So erlebte ich die Blockaden und die Proteste in Peru
Red. Josef Estermann befindet sich auf einer vierwöchigen Reise durch die Andenländer. Heute berichtet er aus Peru, das sich seit bald drei Monaten in einer Staatskrise befindet. Unruhen haben bereits 69 Todesopfer und viele Verletzte gefordert. Estermann hatte während 17 Jahren in Peru und Bolivien gelebt und gearbeitet.
Machu Picchu geschlossen
Während sich zu normalen Zeiten täglich Tausende von Touristinnen und Touristen aus aller Welt in der ehemaligen Inka-Stadt Machu Picchu unweit von Cusco tummeln, bleibt die Ruinenstadt seit Wochen leer und verlassen. Die Bahnstrecke blieb lange Zeit blockiert, und in Cusco selber sieht man nur vereinzelt Besucherinnen und Besucher aus dem Ausland.
Ich fühle mich wie zu Beginn meiner Einsatztätigkeit anfangs der 1990er Jahre, als sich aufgrund des Terrors des «Leuchtenden Pfads» kaum Touristinnen oder Touristen in die Andenstadt wagten. Ich bin praktisch der einzige Weisshäutige, der von Tour-Guides, Restaurants und Hotels umworben wird. Zwar haben jetzt die Einheimischen die Stadt wieder für sich, aber der momentane Einbruch des Tourismus könnte für viele nach der kurzen Erholung seit dem Abflauen der Pandemie das endgültige Aus bedeuten.
Dabei stehen gerade jene, die am meisten von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind, hinter den Demonstrierenden. Es geht um die Würde und den Anspruch, gesehen und ernst genommen zu werden, auch wenn der Preis hoch ist. Fast siebzig Menschen haben den Protest gegen die Zentralregierung inzwischen mit dem Leben bezahlt, darunter auch Minderjährige und medizinisches Personal, das Verwundeten zu Hilfe eilen wollte. In über Dreiviertel der Fälle waren Projektile aus den Waffen der Sicherheitskräfte die Todesursache. Und dies hat die Wut und Entschlossenheit der Bevölkerung der Südanden noch weiter angetrieben.
Neben den Märschen nach Lima und in die grösseren Städte gehören die Strassenblockaden zu den häufigsten Mitteln, diese Wut und den Unmut gegen die politische Elite in Lima und ihre Steigbügelhalter auf dem Land kundzutun. Die Panamericana zwischen Lima und Arequipa war während Wochen gesperrt, und im Andenhochland zwischen Ayacucho, Cusco und Puno am Titicacasee lief überhaupt nichts mehr. Von Ecuador bis nach Lima schaffte ich es noch auf dem Landweg, aber von dort nach Cusco musste ich das Flugzeug nehmen. Die Weiterreise bis nach La Paz in Bolivien sollte sich als Spiessrutenlauf herausstellen.
Überall Steine und Baumstrünke auf den Strassen
Die etwa 300 Kilometer lange Reise von Cusco nach Juliaca konnte ich nur am Sonntag unter die Räder nehmen, weil dann eine Art „Waffenstillstand“ vereinbart wurde, damit sich die eigene Bevölkerung mit dem Nötigsten versorgen konnte. Die Blockaden wurden nur notdürftig weggeräumt. Immer wieder musste der Fahrer in einer Slalomfahrt die Gesteinsbrocken und Baumstrünke umfahren oder vorsichtig über noch zurückgebliebene Erdwälle hinwegsetzen.
In Juliaca waren am 19. Januar bei einer Auseinandersetzung zwischen Demonstrierenden und der Polizei in der Nähe des Flughafens und in der Stadt insgesamt 19 Menschen gestorben. Die Stadt sah denn auch wie eine Einöde aus: überall Teile von Blockaden, von abgebrannten Autoreifen, von Metallteilen und Graffiti an den Wänden, welche die Regierung und den Kongress als «Mörderbande» bezeichnen und fordern, dass «alle abdanken sollen» (que se vayan todos).
Beim Besuch von Freunden in Arapa unweit von Juliaca wurde ich einmal mehr mit der Entschlossenheit und dem Mut der Bevölkerung konfrontiert. Seit zwei Monaten liegt die Forellenzucht still; wegen den Blockaden können die Forellen nicht ausgeliefert werden. Und wenn dies doch möglich wäre, haben Restaurants und Hotels ihre Bestellungen wegen dem Ausbleiben von Touristinnen und Touristen storniert. Das Lager geräucherter und vakuumverpackter Forellen ist voll. Und doch meinte die Verwalterin der Zucht: «Ich unterstütze die Massnahmen der Bevölkerung, weil es um unsere Würde und um Gerechtigkeit geht.»
Sogar auf dem Titicacasee gibt es Blockaden
Die Fahrt durch die Stadt Juliaca im Auto von Bekannten gestaltete sich als regelrechte Irrfahrt, die dreimal so lange dauerte wie normal. Immer wieder mussten wir vor einer Versperrung zurücksetzen, weil die Piqueteros, also die mit Fahnen bewehrten Wächterinnen und Wächter der Blockade, niemanden durchlassen, nicht einmal ein Fahrrad. Auf der Fahrt von Juliaca nach Puno musste ich schliesslich kapitulieren und den Weg bis zum vereinbarten Treffpunkt zu Fuss zurücklegen. Zum Glück war ich per Rucksack und nicht mit Rollkoffer unterwegs.
Am schwierigsten aber sollte sich die Reise von Puno bis an die bolivianische Grenze gestalten. Diese Region ist das Land der Aymara, einem kämpferischen und widerständigen indigenen Volk, das sich über die Grenzen nach Bolivien und Chile erstreckt. Die peruanische Seite der Grenze war abgeriegelt, die Strasse dem Titicacasee entlang unpassierbar. Schliesslich nahm ich die Alternative per Schiff über den See bis zum Grenzdorf Kasani in Anspruch; Abfahrt morgens um halb Fünf. Nach fünf Stunden Fahrt meinte der Kapitän lapidar: «Auch auf dem See gibt es immer wieder Blockaden in Form von Fischerbooten, welche die Weiterfahrt mit Pfeilen und Steinschleudern zu verhindern versuchen.»
Der notdürftig angelegte Steg bei Kasani war Tags zuvor von den Demonstrierenden zerstört worden, sodass ich vom Schiff auf die Ufersteine springen und mich zu Fuss zum bolivianischen Zoll aufmachen musste. Ich war noch kaum je so erleichtert, endlich auf bolivianischem Boden zu sein, hatte ich doch die meisten Strassenblockaden nicht in Peru, sondern in Bolivien erlebt.
Präsident von der eigenen Vizepräsidentin verraten
Nach kaum anderthalb Jahren in der Regierung versuchte der peruanische Präsident Pedro Castillo am 9. Dezember 2022 den Befreiungsschlag, indem er in einem so genannten autogolpe (Selbst-Putsch) den Kongress auflöste. Doch wurde er von seiner eigenen Vizepräsidentin Dina Boluarte verraten und beim Verlassen des Regierungsgebäudes umgehend verhaftet. Castillo hatte als einfacher Dorfschullehrer aus den Anden im April 2021 die Wahl gegen Keiko Fujimori, Tochter des inhaftierten ehemaligen Staatspräsidenten Alberto Fujimori, knapp gewonnen.
Für die indigene und ländliche Bevölkerung war Castillo ein Hoffnungsträger, für die Elite in Lima und die traditionellen Parteien dagegen Ziel rassistischer Angriffe. Und der durch und durch korrupte Kongress legte ihm dauernd Steine in den Weg, bis Castillo schlussendlich darüber stolpern sollte.
«Sturm in den Anden»
So lautet ein Buchtitel des peruanischen Schriftstellers Luis Valcárcel. Nachdem Castillo festgenommen worden war und Dina Boluarte entgegen ihrem früheren Versprechen, in diesem Fall ebenfalls abzudanken, das Amt der Staatspräsidentin übernommen hatte, brachen in den südlichen Anden Perus die Unruhen aus. Die indigene Landbevölkerung fühlte sich einmal mehr von der politischen Elite der Hauptstadt Limas betrogen. Aber noch mehr erhitzte der «Verrat» von Dina Boluarte, einer quechua-sprachigen Rechtsanwältin aus den Zentralanden, die Gemüter. Dort kam es denn auch zu den ersten Toten als Folge einer erbarmungslosen Repression durch Polizei und Militär. Die Protestierenden wurden bald als «Terroristen» bezeichnet, was in Peru böse Erinnerungen an den schmutzigen Krieg gegen den «Leuchtenden Pfad» in den 1980er Jahren weckte.
Dabei geht es der indigenen Bevölkerung vom Land nur darum, gehört und ernst genommen zu werden. Castillo hatte dies getan, bis er selber Opfer seiner eigenen Unerfahrenheit und den Machenschaften der politischen Eliten wurde. Seit über 500 Jahren sind die Indigenen in Peru Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Die Aufstände in den Anden haben diesen Sachverhalt nochmals in aller Deutlichkeit vor Augen geführt: die Abgeordneten im Kongress in Lima sehen diese als «Wilde», «Rückständige», «Unzivilisierte» und «Terroristen».
Deshalb ging die neue Regierung von Dina Boluarte in aller Härte gegen die Proteste vor, die mehrheitlich friedlich verliefen und im Wesentlichen drei Forderungen aufstellten: die Abdankung der «Verräterin» Boluarte, die Auflösung des Kongresses und die baldige Einberufung von Neuwahlen. Dazu kommen von einigen Kreisen auch die Forderungen nach der Wiedereinsetzung von Castillo als Staatspräsidenten und der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung.
Zur jetzigem Staatskrise kam es nicht zufällig, gab es doch in den letzten sieben Jahren insgesamt sechs Präsidenten, von denen sich zwei in Haft befinden, zwei ins Ausland geflohen sind und einer sich einer Verhaftung durch Suizid entzogen hat. Der Kongress – also das Parlament – gilt als durch und durch korrupt und findet aktuell nur noch bei fünf Prozent der Bevölkerung Zustimmung. Die Abgeordneten möchten ihren Sitz aber um jeden Preis bis zu den ordentlichen Neuwahlen 2026 behalten, da sie ihre Pfründen und Schmiergelder im Zusammenhang mit der Neuaushandlung der Konzessionen an die Bergbauunternehmen – darunter Glencore – nicht verlieren möchten.
Keine Lösung der Staatskrise in Sicht
Vor drei Tagen hatte der Kongress in Lima beschlossen, die Entscheidung über die Vorverschiebung der Wahlen auf den Herbst dieses Jahres zu vertagen und erst in der nächsten Legislatur wieder zu behandeln. Dies ist einmal mehr Öl aufs Feuer der Demonstrierenden, die denn auch gleich eine Weiterführung der Massnahmen angekündigt haben. Die Präsidentin Dina Boluarte, die inzwischen noch zwölf Prozent Zustimmung in der Bevölkerung findet, scheint ihr Amt um jeden Preis behalten zu wollen, das sie nicht aufgrund von demokratisch abgehaltenen Wahlen innehat, sondern weil sie wegen der Verhaftung von Pedro Castillo nachgerückt ist.
Anscheinend setzt der Kongress sie unter Druck, im Amt zu bleiben, weil die Abgeordneten Neuwahlen verhindern wollen. Es könnte nämlich sein, dass alle wegen Korruption und Mitverantwortung am Tod von 69 Menschen im Gefängnis landen. Aber auch Neuwahlen würden im heutigen Moment keine Lösung bedeuten, da die Opposition keine wirkliche Alternative und integre Kandidatinnen und Kandidaten vorweisen kann. Viele sind der Ansicht, dass nur eine neue Verfassung wirklich einen Ausweg bieten kann, aber bis eine solche steht, dauert es Jahre, wenn sie denn überhaupt eine Chance hat, erarbeitet und gutgeheissen zu werden.
Im Moment könnte ein Amtsverzicht von Dina Boluarte und die Ausrufung von Neuwahlen Dampf vom Kessel nehmen. Derweil protestieren auf der bolivianischen Seite die Lastwagenfahrer, weil sie mit ihrer Fracht seit Wochen blockiert sind. Für mich aber ist jetzt der Weg nach La Paz offen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Vielen Dank für diesen Bericht.
Interview von el Salto mit Pedro Castillo aus dem Gefängnis.
https://amerika21.de/analyse/262732/castillo-ich-bin-der-praesident-von-peru
Ich habe mir erlaubt, diese sehr gute Berichterstattung in meinem Blog zu veröffentlichen (www.anderewelten.blog). Wir sind seit knapp 2 Monaten in Peru und erleben die politische Auseinandersetzung so, wie der Autor es beschreibt. Die korrupte Elite des Landes versucht mit allen Mitteln die Macht zu behalten. Was ihr wahrscheinlich (leider) mangels Alternativen gelingen wird. Castillo hat viele handwerkliche Fehler gemacht und war nicht sehr beliebt. Aber er war der hauptsächlich von Indigenen gewählte und aus ihren Reihen stammende Präsident! Hut ab vor der Abenteuerlust des Autors! Ich hätte diese Fahrten nicht gewagt. So haben wir zumindest einen Einblick in den inneren Zustand des in Aufruhr sich befindenden südlichen Teil des Landes. Den Bericht über Bolivien erwarte ich mit Spannung. Wo kann ich seine vorhergehenden Reiseberichte nachlesen?