Kommentar
Schiene Strasse Stadt und etwas Land
Nachdem ich letztes Jahr wiederum bis in den Herbst hinein einen langen Sommer in Spanien verbracht hatte, fiel mir bei meiner Rückkehr nach Bern sofort auf, dass sich die gewohnt zahlreichen Baustellen überall in der Stadt vermehrt haben, dass die Autos wieder grösser und die Menschen in den Strassen und auf Plätzen zahlreicher geworden sind.
Dass es sich dabei um subjektive Eindrücke handelt, versteht sich von selbst.
Trotzdem dachte ich später immer mal wieder: Mein Gott sind diese Autos vielleicht schwer und gross. Eigentlich eine Entwicklung, deren Verhältnisblödsinn man der Lächerlichkeit preisgeben müsste, wäre da nicht die tragische Realität der knapper werdenden Ressourcen. Noch fällt mir auf der Gasse ab und zu auf, dass viele dieser Geländewagen mittlerweile eigentlich viel zu breit sind für die vorgegebenen Parkfelder, aber bitte, was solls?
Auch daran, dass die Touristenströme nicht nur zurück sind, sondern im Vergleich zum vorpandemischen Ausmass zugenommen haben, wenn vielleicht auch in leicht anderer Zusammensetzung, gewöhnte ich mich schnell. Sicher ist, so viel Französisch und Italienisch wie in den letzten Wochen habe ich unter Berns Lauben in meinem Leben noch nie gehört. Auch diese Beobachtung muss nicht unbedingt als gesicherte Wahrheit betrachtet werden, ich weiss sie sehr wohl einzuordnen. Dennoch beschäftigt mich die Tatsache, dass ich mich nicht erinnern kann, vor dem Zeitglockenturm je so viele «Fremde» gesehen zu haben, wie dies während der vergangenen Festtage der Fall war. Besonders mittags, wenn mit den zwölf Schlägen das mittelalterliche Glockenspiel etwas länger dauert, standen sie dort so zahlreich und dicht, dass es auf dem Fahrrad kein Durchkommen mehr gab. Auch der Bus schaffte das nur dank seinem komischen Piepsen, das längst kein Hupen mehr ist, eher ein tierisches Fiepen, wohl um die lieben Leute beim Knipsen ihrer Selfies nicht zu erschrecken.
Keine subjektiven Eindrücke sind dagegen die Beobachtungen, die ich bei meinen ersten Spaziergängen ausserhalb der Stadt gemacht habe:
Die berühmte «Hüslischweiz» von Benedikt Loderer verwandelt sich vielerorts langsam aber sicher in eine «Blöcklischweiz». Während auf Anhöhen, die eine gewisse Aussicht bieten, die Einfamilienhäuser und die in allerlei architektonische Experimente integrierten Luxuswohnungen mehr oder weniger geschmackvoll weiterwuchern, stehen verkehrsnah in den unteren Lagen unübersehbar zunehmend frisch erstellte Mehrfamilienhäuser mit Blockcharakter. Echt schweizerisch, sind sie meist nur von beschränkter Grösse. Richtig geklotzt wird offensichtlich selten, aber gebaut wird überall. Und zwar heute und morgen, denn dort, wo sich in den Bauzonen der bis in die Voralpen hineinreichenden Siedlungsgebiete noch Lücken zeigen, dort stehen jetzt Bauprofile. Man sieht sie vom Zug aus und man sieht sie im Vorübergehen und sie sind so zahlreich, dass es schmerzt.
Nun muss diese Tatsache hier nicht gewertet werden, eigentlich zeugen diese Wälder von Bauprofilen sogar davon, dass alles konform mit dem Raumplanungsgesetz abläuft und ja, kein Wunder fehlt es bei dem Tempo, mit welchem die Bevölkerung wächst, vielerorts an Wohnraum. Menschen müssen hausen und brauchen nun mal ein Dach über dem Kopf.
Dass aber in den Medien vor dem Hintergrund einer bis in die hinteren Täler hinein gnadenlos zersiedelten und zugebauten Schweiz weiter von Stadt und Land geredet wird, will mir nicht in den Kopf.
Ganz besonders anlässlich der Bundesratswahlen wurde dieses längst überholte Begriffspaar groteskerweise wieder und wieder bemüht, dabei ist «Land» längst kein tauglicher Gegenbegriff mehr zu «Stadt». Einerseits gibt es zwar keine Stadt ohne das Land, denn das Fressen kommt bekanntlich vor der Moral, und woher würde es kommen, wenn nicht vom Land? Andererseits sind Stadt und Land in der ehrbaren Schweiz, was die Bevölkerung und ihr Verhalten betrifft, so gegenseitig durchdrungen, dass sie kaum mehr auseinanderzuhalten sind. Wer einmal von einem Hügel aus abends, wenn sich die Lichter des Verkehrs zeigen, verfolgt hat, wie das rumschwirrt und irrlichtert auf sämtlichen Strassen so weit das Auge reicht, sieht kaum, was man eine einheitliche Stadt nennen würde, sondern eher die flächendeckende Emsigkeit eines Ameisenhaufens, ganz bestimmt aber nicht das, was man gemeinhin unter «Land» verstehen könnte.
Jene Sesshaftigkeit, die der Begriff «Land» suggeriert, die gibt es noch in ein paar sehr abgelegenen Tälern und im Sommer auf jenen Alpen, die mit Vieh bestossen werden. Aber sonst? Die sogenannten Landbewohner, die noch dort wohnen, wo sie wirken und werken, sind schnell gezählt. In Wirklichkeit stehen vor dem Haus, hinter welchem vielleicht ein halbes Dutzend Schwarznasenschafe weiden, mindestens zwei jener eher schweren Personenwagen, die sich in den Städten so auffallend breit machen.
Selbstverständlich gibt es quer durch alle Landesteile Gebiete mit sehr unterschiedlichen Besiedlungsformen. Selbstverständlich herrscht in diesen unterschiedlichen Gebieten auch ein unterschiedliches Selbstverständnis mit einem entsprechenden Wahlverhalten, da besteht kein Zweifel, aber wer diese Gebiete weiter in Stadt und Land aufteilen will, riskiert, den Blick für den wahren Zustand unserer Siedlungsgebiete zu verlieren.
Ausgedient hat auch die Gegenüberstellung von Stadt und Kanton, das heisst, von städtischen und ländlichen Kantonen. Was würde der zunehmende Verkehr zwischen diesen denn zeigen, wenn nicht die Tatsache, dass sich Stadt und Kanton nicht mehr trennen lassen?
In Wirklichkeit ist in der Schweiz das Land verschwunden und an seiner Stelle ist eine neue Stadt entstanden. Diese Stadt hat Räder und ist zeitweise eine Millionenstadt. Sie ist mobil und jederzeit in Fahrt. Die ganze Schweiz ist supermobil, sowohl auf der Schiene wie auf den Strassen. Und jeder und jede gibt Gas!
Entsprechend haben viele von uns auch längst einen weiteren Wohnsitz. Es ist nicht lange her, dass ich hörte, wie jemand, nach seinem Wohnort gefragt, zwei ziemlich weit auseinanderliegende Städte nannte. Wir wohnen da und dort, sagte er, worauf seine Partnerin hinzufügte: Ja, da und dort und im Auto.
Die gute Frau hatte etwas ausgedrückt, was für viele andere auch zutreffen dürfte.
All ihrem Gerede um die Klimakrise zum Trotz wohnen immer mehr Leute immer länger im Zug oder in ihrem Auto.
Es gibt auch Züge die komfortabler werden, aber vor allem im Auto lässt es sich immer besser wohnen: Die kompakte Polstergruppe im neuen Wagen ist wahrscheinlich ergonomischer als diejenige zuhause vor dem Fernseher, und auch die Tonanlage klangmässig möglicherweise auf potenterem und modernerem Stand als die schon in die Jahre gekommenen Geräte in der obligaten Bücherwand.
Und gut vernetzt ist man unterwegs in der Regel sowieso.
Also: Drei Stunden pendeln pro Tag, was für viele keine Seltenheit ist, macht bei einer Fünftagewoche 60 Stunden im Monat, also ungefähr drei Wochen im Jahr.
Wenn man da nicht von einem weiteren Wohnsitz in einer neuen Stadt reden darf? Es gibt Leute mit Zweitwohnsitzen, in welchen sie weniger Zeit als auf diesem Pendeln verbringen.
Die Frau hatte schon recht: Wo immer man sich zuhause glaubt, man ist vor allem immer öfter unterwegs, und nur sehr, sehr wenige sind ab und zu noch wirklich auf dem Land.
Wer das nicht sehen will, würde auch den Elefanten auf dem Küchentisch nicht sehen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Beat Sterchi ist freier Autor. Vor «Capricho» (Diogenes 2021) veröffentlichte er die Reisereportage «Going to Pristina» (essais agités 2018) und den Lyrikband «Aber gibt es keins» (Der gesunde Menschenversand, 2018). www.beatsterchi.ch
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Gleiche Diagnose vor 50 Jahren: ‹ Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder.› Oder, noch früher (1966): ‹Là dove c’era l’erba ora c’è … una città› (Il ragazzo della Via Gluck, Adriano Celentano). Die Triebfedern sind noch ungebrochen, der Prozess kommt wohl erst zum Stillstand wenn der Teich ganz zugewachsen ist. Mit der Suffizienz tut sich der Mensch (wir alle) unendlich schwer.
Lieber Namensvetter, ich bin seit 1989 – nicht ganz freiwillig – Landbewohner. Ich geniesse die frische Luft und den schnellen Zugang zum Wald, zu den Feldwegen und zu den Flüssen. Im Gegensatz zu den meisten im Dorf besitzen wir nur ein Auto, einen Kleinwagen. Auch ich bin jedes Mal überrascht und wegen der fetten Autos entsetzt, wenn ich als Pensionär zwei bis fünf Mal im Monat eine Stadt betrete, zumal meine frühere Berufs-Tätigkeit (Verlagsvertreter) sich hauptsächlich in Städten abspielte. Auch ich halte den Gegensatz zwischen Stadt und Land, der in letzter Zeit von den Medien und einer Partei hoch gehalten wird, für konstruiert. Andererseits frage ich mich, ob eine Flüchtlingsfamilie aus dem Kosovo in einer städtischen Umgebung das Gleiche erfahren hätte (bis hin zum Mord an der Ehefrau) wie hier bei uns auf dem Dorf, wo die Behörden hilflos und gleichzeitig rigide ins Leben der Familie eingriffen. Herzliche Grüsse Beat Eberle
Es sind diese Gedanken die ich auch schon gefühlt und auch angedacht habe.In dieser Fülle zu lesen hinterlässt es einen dumpfen Schmerz bei mir, den man nicht mit Ablenkung und beruhigenden Getränken in den Griff bekommt.Ein Zustand der keinen anderen Gedanken für langeZeit zulässt!
Ja Herr Sterchi, absolut einverstanden, habe ihre Einwände alle auch schon bemerkt. Es ist gut, dass es wieder einmal gesagt wird.
Danke, Beat Sterchi, genau diese Gedanken gingen auch mir durch den Kopf, als rund um die Bundesratswahl wieder einmal der angebliche Stadt-Land-Graben politisch durchgehechelt wurde. Je weniger von diesem Graben übrig bleibt, desto grösser wird er aufgeblasen, damit man neben dem Ausländerproblem notfalls auf ein zweites ausweichen kann…
Drei Stunden pendeln ist sehr wohl eine Seltenheit: Gemäss BFS beträgt der durchschnittliche Zeitbedarf für den Arbeitsweg 29 Minuten, hin und zurück also eine knappe Stunde. Gerade mal 8% der Pendler sind mehr als 60 Minuten pro Weg unterwegs.
Wenn Ihnen, lieber Herr Sterchi, nicht in den Kopf will, dass medial von Stadt und Land geredet wird, könnte es ja auch am Kopf liegen… wie schon der erwähnte Benedikt Loderer sagte: «mir müesse nume ds Oberstübli nöi vermässe» (Das geplante Chaos – Raumplanung als Hoffnung, Selbstbetrug, Lebenslüge, https://www.srf.ch/play/tv/redirect/detail/f3981781-5dc1-4858-99f4-d6ab38538460?startTime=1874)
Die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik:
79% der Erwerbstätigen waren Ende 2021 Arbeitspendlerinnen und -pendler, also Personen, die zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes ihr Wohngebäude verlassen. Die Distanz eines Pendelweges von Zuhause aus zur Arbeit beträgt durchschnittlich 13,6 km. Fast ein Drittel aller Pendlerinnen und Pendler braucht für einen Arbeitsweg mehr als eine halbe Stunde.
Vielen Dank für die ergänzenden Daten, lieber Herr Gasche. Diese sind natürlich völlig korrekt, ändern aber nichts an der Tatsache, dass die Aussage «Drei Stunden pendeln pro Tag, was für viele keine Seltenheit ist…» ein stark verzerrtes Bild der Pendlerrealität in der Schweiz erzeugen. Infosperber legt ja immer wieder Wert auf eine ausgewogenen Darstellung und versucht Übertreibungen und Skandalisierungen zu vermeiden.
Zur Ergänzung der subjektiven Eindrücke von Beat Sterchi hier noch der Hinweis zur objektiven Stadt/Land-Typologie des BFS: https://www.atlas.bfs.admin.ch/maps/13/de/12362_12361_3191_227/20389.html. 53% der Gemeinden mit 60% der Fläche werden als «ländlich» klassifiziert…