmtheit, mitten im Ankommen und Fortgehen, diesem Alleinsein in der Unruhe des ersehnten Horizontes, hier, noch ohne das geringste aufgezeichnete Wort, entdecke ich den Ausgangsort des Schreibens.»
Spätestens hier hat es Klick gemacht im Theatersaal in Solothurn, weil sich Kreise geschlossen haben, weil mit der Kabine auch ein Umschlagplatz aufgetaucht ist für eine weibliche Literaturgeschichte der Schweiz mit beweglichen Konturen und Übergängen. Ein glücklicher Moment.
Schwerelosigkeit und Durchlässigkeit des Fremden
Begonnen hat es mit der Solothurner Stadtpräsidentin Stefanie Ingold, die sich wie der gut gelaunte Moderator Thomas Strässle freute über den Preis für die 1947 in Schwyz geborene Gertrud Leutenegger. Warum diese Freude nicht nur geteilt werden kann, sondern ansteckend ist fürs Denken, haben Eva Seck und Ruth Schweikert als Jurorinnen in ihrer Preisrede dann nachvollziehbar gemacht. Wobei bereits die Form der Rede eine eigene Gestaltung hatte: Ruth Schweikert konnte nicht nach Solothurn kommen, Eva Seck verharrte im Zuschauerraum, während auf der Bühne zwei Schauspielerinnen in verteilten Rollen vorlasen.
Die eine las den Text von Eva Seck, die andere die Texte Gertrud Leuteneggers, welche Eva Seck in ihrer Rede inkorporiert und kommentiert hatte. Die dritte Stimme aus dem Off war jene von Ruth Schweikert, die als Jurorin eigentlich dabei gewesen wäre. Da sie aber bereits 1997 die literarische Landschaft Gertrud Leuteneggers in einem Essay in der WOZ entfaltet hatte, griff Eva Seck auf diesen zurück – eine überaus kluge Entscheidung.
«Verlorene Pläne der Weltordnung» war der Titel jenes Essays, in welchem die damals 32-jährige Ruth Schweikert die Topographien, Textstrukturen und «Denkbilder» von Gertrud Leuteneggers Schreiben erschlossen hatte. Vorgetragen wurde somit im Stadttheater Solothurn eine polyphone Drei-Generationen-Rede, die ohne ein einziges Label, ohne eine einzige Trendsetzung, ja sogar ohne eine Geschichte auskam.
Eva Seck, die jüngste Schriftstellerin in dieser Konstellation, stellte ihr das Motto der Schwerelosigkeit voran, mit dem sie von Anfang an eine Signatur im Werk von Gertrud Leutenegger heraushob, die es ermöglicht, in verschiedenen Zeiten und Zuständen vorhanden zu sein: «Wer sich in die Literatur Gertrud Leuteneggers begibt, tritt zugleich in eine Welt, in der Gegenstände, Zustände und Zeiten durchlässig werden…»
Und Ruth Schweikert begann ihren Text damals mit der Beobachtung, dass die Erzählerinnen bei Gertrud Leutenegger, wohin sie auch gehen, in die Fremde gehen. Wie das Fremde nah kommt und das Vertraute fern wird, das ist unablässige Arbeit am eigenen Bewusstsein in der Sprache.
Und damit zeigt sich im Werk Leuteneggers gerade in der Würdigung durch die beiden Schriftstellerkolleginnen in Solothurn plötzlich ein besonderer Aspekt. Es ist die Perspektive einer weiblichen Landschaft der Schweizer Literaturgeschichte, die, anders als jene der Männer, nie um eine Zentralfigur herum geschrieben wurde, sondern sich in Konstellationen ihre Gestaltung sucht, fliessend, aber klar in den Konturen.
Der Kanon ist schon lange mehrstimmig
Numerisch lässt sich feststellen: Der Solothurner Literaturpreis, einer der wenigen Preise in der Schweiz, der für den ganzen deutschen Sprachraum und immer für ein Gesamtwerk vergeben wird, ist in den letzten zwanzig Jahren dreizehn Mal an Frauen und nur sieben Mal an Männer vergeben worden.
Ob solche Zählungen noch Sinn machen angesichts der zunehmenden non-binären Stimmen der Literatur? Blickt man in die Literaturgeschichte, die auch in der Schweiz weitgehend eine Geschichte der Filiationen ist, muss sich der Blick zwangsläufig an den Geschlechterkategorien festhalten.
Sie sind noch immer erkenntniskritisch und deshalb geeignet, Unterschiede im Kanon oder Kontraste in literarischen Landschaften auszumachen. Denn es gibt kein weibliches Pendant zum männlich geprägten deutschschweizerischen Kanon, der sich in Paaren der Entgegensetzung gebildet hat, die über Generationen weitergereicht wurden.
Von Keller – Gotthelf über Walser – Glauser bis zu Frisch – Dürrenmatt: Paarungen, deren Nachfolger heute noch immer gesucht werden. (Zur Zeit wäre wohl Lukas Bärfuss derjenige, der gleich alle Nachfolgen antritt, so suggeriert es bisweilen die Literaturkritik und einige Jurys mit ihr).
Von solchen Filiationen und Engführungen sind die Schriftstellerinnen der Schweiz verschont geblieben. Während es in der Kritik und den Jurys neuerdings auch im Namen der Diversität öfters wieder stereotype Fragen an die Literatur gibt, woher oder in wessen Vertretung jemand schreibe (Klasse, Ethnie, geschlechtliche Identität, politische Geographie etc.), ist die weibliche Literaturlandschaft noch immer etwas nicht ganz Entdecktes, und dafür stehen die Schriftstellerinnen Leutenegger, Schweikert und Seck in besonderer Weise.
Was sie verbindet, ist die Einsicht, dass die Literatur niemals dazu da ist, eine «Weltordnung» zu vertreten oder abzubilden. Gertrud Leuteneggers Literatur, so Eva Seck, ist keine Literatur für Orientierungsuchende. Und Ruth Schweikert bezeichnet alle ihre Texte als Versuch die «Weltordnung zu erkennen, ohne die Elemente dieser Welt hierarchisch zu ordnen». Ihr Schreiben ist ein Herstellen von Mikro-Odnungen zwischen dem erkennenden Ich und der Welt, es sind Ordnungen im Werden, die das Bewusstsein für einen Moment beruhigen, wenn ihre Elemente in ein Gleichgewicht geraten.
Disparat und unverfügbar
Die Motive bei Gertrud Leutenegger mögen noch so disparat oder fremd sein wie die Figuren der Kindheitslektüre, Karnevalsgestalten, katholische Riten, sich prostituierende Romamädchen in Rom oder Autounfälle am Gotthard: Sie sind Ergebnis eines konstellativen Denkens, dessen Ideen, ganz im Sinne Adornos, sich strukturell aufbauen und dynamisch bleiben.
Von diesem konstellativen Muster einer ästhetischen Weltwahrnehmung, die dem Disparaten seine Wichtigkeit belässt, ist auch die polyphone Preisrede geprägt. Sie zeugt von Achtung und Einfluss, sie zeugt insbesondere auch von Eva Secks eigenem Bewusstwerden darüber, was alles vor uns schon da war: «Je älter ich werde, desto eher erkenne ich die, die vor uns waren. Sie sind eine Möglichkeit der Verortung, die Möglichkeit des poetischen oder geistigen Verbunden-Seins, und sei dies durch die gemeinsame Luft, die wir atmen.»
Ich selber, als Leserin und Rezensentin von Gertrud Leutenegger (meine erste literarische Rezension widmete sich 1988 ihrem Roman «Meduse»), fühle mich verbunden und verortet an diesem Sonntag in Solothurn. Als die Hauptausgabe der Tagesschau von SRF 1 am Abend statt die Solothurner Literaturtage ein«Mammutflossrennen» in der Ostschweiz zeigt, von dem nichts weiter berichtet werden konnte, als dass «die Stimmung stimmte», denke ich seufzend an Eva Secks letzte Worte:
Man möchte Gertrud Leutenegger immer zur Verfügung haben, um mit ihr das Disparate der Welt zu erkunden. Unverfügbar ist sie, aber wie schön könnte sie wohl berichten von den Abgründen dieses auf den ersten Blick so sinnlosen Flosstreibens.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Beat Sterchi und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Warum sollte es von Bedeutung sein, welches Geschlecht ein Autor hat? Als Leser interessiert mich in allererster Linie die Geschichte; ob der Autor männlich, weiblich, drogenkrank, superreich, schwerer Alkoholiker oder vierfache Mutter ist, tut nichts zur Sache, verstärkt und schwächt nicht den Genuß eines Textes. Ein Hervorheben des Geschlechts führt nicht zu mehr Wertschätzung für Frauen oder zu mehr Gleichberechtigung; es erreicht das Gegenteil, weil getrennt, statt zusammengeführt wird. Es sollte herzlich egal sein. Eine schlechte Fabel wird durch das Geschlecht des Autors nicht besser und eine gute nicht schlechter.