Ukraine-Krieg: Die Chance für Friedensgespräche rückt näher
Die Biden-Administration und mehrere Regierungen in Europa möchten die Kämpfe nach der lange erwarteten ukrainischen Frühjahrsoffensive stoppen und Gespräche zwischen beiden Seiten über eine Beendigung des Krieges einleiten. Grund sind zum einen die eskalierenden Kosten für die Aufrüstung der Ukraine. Dabei ist ungewiss, wie lange Kiew überhaupt noch ausreichend Soldaten rekrutieren kann. Zum anderen beginnt in der US-Bevölkerung die Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine zu schwinden. Das schwächt die Chancen von US-Präsident Joe Biden auf seine Wiederwahl im kommenden Jahr. US-Aussenminister Antony Blinken hat vergangene Woche erstmals die Bereitschaft zu erkennen gegeben, Beijing zwischen Moskau und Kiew verhandeln zu lassen. Kiew begrüsst eine chinesische Vermittlungstätigkeit.
Vorstoss zum Asowschen Meer?
Bereits am 7. Mai hatte das «Wall Street Journal» unter Berufung auf Regierungsmitarbeiter in Europa und den Vereinigten Staaten frühere Berichte [1] bestätigt, denen zufolge im Westen für die Zeit nach der ukrainischen Frühjahrsoffensive Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Aussicht genommen werden. Der Plan lautet, die Ukraine solle mit ihrer Offensive wenigstens einige Territorien zurückerobern, um der Öffentlichkeit einen gewissen Erfolg präsentieren zu können.[2] Als eine Option gilt dabei ein Vorstoss aus Saporischschja in Richtung Asowsches Meer: Gelänge es den ukrainischen Streitkräften, bis zur Küste zu gelangen – etwa in das Gebiet um die Grossstadt Melitopol –, dann wäre die Landbrücke vom russischen Hauptterritorium über Mariupol, Berdjansk und Melitopol auf die Krim unterbrochen. Deren Versorgung, aber auch jene der russischen Truppen nördlich der Krim würden für Moskau zum gravierenden Problem. Russland hat Anfang der Woche begonnen, in der Region Saporischschja Teile der Bevölkerung zu evakuieren; auch Mitarbeiter des dortigen Atomkraftwerks wurden in Sicherheit gebracht.[3] Zuvor hatten russische Stellen von zunehmendem Beschuss der Region Saporischschja durch die ukrainischen Streitkräfte berichtet.
Stimmungsumschwung in den USA
Es gibt es zweierlei Gründe dafür, dass die Biden-Administration und eine Reihe europäischer Staaten im Anschluss an die ukrainische Frühjahrsoffensive eine Einstellung der Kämpfe sowie Verhandlungen mit Russland befürworten. Auf der einen Seite drohen die jetzt schon gewaltigen Kosten, die die Aufrüstung der Ukraine dem Westen aufbürdet, ins Uferlose zu steigen.[4] Zudem beginnt die personelle Lage der ukrainischen Streitkräfte offenbar prekär zu werden: Immer häufiger wird von Schwierigkeiten bei der Rekrutierung der Soldaten oder auch vom Einsatz unzulänglich oder gar nicht ausgebildeter Truppen berichtet.[5]
Als zweiten Grund haben US-Medien bereits vor einiger Zeit Veränderungen im Stimmungsbild der US-Bevölkerung genannt. Im April zeigte eine Umfrage, dass nur noch 38 Prozent der US-Bevölkerung der Ansicht sind, die Ukraine solle «so lange wie nötig» unterstützt werden, während 46 Prozent dies auf höchstens zwei Jahre beschränkt sehen wollen.[6] Der Anteil derjenigen, die höhere Energiepreise bzw. höhere Inflation in Kauf zu nehmen bereit sind, ist von 60 auf 51 bzw. von 57 auf 46 Prozent gefallen. Hält die Tendenz an – darauf deutet alles hin –, wird der Krieg zur Belastung für den Wahlkampf von US-Präsident Joe Biden.
Waffenstillstandsgespräche im Herbst?
Nicht alle sind dem «Wall Street Journal» zufolge mit Verhandlungen im Anschluss an die ukrainische Offensive einverstanden. Die Zeitung berichtet, Regierungsmitarbeiter vor allem aus Polen und den baltischen Staaten sowie einzelne Hardliner aus Grossbritannien plädierten für die Fortsetzung des Krieges unabhängig vom militärischen Stand der Dinge im Herbst. Dennoch gehe man in Washington sowie in europäischen Hauptstädten davon aus, US-Präsident Joe Biden werde seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj bald signalisieren, Waffenstillstandsgespräche in den kommenden Monaten kämen «gelegen».[7]
Die Biden-Administration gibt dabei offenbar ihren Widerstand gegen eine chinesische Vermittlung zwischen Moskau und Kiew auf. US-Aussenminister Antony Blinken sagte, entsprechende Aktivitäten der Volksrepublik könnten «sehr förderlich» sein.[8] Am vergangenen Dienstag stimmte Grossbritanniens Aussenminister James Cleverly zu und erklärte, London würde eine chinesische Intervention «begrüssen».[9] Bereits im Februar hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Berichten zufolge Selenskyj angeboten, in Paris eine Friedenskonferenz zu organisieren. Selenskyj habe, heisst es, seine Teilnahme von der Anwesenheit Bidens sowie des chinesischen Präsidenten Xi Jinping abhängig gemacht.[10]
China intensiviert Vermittlungsaktivitäten
China hat seine Vermittlungsaktivitäten inzwischen zu intensivieren begonnen. Präsident Xi Jinping kündigte nach einem ausführlichen Telefongespräch mit Selenskyj am 26. April an, die Volksrepublik werde einen Sonderbotschafter in die Ukraine und in weitere europäische Länder entsenden, um über eine «politische Lösung» Gespräche zu führen. Selenskyj, der schon zuvor mehrmals erklärt hatte, für Verhandlungen mit China offen zu sein, nannte den Austausch mit Xi «bedeutsam».[11] Der chinesische Aussenminister Qin Gang hat in den vergangenen Tagen Gespräche in Deutschland sowie in Frankreich geführt; auch dabei ging es unter anderem um die Vermittlungsbestrebungen im Ukraine-Krieg.
China ist nicht das einzige Land, das entsprechende Aktivitäten entfaltet. Neben der Türkei, die Erfolge im Konflikt um ukrainische Getreideexporte über das Schwarze Meer erzielt hat, ist aktuell vor allem Brasilien mit Verhandlungen befasst. Am Mittwoch hielt sich der brasilianische Ex-Aussenminister Celso Amorim, heute Berater von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, zu Gesprächen mit Selenskyj in Kiew auf. Zuvor hatte er Anfang April Moskau besucht, bevor der russische Aussenminister Sergej Lawrow zu Gesprächen in Brasília empfangen worden war. Kiew hat Brasiliens – mit China koordinierte – Vermittlungsbemühungen explizit gelobt.[12]
Territoriale Integrität und Sicherheit
Chinas Vorstoss für eine politische Lösung des dem Krieg zugrundeliegenden Konflikts umfasst zum einen die Wahrung der Souveränität sowie der territorialen Integrität aller Staaten, also auch der Ukraine. Die Volksrepublik hat die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation bis heute nicht anerkannt. Zum anderen enthält er auch die Forderung, die Sicherheitsbedenken aller Staaten müssten ernst genommen werden. Dies bezieht sich darauf, dass Russland die dauerhafte Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine oder gar die NATO-Mitgliedschaft des Landes als gänzlich unvereinbar mit seiner Sicherheit ansieht. Ende März vergangenen Jahres waren Verhandlungen recht weit gediehen, die zum einen den Abzug der russischen Truppen, zum anderen den ukrainischen Verzicht auf die Einbindung in die NATO vorsahen. Die Lösung scheiterte damals an einer britisch-US-amerikanischen Intervention.[13] Ob und, wenn ja, wie an den damaligen Lösungsvorschlag angeknüpft werden kann, ist ungewiss. Chinas Diplomatie ist gegenwärtig damit befasst. Dass es keineswegs unmöglich ist, sich logisch ausschliessende Ansprüche diplomatisch zu überbrücken, hat etwa die Entwicklung der Beziehungen zwischen BRD und DDR gezeigt.
Verhandlungen torpedieren
Transatlantische Kreise in Deutschland hingegen suchen die Bemühungen noch zu torpedieren. Am 9. Mai hiess es in einem deutsch-US-amerikanischen Meinungsbeitrag in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», über einen Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland dürfe frühestens dann verhandelt werden, wenn «mindestens» der territoriale Status quo aus der Zeit vor dem russischen Überfall wiederhergestellt sei.[14] Dass dies mit der ukrainischen Frühjahrsoffensive gelingt, wird als wenig wahrscheinlich eingestuft. Falls dennoch verhandelt werde, müsse der NATO-Beitritt der Ukraine durchgesetzt werden, fordern die Autoren des Beitrags; und falls auch das nicht gelinge, sei die Mindestforderung ein «Mitgliedschafts-Aktionsplan» der NATO für die Ukraine zuzüglich einer dauerhaften Stationierung von NATO-Truppen in dem Land. Zudem müsse die Ukraine «in die sicherheitspolitischen Institutionen und Instrumente der EU integriert werden».
Würde dies umgesetzt, wären Chinas Verhandlungsbemühungen gegenstandslos und ein Ende des Krieges vor der totalen physischen Erschöpfung einer der beiden Kriegsparteien unwahrscheinlich.
_________________________
FUSSNOTEN:
[1] S. dazu «Untragbare Opfer».
[2] Bojan Pancevski, Laurence Norman, Vivian Salama: U.S. and Allies Look at Potential China Role in Ending Ukraine War. wsj.com 07.05.2023.
[3] Evacuations from Russia renew concerns for nuclear power plant safety. edition.cnn.com 08.05.2023.
[4] Bojan Pancevski, Laurence Norman, Vivian Salama: U.S. and Allies Look at Potential China Role in Ending Ukraine War. wsj.com 07.05.2023.
[5] Isabelle Khurshudyan, Paul Sonne, Karen DeYoung: Ukraine short of skilled troops and munitions as losses, pessimism grow. washingtonpost.com 13.03.2023.
[6] Shibley Telhami: Americans show signs of impatience with Ukraine war. brookings.edu 28.04.2023.
[7] Bojan Pancevski, Laurence Norman, Vivian Salama: U.S. and Allies Look at Potential China Role in Ending Ukraine War. wsj.com 07.05.2023.
[8] Nike Ching: US Watches With Caution as China Sends Peace Envoy to Ukraine. voanews.com 08.05.2023.
[9] Alexandra Rogers: Britain would ‘welcome’ intervention by China to bring peace in Ukraine, says James Cleverly. news.sky.com 09.05.2023.
[10] Bojan Pancevski, Laurence Norman, Vivian Salama: U.S. and Allies Look at Potential China Role in Ending Ukraine War. wsj.com07.05.2023.
[11] Xi Jinping et Volodymyr Zelensky se sont entretenus pour la première fois depuis le début de la guerre en Ukraine. lemonde.fr 26.04.2023.
[12] Ucrânia exalta papel do Brasil em visita de Celso Amorim. g1.globo.com 10.05.2023.
[13] S. dazu «Die Kriegsziele des Westens».
[14] James D. Bindenagel, Thomas Risse: Ohne Sicherheitsgarantien kein Waffenstillstand. «Frankfurter Allgemeine Zeitung» 09.05.2023.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Online-Plattform german-foreign-policy.com. Diese «Informationen zur deutschen Aussenpolitik» werden von einer Gruppe unabhängiger Publizisten und Wissenschaftler zusammengestellt, die das Wiedererstarken deutscher Grossmachtbestrebungen auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet kontinuierlich beobachten.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Späte Einsicht, siehe Minsker – Abkommen und Berichte der OSZE.
Zuerst musste unendliches Leid geschaffen und Europas Wirtschaft nachhaltig geschädigt werden, bis man mal miteinander redet.
Welche Garantien wird die Ukraine erhalten, welchen Preis wird sie zahlen müssen? Die Ukraine war in ihrer Geschichte, wie heute auch, so oft verraten worden, dass es wohl sehr schwierig wird heute ein Friedenskonstrukt zu zimmern, das halten kann (Sinn macht).
Woher weiss denn «der Westen», dass Russland unter ihm genehmen Bedingungen zu verhandeln bereit wäre?
Im Gegensatz zu den USA mit ihrer Hauruckmethode «verschiebt» China die Weltenordnung langsam und besonnen, fast schon unsichtbar.
China kann sich auf die «Zukunft» konzentrieren. Während der Westen Opfer von gestern entschädigt, nebenbei neue Opfer in der Gegenwart schafft und beide mit der Zukunft bezahlen muss. Schuld, Sühne, Rache. Demokratie hat nicht vereint. Sie hat die Welt kleingehackt. Jeder Volksstamm möchte jetzt sein «eigenes» Land wiederhaben ( so wie Israel) was vom Westen bereitwillig unterstützt wird, sofern die Bodenschätze und die Lage auf diesem Land dafür sprechen.
Es wird sich noch einiges verändert. Hinter der vorgeschoben Fassade .
@Manuela Von Schleiern; das grenzt an eine Täter-Opfer-Umkehr. Demokratie soll die Welt zerhackt haben ? Was für eine abstruse Vorstellung von Demokratie. In einer Demokratie werden Konflikte ausgetragen, wenn auch nicht immer mit Erfolg. In autoritären Staaten werden Konflikte unterdrückt. Das ist noch nie gut gegangen. China macht mir sehr viel mehr Angst als die USA, auch wenn ich kein USA-Enthusiast bin. Hier muss ich mich wenigstens nicht als Marionette fühlen und darf noch selber denken. Jeder Staat versucht für sich das Beste zu ergattern, leider oft auch mit unlauteren Mitteln. Das ist sicher kein USA-Phänomen.
Wenn das stimmt, dann taucht aus dem Propaganda-Pulverdampf die traurige Erkenntnis auf, dass es der Administration Biden nie darum ging, die Ukraine oder Europa vor Schaden zu bewahren. Das Ziel war eine grösstmögliche Beanspruchung der Russischen Kräfte, vermutlich, um einen Verbündeten des grossen, nächsten Gegners China zu schwächen, dazu noch die langfristig erwünschte Trennung der Europäischen von der Russischen Wirtschaft. Vom reinen Profit, den ein Krieg für die Rüstungsindustrie immer abwirft, mal abgesehen.
Die Zerstörung der Ukraine und einer ganzen Generation ihrer Familien sowie die massive Schädigung Europas waren dabei Mittel zum Zweck. Das scheint mir die zynische Logik hinter der Politik der USA zu sein.
@Oliver van der Würden; ja das ist wirklich äusserst zynisch: zum „Glück“ kontert Russland mit seinem gerechten Krieg….. da muss man halt eben auch Menschen und ganze Infrastrukturen zerstören und ein ganzes Land in den Abgrund treiben. Gut nur, dass dies nicht. auf einem Territorium geschieht. Ich bedaure allerdings die Ukrainer, die so pauschal zu willenlosen „Kreaturen“ diffamiert werden. Warum verteidigen sie sich denn überhaupt noch?