4673fb Bild Baustelle neu

Lohnschutz für alle? © SRF

Das Ringen um einen wirksamen Lohnschutz

Markus Mugglin /  Angeblich alle wollen guten Lohnschutz. Ein Vorschlag «Lohnschutz für alle» stösst trotzdem auf Skepsis, auch bei Gewerkschaften.

Ausgerechnet auf SVP-Bundesrat Guy Parmelin kommt es an, ob die Schweiz im Verhältnis zur EU aus der Blockade herausfindet. Der Bundesrat hat ihn beauftragt, mit den Sozialpartnern Vorschläge zu erarbeiten, wie der Lohnschutz «mit ergänzenden Massnahmen inländisch abzusichern» ist. Bis Ende Juni soll er liefern. In kurzer Zeit soll möglich werden, was seit vielen Jahren nicht möglich war.

Parmelin tritt ein schweres Erbe an. Er soll kitten, was sein Vorgänger Johann Schneider-Ammann im Sommer 2018 zerschlagen hatte, als er mit den Sozialpartnern über Anpassungen bei den Flankierenden Massnahmen diskutieren wollte. Die Gewerkschaften witterten die Löcherung des Lohnschutzes und schlugen die Einladung aus. Seither herrscht Blockade im Verhältnis Schweiz – EU.

Lohnschutz für alle statt nur die Hälfte

Jetzt gibt das Bundesratsgremium die Absicherung statt die Anpassung des Lohnschutzes als Ziel vor. Wie das geschehen könnte, darüber gibt es viele Ideen. SVP-Regierungsmann Parmelin könnte sich im Werkzeugkasten bedienen, den SP-Alt-Regierungsrat Markus Notter jüngst unter der Überschrift «Lohnschutz für alle – mit Europa» präsentiert hat:

  • Mindestlohnregelungen in Gesamtarbeitsverträgen allgemeinverbindlich festlegen und in Normalarbeitsverträgen erleichtern;
  • einen nationalen Mindestlohn nach dem Vorbild der EU-Mindestlohnrichtlinie einführen;
  • tripartite Kommissionen für die Kontrolle des Lohnschutzes stärken;
  • Verhandlungen für Gesamtarbeitsverträge mit dem Ziel einer 80-prozentigen Abdeckung fördern, wie es die EU in ihrer Mindestlohnrichtlinie anstrebt;
  • die Voranmeldefristen und die Kautionspflicht anpassen.

Es ist ein reichhaltiges Massnahmenbündel, das Markus Notter für einen wirksamen Lohnschutz vorschlägt. Es zielt über die bestehenden Schutzmassnahmen hinaus. Nicht mehr nur die Hälfte der Arbeitnehmenden soll von einem wirksamen Lohnschutz profitieren – nicht nur jene, die in Branchen mit Gesamtarbeitsverträgen oder Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen arbeiten. Für die andere Hälfte, die jetzt nur schlecht gegen Lohndruck geschützt ist, sollen sich die Lücken schliessen.

Notters Vorschläge setzen in der Schweiz an. Über eine sogenannte «Swisslex-Vorlage» will er den Lohnschutz nicht von einem Verhandlungserfolg mit der EU abhängig machen. Es soll «nicht auf den Abschluss einer wie auch immer ausgestalteten Regelung der institutionellen Fragen mit der EU» gewartet werden. Die Schweiz könne den Lohnschutz im Inland und in Übereinstimmung mit EU-Recht absichern. Im Kern ginge es um die Übernahme der EU-Richtlinie für angemessene Mindestlöhne und die dort vorgesehene Förderung und Erleichterung von GAV-Verhandlungen bis zu einem 80-prozentigen Abdeckungsgrad mit Tarifverträgen.

EU-Mindestlohn-Richtlinie und die Schweiz

Gemäss der im Juni 2022 definitiv beschlossenen EU-Mindestlohnrichtlinie sollen die Mitgliedstaaten entweder angemessene Mindestlöhne einführen oder Aktionspläne für die tarifvertragliche Abdeckung von 80 Prozent festlegen. Als angemessen gelten die Mindestlöhne, wenn sie 60 Prozent des Medianlohnes oder 50 Prozent des Durchschnittslohnes eines Landes betragen. 

Die Schweiz kennt keinen nationalen Mindestlohn und erreicht mit einem Anteil von nur 50 Prozent längst nicht den über Gesamtarbeitsverträge anvisierten Abdeckungsgrad. 

Der Mindestlohn nach den Vorgaben der EU-Richtlinie hätte 2020 in der Schweiz CHF 3’999 (= 60 Prozent des Medianlohnes) respektive CHF 3’913 (= 50 Prozent des Durchschnittslohnes) betragen sollen. Laut Bundesrat erhielten 5,5 Prozent der Beschäftigten weniger als 60 Prozent des Medianlohns und 4,8 Prozent der Beschäftigten weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns. Das waren rund eine Viertelmillion Arbeitnehmende. Am meisten verbreitet waren die sehr tiefen Löhne in den Bereichen Bekleidung und Textilien, persönliche Dienstleistungen, Gastgewerbe und Beherbung sowie Gebäudebetreuung, Garten- und Landschaftsbau.

Skepsis und Abbau durch Parlament

Noch sieht es nicht danach aus, dass Notters Vorschläge innenpolitisch Erfolg haben. Nicht überraschend hält die Unternehmerseite wenig von gesetzlich fixierten Mindestlöhnen. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt bezeichnete es in einem Interview in der NZZ im letzten Sommer (21. Juli 2022) als «unredlich, nun über die Hintertüre Mindestlöhne einzuführen», nachdem das Volk solche 2014 an der Urne abgelehnt hatte. Die bürgerliche Mehrheit im Parlament will weniger statt mehr Lohnschutz und hat letztes Jahr gleich zweimal so entschieden. Vor Ende Jahr hebelte es die in mehreren Kantonen vom Stimmvolk gutgeheissenen Mindestlöhne aus. Im Juni 2022 hat der Ständerat dem Begehren, ausländische Unternehmen auf die Einhaltung kantonaler Mindestlöhne zu verpflichten, eine Absage erteilt. SVP-Bundesrat Guy Parmelin versuchte als zuständiger Wirtschaftsminister den Abbau des Lohnschutzes zu verhindern. Doch erfolglos.

Einen Ausbau des Schutzes wollte bisher auch der Bundesrat nicht. In seiner Antwort auf die Interpellation «Neue EU-Mindestlohnrichtlinie» von Nationalrätin Samira Marti markierte er Distanz zum Ziel, den Abdeckungsgrad von Gesamtarbeitsverträgen zu fördern. Er bezeichnete einen «möglichst hohen GAV-Abdeckungsgrad nicht per se (als) zielführend», obwohl er selber einräumte, dass in einer ganzen Reihe von Branchen tiefe Löhne unterhalb der in der Mindestlohnrichtlinie erwähnten Zielwerte verbreitet sind.  

Obwohl der Abdeckungsgrad in der Schweiz mit 50 Prozent deutlich unter dem in der Mindestlohnrichtlinie erwähnten Ziel von 80 Prozent liegt, reagieren auch die Gewerkschaften erstaunlich reserviert auf die Vorschläge Notters für einen «Lohnschutz für alle – mit Europa». Gegenüber der NZZ am Sonntag (4. Dezember 2022) äusserte sich SGB-Präsident Yves Maillard abweisend mit der für einen Gewerkschaftschef erstaunlichen Begründung, dass Mindestlöhne und höhere GAV-Abdeckung in der Schweiz nicht mehrheitsfähig seien. Es gebe grossen Widerstand aus der Wirtschaft. Nachdem Notter sein Konzept im Online-Magazin «Republik» (13. März 2023) präsentiert hatte, schlug der SGB als grösster Gewerkschaftsbund gar eine Einladung aus, darauf zu reagieren. «Er wollte nichts sagen», musste Republik-Bundeshausredaktorin Priscilla Imboden eine Leserin enttäuschen, die gespannt eine Antwort erwartet hatte.

Adrian Wüthrich vom Dachverband Travailsuisse war immerhin gesprächsbereit. Im Interview mit der «Republik» taxierte er die Vorschläge aber lediglich als «sehr interessant» und «wünschenswert», relativierte sie aber zugleich. Sie würden die Gefährdung des Lohnschutzsystems nicht kompensieren. Durch die Übernahme der Entsenderichtlinie, die dynamische Rechtsübernahme und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs EuGH in Streitfällen drohe noch immer Gefahr. 

Gewerkschaften ignorieren sozialpolitische Wende bei Entsendungen

Die Gewerkschaften nehmen nicht wahr, dass die EU mit der neu revidierten Entsenderichtlinie eine Wende schafft. Die gewerkschaftsnahe deutsche Hans-Böckler-Stiftung würdigt sie als «weitreichende, marktkorrigierende Massnahme». Der von den Gewerkschaften vielgescholtene Europäische Gerichtshof EuGH distanzierte sich in seinem Grundsatzurteil vom 8. Dezember 2020 zur Stärkung der Rechte entsandter Arbeiternehmer selber offen von der früheren Entsenderichtlinie 96/71. Sie habe zu «ungleichen Wettbewerbsbedingungen zwischen in einem im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Unternehmen und Unternehmen, die Arbeitnehmer in diesen Mitgliedstaat entsenden» geführt.

Das Gericht beachtet neu das im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankerte Ziel des sozialen Schutzes und bekennt sich ausdrücklich zu einem Wettbewerb «unter faireren Bedingungen» statt zu schrankenloser Dienstleistungsfreiheit. Selbst der als EuGH-kritischer Experte bekannte Martin Höppner anerkennt: Der EuGH räumt jetzt dem Sozialschutz einen höheren Stellenwert ein.

SGB-Chefökonom Daniel Lampart blendet die sozialpolitische Wende in der Entsendepolitik aus. In seinem im Juli 2022 auf «Denknetz» erschienenen Artikel «Mehr Schutz und soziale Sicherheit in Europa» erwähnt er nicht einmal das eineinhalb Jahre vorher gefällte Grundsatzurteil des EuGH. Statt die dort festgehaltene sozialere Ausrichtung anzuerkennen, schürt er die Angst mit den Vertragsverletzungsverfahren, welche die EU-Kommission 2021 gegen 24 Mitgliedstaaten eröffnet hat. Dass sie als Hüterin der Verträge die Pflicht hat, sehr unterschiedliche Lohnschutzpraktiken im Binnenmarkt zu harmonisieren, wird verschwiegen. Auch dass viele Verfahren Verstösse auf Kosten von Arbeitnehmenden beheben wollen, bleibt unerwähnt.  

EuGH «gewerkschaftlicher» als Gewerkschaft

Der Europäische Gerichtshof EuGH steht bei vielen im Ruf, gewerkschaftliche Interessen gering zu schätzen. Die Urteile «Viking» (2007), «Laval» (2007), «Rüffert» (2008) und «Luxemburg» (2008) werden als Beleg angeführt. Das Gericht hatte gegen einen Streik und eine Blockade zur Verteidigung des nationalen Lohnniveaus, die Durchsetzung von Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen und strikte Lohnkontrollen entschieden. Es gewichtete auf der Grundlage der Entsenderichtlinie aus dem Jahre 1996 die Dienstleistungsfreiheit höher als die Interessen von Arbeitnehmenden in Finnland, Schweden, Deutschland und Luxemburg. Seither haben sich manche gesetzlichen Grundlagen geändert und mit ihnen auch Gerichtsurteile. Jüngst Ende letzten Jahres. Der EuGH rügte den ungenügenden Schutz von LeiharbeiterInnen in Deutschland. Gerügt hat er damit auch den Deutschen Gewerkschaftsbund, hatte doch dieser einen Tarifvertrag abgeschlossen, der laut EuGH gegen das Prinzip der gleichen Bezahlung von LeiharbeiterInnen verstösst. 

Die Positionen beim Lohnschutz verharren, wie sie seit Jahren sind. Er soll von der Dynamisierung im EU-Recht und dem Streitbeilegungsmechanismus ausgenommen bleiben, reagierte der von Adrian Wüthrich präsidierte Verband «Travail Suisse» auf die Ankündigung, dass Wirtschaftsminister Parmelin mit den Sozialpartnern Lösungen für die inländische Absicherung des Lohnschutzes suchen soll. Solange das nicht gewährleistet sei, mache eine Diskussion über konkrete Massnahmen keinen Sinn.

Bundesrat sucht Mittelweg

Noch ist die Lage blockiert. Die seit mehr als einem Jahr laufenden Sondierungen zwischen der Schweiz und der EU ziehen sich hin, auch wenn der Bundesrat Ende März erstmals Signale der Annäherung ausgesendet hat. Er will vorwärtsmachen, der EU aber noch Ausnahmen und Schutzklauseln abringen. Sie sollen über die im gescheiterten Institutionellen Abkommen vorgesehenen Sonderregeln zur Anmeldefrist, einer zeitlich begrenzten Entsendedauer und einer eingeschränkten Kautionspflicht hinausgehen. 

Die Kautionspflicht weniger eng definieren, die Lohnschutzkontrollen in bisheriger Form durch tripartite Kommissionen durchführen, die Kontrolldichte selber bestimmen und Schutzklauseln in besonderen Lagen scheinen diskutiert zu werden. Es geht um Massnahmen über die im EU-Recht vorgesehenen Instrumente hinaus, die nicht der dynamischen Rechtsübernahme unterliegen sollen. Der Bundesrat fordert – wie er im letzten Dezember in seiner «Lagebeurteilung Beziehung Schweiz – EU» erklärt hat – «Ausnahmen  als Sui-Generis-Bestimmungen», die in Streitbeilegungsverfahren «nicht der Auslegungskompetenz des EuGH unterliegen». Sie wären bilateral ausgehandelt und folglich völkerrechtlich abgesichert.

SVP-Bundesrat Parmelin in Schlüsselrolle – schon wieder

Ob die Schweiz mit Ausnahmeregelungen bei der EU durchkommt, ist offen. Auch innenpolitisch ist nichts entschieden. Pikant ist in jedem Fall, dass erneut Guy Parmelin als Vertreter der «Nein-EU-Partei» im Bundesrat europapolitisch die entscheidende Rolle zukommt. Vor zwei Jahren überbrachte er in Brüssel den Entscheid des Verhandlungsabbruchs, in den Parlamentsdebatten 2021 und 2022 versuchte er gegen die bürgerliche Mehrheit den Lohnschutz zu verteidigen – wenn auch ohne Erfolg. Jetzt soll er in weniger als 100 Tagen schaffen, was viele Jahre nicht möglich war: mit neuen Lohnschutz-Massnahmen die Blockade im Verhältnis zur EU beheben.

Warum nicht tun, was die Schweiz europapolitisch meist tut: mit der Übernahme der Mindestlohnrichtlinie und der neuen Entsenderichtlinie auch beim Lohnschutz den «autonomen Nachvollzug» europäischen Rechts wählen. Es würde zu einem Lohnschutz für alle statt für nur die Hälfte der Arbeitnehmenden führen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

EU_Schweiz

Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.