Wissenschaftler erkaufen sich Karriere auf Social Media
Wer als Autorin oder Autor auf einer wissenschaftlichen Publikation fungiert, muss einen substanziellen Beitrag zu dieser Arbeit geleistet haben – oder einfach Geld überweisen.
Auf Facebook, Telegram und einschlägigen Websites werden solche Deals angeboten: Geld gegen Autorenschaft. Mindestens 600 Inserate für diese Gegengeschäfte fand der britische Ingenieur Nick Wise auf zwei Telegram-Kanälen. Die russische Wissenschaftlerin Anna Abalkina berichtete von über 2300 solchen Angeboten auf der Website von «International Publisher LLC» im März 2022.
«Ein grosses Geschäft» sei das, von immer raffinierteren Anbietern betrieben, zitiert das Wissenschaftsmagazin «Nature» Deborah Kahn vom «Committee on Publication Ethics», das vor allem Wissenschaftsverlage vertritt und sich seit 25 Jahren für Lauterkeit bei wissenschaftlichen Publikationen einsetzt.
Angeblich schon 20’000 Kunden bedient
Abalkina zufolge können Interessenten für 180 bis 5000 Euro zum Beispiel bei «International Publisher LLC» aus einer breiten Palette an Angeboten wählen, ob sie Erstautorin oder -autor oder bloss Ko-Autor sein möchten (das ist preiswerter), welches Thema die wissenschaftliche Arbeit abhandeln und wann sie erscheinen soll.
«International Publisher LLC» erledigt den Rest, sobald das Geld überwiesen ist. Etwa 20’000 Personen seien bereits bedient worden, behaupte «International Publisher LLC», der von allen Beteiligten strikte Vertraulichkeit verlangt.
Die unlauteren «Autoren» befördern damit ihre Karriere. Denn an vielen Universitäten ist dafür noch immer die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen massgebend. Wer viele Studien veröffentlicht, die möglichst oft wieder von anderen zitiert werden, hat grössere Chancen, Forschungsgelder zu erhalten, wird eher befördert und erhält mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Stelle als Chefärztin oder als Professor.
Käufer auch in der Schweiz
Allerdings machen sich die unlauteren Autorinnen und Autoren unter Umständen erpressbar, sollte das Ganze einmal auffliegen. Von 2019 bis Mitte März 2022 verkaufte «International Publisher LLC» laut eigenen Angaben 5961 Autorenschaften.
Anna Abalkina ging rund 1000 dieser dubiosen Angebote nach. Die Kunden – über 800 Personen an mehr als 300 Universitäten – kamen aus insgesamt 39 Ländern. Der Rekordhalter erschien auf 22 wissenschaftlichen Arbeiten als Ko-Autor, ergaben Abalkinas Nachforschungen, die sie Ende Dezember 2021 auf einem Pre-Print Server deponierte und später aktualisierte.
Sechs Autorenschaften wurden ihr zufolge in die Schweiz verkauft, 2971 gingen nach Russland, 589 nach Kasachstan, 432 nach China, 125 in die Ukraine und 116 in die Vereinten Arabischen Emirate.
Fokus neuerdings auch auf namhafte Zeitschriften
Abalkina verglich die Angebote auf der Website mit später tatsächlich publizierten Fachartikeln. Bei fast jedem Angebot auf der Website wird das Thema des Manuskripts genannt, die Anzahl der Co-Autoren, das ungefähre Publikationsdatum und weitere Details. Mit diesen Informationen suchte Abalkina die entsprechenden Fachartikel.
Bei bisher 460 Studien oder anderen wissenschaftlichen Publikationen stimmten mehrere Details so gut mit den Inseraten überein, dass sich der starke Verdacht aufdränge, dass sich mindestens ein Autor über «International Publisher LLC» eingekauft hat. Seit Herbst 2020 habe «International Publisher LLC» verstärkt versucht, die «Autoren» in namhaften wissenschaftlichen Zeitschriften zu platzieren.
Obwohl Abalkina ihre Arbeit bereits vor über einem Jahr auf dem Pre-Print Server «arXiv» veröffentlicht hat, ist sie noch nicht wissenschaftlich begutachtet worden – sorgt aber trotzdem für Wirbel, auch in angesehenen wissenschaftlichen Verlagen.
Seit Mai 2022 hat der Springer Nature Verlag 12 Fachartikel zurückgezogen, weil der Verdacht besteht, dass sich Autoren «eingekauft» haben. Weitere Ermittlungen seien im Gang, teilte «Nature» mit.
Im Juli 2022 zog das «International Journal of Emerging Technologies in Learning» 30 angeblich wissenschaftliche Fachartikel zurück, weil sie verdächtige Ähnlichkeiten mit Inseraten auf der Website von «International Publisher LLC» aufwiesen.
Das «Journal of Alloys and Compounds» zog im November eine Arbeit zurück, für die auf einem iranischen Telegram-Kanal gegen Bezahlung die Autorenschaft angeboten wurde.
«Schwierig zu beweisen»
Einem Fachmann bei «Springer Nature» zufolge sind die Fälschungen «schwierig zu beweisen». Die Dunkelziffer könnte weit höher sein, vermutet Anna Abalkina, die am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin arbeitet und darum den Fokus auf Länder wie Russland richtet.
Im Jahr 2012 habe der russische Präsident Wladimir Putin per Dekret verfügt, dass der Anteil russischer Publikationen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften steigen soll und mindestens fünf russische Universitäten bis zum Jahr 2020 zu den Top 100 weltweit gehören sollen, berichtet Abalkina. Das habe den Publikationsdruck erhöht.
Das Problem werde zunehmen, ist Anna Abalkina überzeugt. «Wir jagen sie – und sie sind immer einen Schritt weiter.»
«Seinen Namen unter eine Analyse zu setzen, wenn man die Daten nicht gesehen hat, ist Wissenschaftsbetrug» – der Fall «Surgisphere»
Auch in westlichen Ländern ist die unverdiente Co-Autorenschaft seit Jahrzehnten ein häufiges Übel. In manchen Stichproben stand auf etwa jeder dritten wissenschaftlichen Arbeit ein Autor oder eine Autorin, die nur ehrenhalber zu dieser Autorenschaft gekommen war, nicht aber, weil sie substanziell etwas zur Publikation beigetragen hatte.
Ein prominentes Schweizer Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Klinikdirektor der Herzklinik am Universitätsspital Zürich Frank Ruschitzka. Der Professor fungierte als Co-Autor auf einer vielbeachteten Studie, die im Mai 2020 mit grossem Trara in «The Lancet» publiziert wurde – und zwei Wochen später zurückgezogen werden musste.
Unabhängigen Wissenschaftlern sprangen die Unstimmigkeiten, unglaubwürdigen Angaben und groben Fehler in dieser Studie damals förmlich ins Auge. Den drei Co-Autoren hingegen, darunter eben der Leiter des Zürcher Herzzentrums, waren sie entgangen.
Als Kritik aufkam, weigerte sich die Firma «Surgisphere», welche die Daten für diese Studie angeblich zusammengetragen hatte, diese für eine unabhängige Überprüfung herauszugeben.
Die Co-Autoren mussten eingestehen, dass sie nicht in der Lage seien, die Primärdaten von «Surgisphere» zu überprüfen – obwohl das Universitätsspital Zürich anlässlich der Publikation der Studie in der Pressemitteilung behauptet hatte: «Das Forschungsteam um Mehra und Ruschitzka führte die Studie unter Verwendung der Surgical Outcomes Collaborative-Datenbank durch.»
Wie es «Surgisphere» – laut der «NZZ» eine Firma «mit nur einer Handvoll Mitarbeiter» und ohne Experten für Statistik oder Biomedizin – geschafft hatte, innert Kürze Daten von über 96’000 Patienten zu beschaffen, blieb ein Rätsel – doch auch diesbezüglich schöpften die Co-Autoren offensichtlich keinen Verdacht.
Zwar ist nicht bekannt, dass damals Geld geflossen ist. Doch: «Seinen Namen unter eine Analyse zu setzen, wenn man die Daten nicht gesehen hat, ist Wissenschaftsbetrug», urteilte eine Fachfrau gegenüber dem «British Medical Journal». Und der britische Wissenschaftler Tom Jefferson stellte fest: «Die Geschichte wiederholt sich.» Schon über ein Jahrzehnt zuvor hätten er und seine Kollegen vor Themen wie Gastautorenschaft gewarnt.
Der Zürcher Chefkardiologe kam glimpflich davon: Die Universität Zürich ermahnte ihn, bei Publikationen künftig sorgfältiger zu sein und verknurrte ihn zu 30 Stunden unentgeltlicher Arbeit am universitären «Kompetenzzentrum für die Reproduzierbarkeit und Qualität wissenschaftlicher Resultate».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für den hervorragend recherchierten Artikel. Dass in den Wissenschaften wie in jedem anderen Bereich betrogen wird, ist nicht verwunderlich. Das Problem falscher Anstellungen liegt oft auch daran, dass die Anstellungsgremien ihrer Verantwortung nicht genügen.
Und dann heißt es: «The science is settled»™