Wer beim Thema Schweiz – EU mitreden möchte: Tipps
Das Verhältnis Schweiz – EU ist bekanntlich schwierig. Es dreht sich seit Jahren um die gleichen Themen wie Rechtsübernahme, Streitschlichtung, Lohnschutz, Rahmenabkommen. Die Schweiz beteuert zwar, sie wolle weiterhin den bilateralen Weg beschreiten und sogar weiterentwickeln. Doch gleichzeitig ist die Beziehung gestört und blockiert.
Und doch bewegt sich ewas, zumindest auf dem Büchermarkt. Ausserordentlich viel sogar. Vier Verlage gaben in vorweihnächtlicher Zeit gleich fünf neue Titel heraus. Drei legen den Fokus auf das Verhältnis Schweiz – EU, ein Buch richtet den Blick auf das grosse Ganze in Europa mit einem Seitenblick auf die Schweiz, das fünfte Buch schaut auf Europa und auf das Beziehungsdrama zwischen der Schweiz und der EU.
Von Plädoyers für den Beitritt….
In «Plädoyer für die EU – Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte» fordert der ehemalige EU-Korrespondent Martin Gollmer, was in der Schweiz nur noch eine kleine Minderheit sich vorstellen will. Entgegen allfälliger Verdächtigungen ist es aber keine Streitschrift für die «gute EU» oder gegen eine «selbstgefällige» Schweiz. Schwächen, Vorteile, Nachteile oder Schwierigkeiten werden beidseits minutiös offengelegt und zur Diskussion gestellt, bevor der Autor sein Beitritts-Plädoyer hält.
Die Rechtsgelehrten Matthias Oesch und David Campi von der Universität Zürich halten sich mit ihrer Schrift «Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union» gar nicht erst bei der Frage «Beitritt ja oder nein» auf. Sie beurteilen die Praxis der Schweiz, als Passivmitglied die Rechtsentwicklungen in der EU im Akkord nachzuvollziehen, als wenig attraktiv und schreiten deshalb gleich zu den Fragen, worauf sich die Schweiz auf dem Weg zum Beitritt bezüglich «Voraussetzungen, Verfahren, Ausnahmen, Staatsleitung, Volksrechte» einzustellen hätte.
…zu Rückblicken und heutigem Stand …
Pragmatischer geben sich die Co-Autoren Nicola Forster und das EU-Parlamentsmitglied Andreas Schwab in «Schweiz und Europa, eine politische Analyse». Sie blicken zuerst zurück in die Geschichte des Landes zwischen Mythen und Fakten bezüglich Souveränität, Neutralität und Sonderfall, befassen sich dann mit der Schweiz im Europa der Nachkriegszeit bis zu den Jahren im Zeichen des Bilateralismus und schliesslich des Scheiterns des Rahmenabkommens. Danach positionieren sich die Co-Autoren für einen «Swiss Deal», der dem gescheiterten Institutionellen Abkommen ähnlichsehen würde, sympathisieren aber auch mit einem Neuanlauf für eine EWR-Mitgliedschaft.
Nicht was kommen sollte, beschäftigt die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bern in ihrem Band «Schweiz – EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege». Sie beschreiben und analysieren die vielfältigen Beziehungen seit dem EWR-Nein. «Es ist kompliziert», was banal tönen mag, aber nicht ist. Was «kompliziert» bedeutet, wird in ihrer vielfältigen Komplexität unterschiedlichster Beziehungsmuster je nach Bereich aufgeschlüsselt. Ob Landverkehr oder Luftverkehr, Personenfreizügigkeit oder Kooperation im Rahmen des Schengen-Abkommens, jedes Mal ist es wieder anders. Aber auch innenpolitisch ist es kompliziert, gibt es doch mit der einzigen Ausnahme der Rechtsaussenpartei SVP keine Parteien, Verbände und auch nicht die Regierung, die europapolitisch eine verlässliche Linie fährt.
…zum Wunsch nach der Verschweizerung der EU
Nicht das Beziehungsdrama Schweiz – EU ist das Thema des Journalisten und ebenfalls ehemaligen EU-Korrespondenten Steffen Klatt in «Mehr Schweiz wagen, mehr Europa tun». Er malt das grosse Bild «Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch», diagnostiziert «Europas schöne Jahre sind zu Ende», stimmt das Loblied auf die direkte Demokratie und den Föderalismus seiner Wahlheimat Schweiz an und rät der EU zu mehr Schweiz. Würde es geschehen, verspricht sich der Autor für die Schweiz als Mitbringsel die Aussicht auf ein «wieder (…) normales Verhältnis zu Europa». Er glaubt, dass sie die Streitpunkte Zuständigkeit von Richtern des Europäischen Gerichtshofs oder die Zahl der Stunden, die sich Dienstleister aus dem Ausland voranmelden, hintanstellen könnte.
Rückt man den Blick über die Herbst-Bücherernte aufs ganze 2022, kommt noch der Titel «Das Schweizer Dilemma» des Journalisten Luzi Bernet und damit eines weiteren ehemaligen EU-Korrespondenten hinzu. «30 Jahre Europapolitik» ist sein Thema, also seit 1992, als das Schweizer Volk nach emotionalem Abstimmungskampf den EWR-Beitritt abgelehnt hatte. Er zeichnet das Wechselbad der europapolitischen Gefühle des Landes nach mit der «Wundheilung» und den «Jahren des stillen Glücks» der Bilateralen I nach dem «dimanche noir» des EWR-Absturzes im Jahr 1992 und schliesslich das verhandlungspolitische Durchwursteln bis zur Stunde null, als der Bundesrat in Brüssel den Verhandlungstisch ohne Plan verliess. Er präsentiert auch einige Lehren, welche die Schweiz aus dem «Drama um das Rahmenabkommen» ziehen könnte.
Sechsmal Schweiz und Europa auf zusammen mehr als 1500 Buchseiten. Manchmal ähneln sich die Sichtweisen, manchmal überhaupt nicht. Für den Abbruch der Verhandlungen ohne Plan B und das Klein-Klein schweizerischer Verhandlungsführung fehlt bei allen das Verständnis. Wie es weitergehen sollte, darüber gehen die Ansichten auseinander. Meist beschränken sich die Autoren aufs Beziehungsdrama Schweiz – EU. Was sich europäisch veränderte und sich abzeichnet, klingt in den meisten Fällen nur am Rande mit.
Je nach Interesse des Publikums ist das eine Buch empfehlenswerter als ein anderes. Will jemand mehr wissen über das Verhältnis Schweiz – EU oder will jemand den Blick darüber hinaus oder auf beides richten? Möchte jemand wissen, wie es zur Entfremdung zwischen der Schweiz und der EU kam? Interessiert mehr, was sich tun soll statt erklärt zu erhalten, wie es zur Blockade kam? Gibt es neue Impulse für die Entkrampfung des Verhältnisses Schweiz – EU? Will sich jemand durch spannungserzeugende Lesbarkeit in ein doch eher trockenes Thema verführen lassen? Antworten auf solche Fragen sind selbstverständlich nicht objektiv. In diesem Sinne hier ein paar subjektiv gefärbte Antworten:
Was spricht für welches Buch?
Zu den Titeln, die sich auf Schweiz – EU beschränken: Am spannendsten und attraktivsten getextet ist «Das Schweizer Dilemma» von Luzi Bernet. Er zeichnet nicht nur eingängig den Wankelmut der Schweiz nach, baut kleine erlebte Geschichten in die trockene Materie ein, macht klar, woran die Schweizer Europapolitik letztlich krankt. Welchen Weg die Schweiz europapolitisch einschlagen soll, dazu lässt sich der Autor nichts entlocken.
Wer wissen will, warum die EU gute Gründe hat, die Geduld zu verlieren, nehme sich das Buch der Co-Autoren Nicola Forster und Andreas Schwab vor («Schweiz und Europa, eine politische Analyse»). Auch wenn mit Schwab die Aussensicht spürbar ist, das minutiöse Nachzeichnen des Verhandlungsmarathons zum Rahmenabkommen genügt für die Einsicht, dass die Schweiz wenig Scheu zeigte, ihrem Ruf als verlässlicher Verhandlungspartnerin möglichst stark zu schaden. Wer in internationalen Verhandlungen die Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen will, findet hier reichlich Anschauungsmaterial.
Dass ein Beitritt der Schweiz nicht das Ende des Landes und seiner Eigenart bedeuten würde, erfahren die Leser im Buch der Europarechtler Oesch und Campi («Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union»). Die direkte Demokratie würde nicht beendet. Die Schweiz wäre in mancher Hinsicht beitrittsbereit und könnte um gewisse Sonderbehandlungen ringen. Aber umgekehrt ja, ein Beitritt würde vieles verändern. Was sich bei den Volksrechten, beim Regierungssystem sowie wirtschafts- und finanzpolitisch ändern würde und müsste, darüber gibt der Band präzise Auskunft. Die Schweiz könnte neu mitentscheiden über europäisches Recht, das sie heute nachvollzieht.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bern schauen genau hin, was sich in den 30 Jahren seit dem Nein zum EWR europapolitisch getan hat – in den verschiedensten Bereichen von Personenfreizügigkeit, Verkehr, Aussenwirtschaft, Landwirtschaft, Forschung bis Strom. Auch die Wankelmütigkeit der Politik, insbesondere der Parteien der Mitte und der Grünen, aber auch des Bundesrates zeichnen sie genau nach. Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die mehr wissen wollen über die themenspezifischen Beziehungen, als in der gängigen Medienberichterstattung Platz findet.
Wer sich zu einem Blick aufs grosse Ganze in Europa und darüber hinaus verführen lassen will, wird dafür in «Mehr Schweiz wagen, mehr Europa tun» reichlich bedient. «Amerika hat sich verabschiedet», «Europa bleibt allein zurück», «die Marktwirtschaft hat sich entwertet», sind ein paar Überschriften einer insgesamt düsteren Diagnose. An Eigenwilligkeit fehlt es dem Autor nicht. Mit grossem, zuweilen gar grossem Pinsel malt er ein Bild zu Europa «zwischen Aufbruch und Abbruch», angereichert mit schon fast heimeligen schweizerischen Zwischentönen.
Auch Martin Gollmer schaut in seinem Plädoyer für den EU-Beitritt über die Schweiz hinaus, zeichnet minutiös die Stärken und Schwächen der europäischen Integration nach («Plädoyer für die EU – Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte»). Er zeichnet kein Wunschbild, wie Europa-Skeptiker den EU-Befürwortern oft gebetsmühlenartig vorhalten. Er informiert kenntnisreich und trotzdem leicht verständlich, bietet einen breiten Überblick über die sich stellenden Probleme und Fragen in der EU und im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU. Ergänzend hätte ich mir einen zeitgeschichtlich eingebetteten «Pinselstrich» über die Entwicklung der EU in den letzten Jahren gewünscht. Denn die EU ist heute in vielem sehr anders als vor dem grossen Finanzcrash in den Jahren 2008/09.
Was erst noch kommt
Mehr gedrängt als gewollt scheint die EU ihrem Namen gerecht werden zu wollen und sich zu einer politischen Union zu entwickeln. Finanz-, wirtschafts-, energie-, klima-, industrie- und neuerdings selbst verteidigungspolitisch macht sie sich auf den Weg zu mehr Autonomie, oder wie es im Jargon von Brüssel heisst, zu strategischer Autonomie. Erste Schritte sind getan, seit Mario Draghi im Jahre 2012 als Chef der Europäischen Zentralbank mit «What ever it takes» den Euro gerettet hat. Inzwischen gilt die Parole weit über die Einheitswährung hinaus. Will die EU geopolitisch nicht noch tiefer absteigen, hat sie gar keine andere Wahl. Sollte sie die Parole für strategische Autonomie politisch umsetzen, wird es für die künftigen Beziehungen zur Schweiz mehr Folgen haben, als uns lieb sein könnte. Es wird Stoff hergeben für weitere Publikationen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wer wissen will, wie es «zur Entfremdung zwischen der Schweiz und der EU kam», muss keine dicken Bücher von «EU-Fachleuten» lesen, die allesamt dem einseitig übergriffigen (und darum zum Glück im Papierkorb des Bundesrats entsorgten) «Rahmenabkommen» nachtrauern. Beide Seiten – die Schweiz und die EU – haben objektiv gemeinsame Interessen (Forschung, Strommarkt, Verkehr, Produktenormen usw.). Dies schlug sich lange in vernünftigen Verhandlungen und entsprechenden Verträgen(Bilaterale I und II) zum Nutzen beider Seiten nieder. Bis EU-Funktionäre anfingen, diese Verhandlungen für ihren politischen und juristischen Machtanspruch in Richtung Bern zu missbrauchen. Sie griffen gar zu sachfremden Erpressungen (Börse, Bildung, Medtech) und weigerten sich generell, die guten Verträge weiter zu entwickeln. Damit schaden sie vorab vielen Menschen, Hochschulen und Firmen in der EU selbst. Diese haben «gute Gründe, die Geduld mit Brüssel zu verlieren» – unser Bundesrat erst recht. So ist das.
Drei von den hier erwähnten sechs Büchern sind von ehemalige EU-Korrespondenten geschrieben. Bei einem ist ein deutscher EU-Parlamentarier Co-Autor und die übrigen zwei sind von Akademikern der Uni Bern und Zürich geschrieben. Dass diese Autoren EU-lastig sind, erstaunt nicht. In Wirklichkeit, d.h. in der Praxis, funktioniert unsere Beziehung zur EU sehr gut. Economiesuisse schrieb anlässlich des 40. Jubiläums des Freihandelsabkommens mit der EU: «Die Wirkung des Freihandelsabkommens ist auch nach 40 Jahren allgegenwärtig: Jeden Tag passieren Waren im Wert von 1 Milliarde Franken die Grenze zwischen der Schweiz und der EU.» Das ist heute immer noch so. Übrigens profitiert die EU von einem grossen jährlichen Handelsbilanzüberschuss mit der Schweiz (2020: CHF 12,1 Mia.). Die Nadelstiche der EU gegen die Schweiz (Horizon, Börsenanerkennung, etc.) sind lästig, aber nicht existenziell wichtig. Wichtiger ist die Bewahrung unserer Souveränität, der direkten Demokratie und der Neutralität.
Wenn van der Leyen Gessler spielen will, soll sie das versuchen. Das ist aber noch kein Grund, bis nach Wien zu ziehen, um die Habsburger in Wladiwostok zu besiegen…
Habe ich die geschichtliche Bodenhaftung verloren ? Wahrscheinlich.
Aber der EWR – den ich unterstützt hatte – hätte in der Schweiz das «aus» der kantonalen Gebäudeversicherungen, aber wohl auch der Kantonalbanken gefordert.
EU hat ein Problem mit der Demokratie, aber auch mit elementarem ökonomischen Pragmatismus.
Wie kann man «Erasmus», «Horizon …», mit Munitionslieferungen in Kriegsgebiete verbinden ?
Es gibt vereinzelte Lichtblicke in der EU-Politik. Aber ich bin wohl zu alt, um Hoffnung auf eine Beziehung CH-EU auf Augenhöhe zu erwarten.
Ein Freund hat mal ein Buch geschrieben «Warum sie so arm sind». In Bezug auf die EU möchte ich anfügen «warum sie so dumm (unbedarft) sind ?»
Nur weil sie den Mehrwert in der CH absahnen möchten ?
EUSA – die EU entstand auf Initiative der USA. Chronologie/Quellenangaben im Buch «Fremdbestimmt» von Thorsten Schulte (Spiegel-Bestsellerautor).