Kommentar

kontertext: Es gibt die Wahrheit. Es gibt Stolz. Es gibt Mut.

Nika Parkhomovskaia © zvg

Nika Parkhomowskaia und Inna Rozowa /  Wo bleibt die russische Opposition gegen Krieg und Putin?

Am 10. März 2023 veröffentlichte die berühmte russische Rocksängerin Zemfira, die sich derzeit im französischen Exil befindet und ein modernes, europäisch geprägtes Russland verkörpert, ihren neuen Song «Motherland». Der Hauptgedanke dieses Liedes ist, dass niemand gezwungen werden kann, sein/ihr Heimatland zu lieben. Unmittelbar danach wurde sie von «Patrioten», die eine totale russische Invasion der Ukraine unterstützen, als Verräterin beschimpft, und Parlamentsmitglieder forderten die Beschlagnahmung ihrer Moskauer Wohnung und ihrer zwei Autos.  

Nun ist die Forderung, denen, die den Krieg kritisiert und das Land verlassen haben, ihre Immobilien zu entziehen, keineswegs neu, und die schärfsten Propagandisten drohen auch damit, den Exilierten, die sich dem Regime weiterhin widersetzen, die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der besonders grimmige Ex-Präsident Medwedew versucht sogar, sie mit physischer Gewalt einzuschüchtern. 

Doch die russischen Journalisten, Künstler und Politiker, die sich inzwischen in der ganzen Welt niedergelassen haben, vertreten weiterhin ihre Positionen. Viele von ihnen wurden als «ausländische Agenten» bezeichnet, was bedeutet, dass sie automatisch in ihren sozialen und menschlichen Rechten eingeschränkt werden. Jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen oder etwa die Unterrichtung russischer Kinder via Zoom ist ihnen verunmöglicht. Viele von ihnen werden auch immer wieder in absentia mit Geldstrafen belegt oder wegen Diskreditierung der russischen Armee verurteilt. Das heisst: sie werden verurteilt, weil sie die Wahrheit sagen und nicht der offiziellen Linie des Kremls folgen. 

Nicht erst seit gestern

Diejenigen, die in Russland bleiben, befinden sich jedoch in einer viel gefährlicheren Lage. Jede Äusserung gegen den Krieg kann zur Verhaftung und zu Prozessen führen. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die Verfolgung wegen der Teilnahme an Versammlungen und Mahnwachen nicht erst heute begonnen hat, sondern bereits seit mehr als zehn Jahren stattfindet. Es gab in den letzten Jahren nicht nur die riesigen Protestkundgebungen gegen die gefälschten Parlamentswahlen im Jahre 2011, sondern auch Hunderte von anderen Demonstrationen, von denen am ehesten noch die Proteste gegen die neue Amtszeit von Präsident Putin anno 2012 in Erinnerung geblieben sind.

Diese Demonstrationen führten zu Verhaftungen und langjährigen Haftstrafen. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Justiz in Russland bekanntlich abhängig und ungerecht ist: Man kann leicht für etwas verurteilt werden, das man gar nicht begangen hat, und kein Anwalt kann einen in diesem Fall schützen. Die meisten Menschen in Russland haben wirklich Angst davor, verhaftet zu werden, denn die Polizei verhält sich sehr aggressiv, und jeder weiss, dass in russischen Gefängnissen Folterungen vorkommen, die zwar offiziell verboten, aber in der Realität weit verbreitet sind. Verhaftet zu werden ist gefährlich für Leib und – manchmal – Leben. Es bedeutet zumeist, unter sehr schlechten Bedingungen existieren zu müssen. 

In letzter Zeit haben die russischen Behörden begonnen, Kinder von ihren Eltern zu trennen: So haben die Medien viel über den Fall Alexey Moskalev berichtet. Der Arbeitslose aus einer Kleinstadt unweit von Moskau schrieb in den sozialen Medien gegen den Krieg, und seine 13-jährige Tochter malte ein Bild mit der Aufschrift «Kein Krieg». Die Lehrerin zeigte sie an, und nun befindet sich das Mädchen in einem Waisenhaus, während ihr Vater in Haft ist. 

Geld und Propaganda

Der Staat bestraft seine Bürger nicht nur, er provoziert sie auch. Und er erkauft sich Loyalität, indem er denjenigen, die am Krieg teilnehmen, hohe Gehälter zahlt – viele Menschen in Russland hatten nie die Möglichkeit, mit ehrlicher Arbeit so viel Geld zu verdienen wie nun mit Krieg. Die traurige Wahrheit ist, dass das Land in Arm und Reich gespalten ist, und einige Menschen ziehen aus Armut in den Krieg und nicht weil sie kriegsbegeistert sind oder etwas gegen die Ukraine haben. Um ihre Moral zu heben, setzen die Behörden massive Propaganda ein, auch in den nationalen Fernsehkanälen. Die Vorstellung, dass Russland ein altes, spirituelles Land sei, das die «wahren» Werte bewahre und gefährliche Feinde bekämpfen müsse, wird den Menschen erfolgreich eingepflanzt. Diese verrückten Ideen sind beliebt, denn leider ist Russland in seinem Kern immer noch sehr patriarchalisch. Während fast alle unabhängigen Medien geschlossen sind und Youtube als alternative Informationsquelle ständig Gefahr läuft, komplett verboten zu werden, sind die Menschen – vor allem diejenigen, die nicht in der Lage sind, selbst zu denken – bereit, jeden Unsinn zu glauben.

Die Macht des Faktischen

Alle Soziologen erklären jedoch, dass von denjenigen, die im Lande bleiben, mindestens 20 Prozent den Krieg nicht unterstützen. Wenn man bedenkt, wie gross Russland ist, bedeutet das, dass nicht weniger als 20 Millionen Menschen gegen den Krieg sind. Sie protestieren nicht unbedingt offen – sowohl aus Angst als auch aus dem Gefühl heraus, dass es absolut nutzlos ist –, schliesslich war in den Jahren der Putin-Regierung keine der Demonstrationen erfolgreich. 

Wer politische Situationen, wie sie heute in Russland herrschen, aus Erfahrung kennt, kann das verstehen. Der litauische Ex-Premierminister Andrius Kubilius beispielsweise, der fest an die demokratische Zukunft Russlands glaubt, sagt, dass selbst das freiheitsliebende Litauen sich nicht gegen das Sowjetregime stellen konnte, weil das System zu stark war. Dennoch finden die Menschen Mittel und Wege, um ihre Haltung zu aktuellen Ereignissen zum Ausdruck zu bringen. So begannen die Russen nach dem Bombenanschlag auf ein Gebäude voller Menschen im ukrainischen Dnipro, Blumen niederzulegen – zunächst an den Denkmälern, die mit der Ukraine in Verbindung stehen, und dann an Gedenkstätten, die mit politischen Repressionen im ganzen Land in Verbindung gebracht werden. Die Behörden versuchten, diese unschuldigen Aktionen zu verbieten und leiteten einige Verwaltungsverfahren ein, aber es entstanden immer wieder spontane Gedenkstätten. Mit Grund singt Zemfira in ihrem neuen Lied: «Es gibt die Wahrheit. Es gibt Stolz. Es gibt Mut.»

Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schneider 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Nika Parkhomowskaia ist eine russische Wissenschaftlerin, Kritikerin, Kuratorin und Theaterexpertin. Die Sprachforscherin und Kulturjournalistin Inna Rozowa hat für verschiedene russische Medien geschrieben. Beide leben seit 2022 in Westeuropa.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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3 Meinungen

  • am 16.03.2023 um 12:11 Uhr
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    Ich finde diesen Artikel in Infosperber äusserst einseitig. Um nur einige der vielen kritischen Fragen meinerseits zu nennen (im Gegensatz zu den Autorinnen darf ich nur 1000 Zeichen):
    Was tat «Zemfira» 2014 bis 2022, als in der Ost-Ukraine (die den Staats-Putsch nicht anerkennen wollte) etwa 15’000 Menschen (darunter viele Kinder, primär Russischsprachige – denen man zudem ihre Sprache verbot, was würde ein Welscher sagen, dem man in Lausanne sein Französisch verbietet) starben durch Beschuss der «neuen» U(SA)kraine-Regierung? Ich meine, was tat sie, ausser «zwei Autos» in Moskau zu besitzen, und «2015 während eines Konzertes in Tiflis eine ukrainische Flagge aus dem Publikum entgegenzunehmen und diese an den Mikrofonständer zu binden» (Zitat Wikipedia). Sagte «Zemfira» vor 2022 «Nein» zum Krieg innerhalb der Ukraine?
    CH-Politiker: https://pda.ch/2014/05/nazi-terror-in-der-ukraine/
    Was tut Westen mit Kritikern? https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/volksverhetzung-107.html

  • am 16.03.2023 um 13:17 Uhr
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    «Es gibt die Wahrheit. Es gibt Stolz. Es gibt Mut.» Ja, Wo bleibt dieser Mut bei der UNO? Der mutlose Generalsekretär pilgert zu Putin und lässt sich eine Bombe nach Kiew nachwerfen. Nach der Charta müsste Russland aus der UNO rausgeworfen werden, gesprochen wird mit Russland nur noch in Den Haag. Das wäre Mut!

  • am 16.03.2023 um 13:53 Uhr
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    Sosehr wie Russland sich gerade in Patriotismus und Weltkriegs-Propaganda vergräbt, so verlogen und kreuzgefährlich ist das Tolerieren von NATO und EU bei Neonazi-Tendenzen in der Ukraine und den baltischen Staaten. Wenn Selenski ganz offiziell einer Armee-Einheit den Namen deutschen Namen «Edelweiß» in Erinnerung an eine Wehrmachtstruppe verleiht, wenn ganz offiziell Boulevards und Parks nach üblen ukrainischen Nationalisten, Antisemiten, Nazi-Kollaborateuren und Massenmördern benannt, wenn Nazi-Symbole in ukr. Militäreinheiten ganz offiziell getragen werden dürfen und sich Ukrainer über die Minderwertigkeit von Russen und ihre Tierhaftigkeit ergießen, wenn in baltischen Staaten SS-Einheiten geehrt werden dürfen, wenn Watutins Denkmal niedergerissen wird, dann haben wir ganz ein anderes Problem als die russische «Mutter-Heimat»-Nostalgie. Das ist alles Wasser auf Putins Propagandamühlen und leider nicht zu Unrecht.

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