Sind die sagenhaften Leserzahlen wirklich wahr?
Lesen Sie in Ihrer Zeitung täglich 81 Prozent des gesamten Inhalts und das in einer Rekordzeit von 29 Minuten? Ich nicht. Doch der Verlegerverband Schweizer Medien wirbt mit diesen Zahlen – es seien sogar nur Durchschnittswerte.
Auch Fachleute wie der Medienwissenschaftler und Spezialist für visuelle Kommunikation Christoph Schütz glauben nicht an solche Zahlen: «Das kann nicht sein», sagt er und macht die Rechnung für seine Zeitung, die Freiburger Nachrichten. Pro Ausgabe enthalte sie um die 150’000 Zeichen redaktionellen Inhalt. «Bei einer geschätzten Lesemenge von 1700 Zeichen pro Minute, schafft man in einer halben Stunde lediglich etwa 30 Prozent.»
Leserschaft äusserst grosszügig definiert
Martin Voigt vom Verlegerverband Schweizer Medien verteidigt sich: Die Daten stammten von der Werbemedienforschung (WEMF) und seien fundiert und verlässlich. Allerdings heisst «Lesen» bei der WEMF das, was wir unter «Anschauen» verstehen.
Die WEMF fragt bei regelmässigen Leserinnen und Leser, wie viele Seiten einer Ausgabe sie jeweils nutzen: Alle oder fast alle Seiten, etwa drei Viertel, die Hälfte, einen Viertel oder weniger. Ein Blick auf eine Zeitungsseite, bei dem man sich einen Überblick über die Artikel verschafft, die man dort lesen könnte, genügt für das Kriterium «wurde gelesen».
Nicht nur die Zahl der angeblich gelesenen Seiten in einer Zeitung wirkt reichlich übertrieben. So behaupten die Schweizer Medien auch, dass 85,6 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer regelmässig gedruckte Publikation läsen.
Auch hier interpretiert die Studie den Begriff «lesen» äusserst grosszügig. Gefragt wird nämlich: Wie viele Ausgaben werden normalerweise gelesen oder durchgeblättert? Durchblättern gilt also bereits als Lesen. Und regelmässig heisst nicht «fast jede Ausgabe», sondern kann auch heissen «etwa jede zweite Ausgabe».
Reader’s Digest: Das Vorzeige-Printmedium
Weiter behaupten die Verleger: «Beliebte Printmedien werden mehr als 6-mal pro Ausgabe zur Hand genommen und über 64 Minuten pro Ausgabe gelesen.» Um welche beliebten Printmedien es sich dabei wohl handelt?
Es gibt nur ein einziges: Die monatlich erscheinende Zeitschrift Reader’s Digest Schweiz. Sie gehört mit 82’000 Leserinnen und Lesern zu den zehn kleinsten Magazinen, welche die WEMF bewertet und ist kaum repräsentativ für die Schweizer Medienlandschaft. Reader’s Digest enthält mehrseitige Geschichten und wird wohl deshalb 6,1-mal pro Ausgabe zur Hand genommen.
Eine weitere Werbe-Aussage der Verleger lautet: 77,5 Prozent der 14- bis 34-Jährigen werden mit Print erreicht. Nun muss man aber wissen: «Erreicht» ist ein Synonym für «lesen» und «durchblättern». Das Lesen und Durchblättern kann durchaus nur zweimal im Jahr erfolgen – und schon zählt man zu den «Lesern». Konkret legt die WEMF den Befragten bis zu 90 Zeitungslogos vor und fragt, welche dieser Zeitungen sie in den letzten sechs Monaten daheim oder auswärts gelesen oder durchgeblättert haben. Klar hat das fast jeder einmal: «20 Minuten» im Zug, den «Blick» vom Kollegen, den «Tages-Anzeiger», der irgendwo auf einem Küchentisch lag. Und vielleicht auch einmal die «NZZ», weil sich das gut macht.
Streit über WEMF-Zahlen
Die WEMF-Zahlen, welche der Verlegerverband als fundiert und verlässlich taxiert, sind immer wieder umstritten. Die WEMF gehört den Verlegern, den Werbe-Agenturen und den Werbe-Auftraggebern. Sie alle profitieren davon, wenn sie möglichst hohe Auflagen und Reichweiten ausweisen können. Keiner der Beteiligten hat ein Interesse daran, dass bei vertiefterem Nachfragen herauskommen könnte, dass eine Zeitschrift gar nicht wirklich gelesen wird und deren Anzeigen folglich auch nicht sonderlich gut wahrgenommen werden.
Die WEMF betont zwar, dass sie von einer Forschungskommission begleitet werde, welcher «namhafte Vertreter der universitären und angewandten Medienforschung angehören».
Geld für Leserforschung gekürzt
Handkehrum genügte es, dass die Verleger vor vier Jahren Druck machten, damit die WEMF einwilligte, 25 Prozent der Kosten für die Zahlenerhebung zu sparen. 2019 hat sie die Zahl der Interviews von 19’000 pro Jahr auf 15’000 verringert und wertet diese nicht mehr Jahr für Jahr aus, sondern nur noch über zwei Jahre hinweg. Die Werbeauftraggeber kritisierten die WEMF damals für die «Verwässerung» der Leserforschung.
Auch die Zuverlässigkeit der Antworten in den Umfragen wird immer wieder angezweifelt. So spottete Hermann Strittmatter von der Werbeagentur GGK über die Weltwoche, die bis 2003 noch im Zeitungsformat erschien, dass sie «die meist nicht-gelesene Zeitung» der Schweiz sei. Es gehörte vor der Jahrtausendwende zum guten Ton, die neuste Ausgabe auf dem Tisch liegen zu haben.
Heute dürfte die NZZ von diesem Phänomen profitieren: Bei Meinungsumfragen – und nicht zuletzt auch für die eigene Selbstbestätigung – macht es sich besser, sich daran zu erinnern, dass man auch schon mal einen NZZ-Artikel gelesen hat, statt zuzugeben, dass man am liebsten kurz die erste und die letzte Seite des Blicks anschaut.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Lesen sollte man nicht verwechseln mit BILD anschauen oder einen BLICK darauf werfen. Kunststück, diese Umfragen sollen Werbekunden beeindrucken. Viele Zeitungen tendieren eh hin zu Bilderbüchern (vergleiche Kinderalter) und «Leichte Sprache».
https://www.chur.ch/weitereinformationen
https://gesundheitsfoerderung.ch/news/kantonale-aktionsprogramme/einfache-sprache-ist-nicht-leichte-sprache
https://www.persoenlich.com/medien/jeder-10-erwachsene-schweizer-kann-nicht-lesen-269151/print
Spruch: «Last, not least – aber wer liest heute noch?»
https://www.blick.ch/life/familie/handy-statt-buch-jugendliche-lesen-immer-weniger-id8762381.html
Ordokrafie, Articoolation und Denkvermögen auf dem absteigenden Ast?
Es ist schade, dass die Verleger mit solchen Schummeleien an ihrem Ast, auf dem sie sitzen, sägen: Der Glaubwürdigkeit der Presse. Ich selber bin ein Fan von gedruckten Ausgaben und lese jeden Tag zwei Tageszeitungen. Dass die Werbeeinnahmen nicht mehr reichen, um Qualitätsjournalismus auf Papier zu liefern, ist eine Tatsache. Bedauern muss man das Wegbrechen dieser Einnahmequelle nicht unbedingt, weil so auch eine Abhängigkeit abnimmt. Wichtig für eine funktionierende Demokratie wäre, dass zur Kompensation in der Schweiz nun die Medienförderung rasch realisiert wird.