SRF vs. ARD: Was Netanyahu mit seiner Justiz-Reform will
upg. Sowohl die Abend-Tagesschau des SRF wie diejenige der ARD (ab 11:45) informierten je rund zwei Minuten über die Gross-Demonstration in Tel Aviv.
Frustrierend war die Information für die Zuschauerinnen und Zuschauer des Schweizer Fernsehens. Die SRF-Tagesschau informierte wie folgt: Eine «Justizreform» wolle «die Gerichte gezielt schwächen». Die Reform sei «umstritten», doch Netanyahu wolle die Justiz «wie geplant umbauen». Von der «Überarbeitung des Justizsystems» könnte der wegen Korruption angeklagte Netanyahu «profitieren», würden Kritiker «monieren». Diese nicht definierten Kritiker sähen sogar «Israels Demokratie in Gefahr und ebenso die Unabhängigkeit der Justiz». Die Reform sehe vor, «die Macht des Obersten Gerichts zu schwächen und der Regierung Netanyahu mehr Einfluss zu geben bei der Ernennung der Richter».
Wenn man den schweren Vorwurf verbreitet, eine Regierung wolle gezielt die Justiz schwächen – einen wesentlichen Pfeiler der parlamentarischen Demokratie –, sollte man schon präzisieren, was die Regierung denn genau vorschlägt, welches der Kernpunkt der geplanten Justizreform ist, und wie die Reform die Macht des Obersten Gerichtes schwächen kann. Doch das erfuhren die Zuschauenden nicht.
Es ist zwar anspruchsvoll, wichtige Informationen innerhalb von nur zwei Minuten zu übermitteln. Doch SRF verbrauchte Zeit mit Wiederholungen.
Die Tagesschau der ARD schaffte es, über drei wichtige Punkte zu informieren:
- Zu den 80’000 Demonstrierenden: «Die Menschen kamen aus verschiedenen Teilen des Landes und aus unterschiedlichen politischen Lagern.»
- Zur wichtigen Rolle der Justiz: «In Israel gibt es keine zweite Kammer oder ein föderales System. Das Oberste Gericht ist die einzige Kontrollinstanz über das Parlament und hat somit in der Tat eine starke Position.»
- Zum Inhalt der Justizreform: «Die Regierung plant, dass eine Mehrheit im Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts überstimmen könnte. So könnten auch Gesetze in Kraft treten, die nach Ansicht des höchsten Gerichtes gegen israelische Grundgesetze verstossen.»
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Transkript SRF-Tagesschau Hauptausgabe 15.1.2023 (123 Sekunden), fette Auszeichnungen durch die Infosperber-Redaktion
Rund 80’000 Menschen haben am Wochenende allein in der israelischen Küstenstadt Tel Aviv gegen die rechtsreligiöse Regierung von Benjamin Netanyahu protestiert. Die Proteste richten sich gegen die Pläne, mittels einer Justizreform die Gerichte gezielt zu schwächen. Zu dieser so umstrittenen Reform hat sich heute auch der israelische Präsident besorgt geäussert, während Regierungschef Netanyahu heute Entschlossenheit demonstrierte, die Justiz werde wie geplant umgebaut. Kathrin Stephani.
Regierungschef Netanyahu, gutgelaunt auf dem Weg zur heutigen Kabinettssitzung. Er muss sich weiterhin wegen Korruption vor Gericht verantworten; von einer Justizreform könnte er selbst profitieren, monieren Kritiker. Die Überarbeitung des Justizsystems hat Netanyahu zum Kernstück seiner Regierungsagenda gemacht. Er sei dafür gewählt worden, sagt er. «Vor zwei Monaten gab es in Israel eine grosse Demonstration, die Mutter aller Demonstrationen. Millionen Menschen gingen auf die Strasse, um an den Wahlen teilzunehmen. Eines der wichtigsten Themen, für die sie gestimmt haben, ist die Reform des Justizsystems.»
Kritiker sehen das anders. 80’000 Demonstrierende protestieren gestern Abend allein in Tel Aviv, gegen diese Reform. Israels Demokratie sei in Gefahr, ebenso die Unabhängigkeit der Justiz, kritisieren sie. Die geplante Justizreform sieht vor, die Macht des Obersten Gerichts zu schwächen und der Regierung Netanyahu mehr Einfluss zu geben bei der Ernennung der Richter. Besorgnis äussert auch der Staatspräsident: «Ich konzentriere mich als Präsident auf zwei entscheidende Aufgaben. Eine historische Verfassungskrise abzuwenden und die anhaltende Spaltung unserer Nation zu beenden.»
Das wird schwierig, denn die Proteste nehmen gerade erst Fahrt auf.
Transkript ARD-Tagesschau Hauptausgabe 15.1.2023 (128 Sekunden)
In Israel wächst der Druck auf die neue rechtsgerichtete Regierung von Premier Netanyahu, die Pläne für die umstrittene Justizreform aufzugeben. In Tel Aviv gingen gestern Abend Zehntausende auf die Strasse, weil sie eine Schwächung der Justiz befürchten. Die Regierung will unter anderem erreichen, dass Entscheidungen des Obersten Gerichts vom Parlament mit einfacher Mehrheit ausser Kraft gesetzt werden können.
In Sprechchören rufen die Demonstranten: «Bibi, verdamme das Oberste Gericht nicht zum Schweigen! Gegen die Pläne der ultrarechten Regierung unter Netanyahu – Spitzname «Bibi» – demonstrierten gestern am Abend 80’000 Menschen im Zentrum von Tel Aviv, trotz heftigen Regens. Menschen aus verschiedenen Teilen des Landes und aus unterschiedlichen politischen Lagern. Sie eint die Sorge um die israelische Demokratie.
«Die Situation in diesem Land macht mir Angst, sie wollen uns unsere Rechte nehmen». – «Ich befürchte, dass die so genannten Reformen die Kontrollmechanismen in der israelischen Demokratie aushebeln». Die Regierung plant, dass eine Mehrheit im Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts überstimmen könnte. So könnten auch Gesetze in Kraft treten, die nach Ansicht des höchsten Gerichtes gegen israelische Grundgesetze verstossen. Ausserdem sollen Politiker mehr Einfluss auf die Ernennung von Richtern bekommen.
Der israelische Staatspräsident warnt: «Die Grundlagen der israelischen Demokratie, und dazu gehört das Justizsystem, sind heilig, und wir müssen sie schützen.» Netanyahu steht aktuell wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht. Die Justizreformen könnten ihm helfen, einer Verurteilung zu entgehen. Er verteidigt die Pläne: «Wir werden die Justizreformen so umsetzen, dass das, was korrigiert werden muss, korrigiert wird.»
In Israel gibt es keine zweite Kammer oder ein föderales System. Das Oberste Gericht ist die einzige Kontrollinstanz über das Parlament und hat somit in der Tat eine starke Position, die oft kritisiert wird. Allerdings befürchten viele, dass die geplanten Reformen die Gewaltenteilung und damit die Demokratie in Israel gefährden.
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Transkript von Sepp Estermann
Der von Justizminister Yariv Levin vorgestellte Entwurf der Justizreform
Der Gesetzesentwurf des Justizministers schränkt die Befugnis des Obersten Gerichtshofs, Gesetze zu kippen, radikal ein. Er verbietet dem Obersten Gericht, Grundgesetze aufzuheben und gibt der Regierungs-Koalition die Kontrolle über die Ernennung von Richtern.
Die Überarbeitung des Justizsystems wird der Regierung die totale Kontrolle über die Ernennung von Richtern einräumen, einschliesslich der Richter des Obersten Gerichtshofs.
Die Möglichkeiten des Obersten Gerichtshofs, Gesetze aufzuheben, wird stark eingeschränkt und die Knesset erhält das Recht, Gesetze, die das Gericht aufhebt, erneut zu verabschieden.
Die Regierung kann einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs ernennen, der zuvor nicht am Obersten Gerichtshof tätig war und möglicherweise nicht einmal als Richter an einem unteren Gericht arbeitete.
Koalitionsmehrheit im Wahlgremium der Richter
Laut Gesetzesentwurf wird der Ausschuss für die Richterwahlen, der für die Ernennung von Richtern sowie für Beförderungen an höhere Gerichte und gegebenenfalls für die Entlassung von Richtern – zuständig ist, von neun auf elf Mitglieder erweitert.
Dem Gremium werden neu drei Minister der Regierung angehören, darunter der Justizminister, der den Vorsitz führt, drei Abgeordnete, von denen einer wahrscheinlich, aber nicht sicher, der Opposition angehören wird, zwei Vertreter der Öffentlichkeit, die vom Justizminister ausgewählt werden, und drei Richter des Obersten Gerichtshofs, darunter der Oberste Richter.
Damit erhält die Regierung die Kontrolle über sieben der elf Mitglieder dieses Wahlgremiums. Für die Wahl von Richtern des Obersten Gerichtshofs ist eine Mehrheit von sechs Mitgliedern erforderlich, für die Wahl von Richtern der unteren Instanzen genügt eine einfache Mehrheit.
Fast keine Möglichkeit mehr der gerichtlichen Überprüfung
Entscheidend ist, dass der Gesetzentwurf die Bedingungen festlegt, unter denen der Oberste Gerichtshof die Gesetzgebung der Knesset gerichtlich überprüfen kann.
Obwohl Levins Grundgesetzänderung zum ersten Mal das Recht des Gerichts auf gerichtliche Überprüfung gesetzlich verankern wird, werden die Möglichkeiten des Gerichts, Gesetze der Knesset aufzuheben oder zu ändern, in der Praxis stark geschwächt.
Diese Befugnis des Obersten Gerichtes, Gesetze auf Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, wurde bisher weitgehend aus der Verabschiedung des Grundgesetzes abgeleitet.
Doch jetzt sieht Levins Gesetzentwurf ausdrücklich vor, dass der Entscheid eines Gerichts, ein Gesetz aufzuheben oder einzuschränken, ungültig ist.
Der Oberste Gerichtshof kann ein Gesetz der Knesset — auch das geplante Reformpaket der neuen Regierung – nur dann aufheben, wenn alle 15 Richter des Gerichts, abzüglich derjenigen, die aus verschiedenen Gründen verhindert sind, der Aufhebung zustimmen. Jeder Entscheid, ein Gesetz aufzuheben, muss von drei Vierteln aller Richter unterstützt werden, d. h. von 12 der 15 Richter, sofern alle Richter des Obersten Gerichtshofs anwesend sind.
Doch die Knesset kann auch ein so abgelehntes Gesetz, mit einer Mehrheit von nur 61 Abgeordneten – über die alle Mehrheitskoalitionen verfügen – einfach erneut für einen Zeitraum von vier Jahren verabschieden. Das bedeutet, dass die gerichtliche Überprüfung der Knesset-Gesetzgebung durch den Obersten Gerichtshof drastisch eingeschränkt und leicht zu kippen sein wird.
Nach Ablauf dieser vier Jahre könnte eine neue Knesset dasselbe Gesetz erneut verabschieden, das dann dauerhaft gegen eine Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof immun wäre.
Nur falls der Oberste Gerichtshof ein Gesetz einstimmig aufhebt, kann die Knesset dieses Gesetz während der Amtszeit der gesamten Knesset nicht erneut verabschieden. Eine neue Knesset könnte das Gesetz jedoch später erneut verabschieden und die einstimmige Entscheidung des Gerichts ausser Kraft setzen.
Die Abschaffung der «Verhältnismässigkeit»
Levins Gesetzgebung schränkt das Gericht auch in einer anderen wichtigen Hinsicht ein, nämlich indem es ihm die Möglichkeit nimmt, es auf die «Verhältnismässigkeit» zu überprüfen, also ob Verwaltungsentscheidungen unter angemessener Berücksichtigung aller relevanten Faktoren getroffen wurden.
Der Oberste Gerichtshof hat sich in den vergangenen Jahren auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit berufen, um mehrere wichtige Entscheide der Regierung und der Kommunalverwaltungen aufzuheben, darunter solche, welche die Wahrung religiöser Rechte oder das Gewährleisen eines angemessenen Schutzes der Zivilbevölkerung im Süden vor Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen betrafen sowie höchst problematische politische Ernennungen.
Die neue Regierung lehnt die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit durch das Gericht mit der Begründung ab, dass er zu unbestimmt sei und dem Gericht daher unangemessene Befugnisse in Bezug auf die Regierungspolitik einräume.
Ernennung eines Präsidenten und eines Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs
Levins Gesetzesentwurf schafft auch die Tradition des «Dienstalters» ab, wonach der Richter mit den meisten Dienstjahren am Obersten Gerichtshof Präsident wird. Stattdessen sollen der Präsident und der Vizepräsident vom Richterwahlausschuss «auf die gleiche Weise wie die Richter des Obersten Gerichtshofs» ausgewählt werden. Dies würde es dem Wahlausschuss ermöglichen, jeden beliebigen Richter des Obersten Gerichtshofs, einen Richter einer unteren Instanz oder sogar einen privaten Rechtsanwalt zu ernennen, der noch nie als Richter tätig war, aber die Kriterien für eine Ernennung am Obersten Gerichtshof erfüllt.
Diese Massnahme wird der derzeitigen Regierung unmittelbaren Einfluss auf den Obersten Gerichtshof geben, wenn die derzeitige Präsidentin, Richterin Esther Hayut, in diesem Jahr in den Ruhestand geht.
Der Präsident oder die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs hat mehrere wichtige Befugnisse, darunter die Entscheidung über die Grösse und Zusammensetzung der Spruchkörper in bestimmten Fällen.
Quelle: The Times of Israel
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für die Aufklärung!
Ich finde die Entwicklungen hingehend zu immer mehr Gesetzreformen hinsichtlich des Einflusses der Judikative, sehr bedenklich.
Israel ist da ja schon lange kein Einzelfall mehr und ich denke das mittlerweile die Grenze zur Feststellung der Gewaltenteilung vieler Orts überschritten wurden.
Nehmen wir mal an, dass die 80.000 Teilnehmer an Demonstrationen ein Indikator dafür sind, dass es bei einer Volksbefragung keine Mehrheit für eine die Verfassung ändernde Gesetzgebung gäbe – und wir wissen: die Anzahl von Demo-Teilnehmern wird von vielen Regierungen weggelächelt. So müsste man fragen, warum haben die Wähler mit Mehrheit eine mögliche Regierung gewählt, die die Verfassung zu Gunsten radikaler Minderheiten und zu Gunsten eines der Korruption angeklagten, jetzt wieder amtierenden Präsidenten verstümmeln will? Und wie ist es überhaupt möglich, dass eine Parlamentsmehrheit so leicht eine Verfassung ändern kann. Es ist möglich, weil Israel ein Besatzungsstaat, ein Annexionsstaat ist, der sich nicht an das Völkerrecht hält. Wenn eine demokratische Mehrheit auf Dauer UN-Gesetze bricht bzw. nicht schützen will, tut sie das irgendwann auch gegen die eigene Bevölkerung. Vielleicht dämmert das den israelischen Staatsbürgen allmählich. Palästinenser haben diese Gelegenheit nicht.
Netanyahu ist ein ganz besonders intelligenter, skrupelloser Politiker, ich würde es an seiner Stelle genau so machen. Wenn man selbst kriminell ist, dann macht man Kriminalität «politsalonfähig» und übernimmt ein Amt mit «Immunität», bis die «Angelegenheit» verjährt und vergessen ist und sicherheitshalber tauscht man noch die Obersten Richter gegen korrupte Richter aus…, dann kann überhaupt nichts mehr passieren, es sei denn irgendeiner hält diesen «Zirkus» nicht mehr aus und «explodiert».
Diese «Explodierer» werden dann gerne als psychisch kriminelle Kranke und Terroristen klassifiziert und viel sind einverstanden und der «traurige» Rest schweigt.