Schweiz verurteilt: Meinungsfreiheit vor Persönlichkeitsrecht
Der Stein des Anstosses: Ein Tierschützer rief zur Nicht-Wiederwahl eines Regierungsrats auf und liess eine ehrverletzende Broschüre verteilen. Die Persönlichkeitsverletzung geht auf das Jahr 2009 zurück! Der Regierungsrat verlangte ein Schmerzensgeld und prozessierte bis vor das Bundesgericht.
Erst am 11. Oktober 2022 nahm die Auseinandersetzung ein Ende: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Schweiz im Verfahren «Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) und Kessler gegen die Schweiz» wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention).
Weil ein Ausschuss des EGMR das Urteil erliess, dem nur drei Richter angehören, ist das Urteil aufgrund von Artikel 26 der EMRK endgültig. Solche Verfahren vor nur drei Richtern anstatt vor einer Kammer mit sieben Richtern sind in Strassburg dann üblich, wenn «die der Rechtssache zugrunde liegende Frage der Auslegung oder Anwendung dieser Konvention Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist».
Rechtsanwalt Ludwig A. Minelli, der die Rechtssprechung des EGMR laufend verfolgt, kommentierte in seiner Zeitschrift «Mensch und Recht»: «Allein schon dieser prozedurale Umstand weist darauf hin, dass sich die Schweizer Gerichte bei der Beurteilung der Sache nicht im Mindesten an der Strassburger Rechtsprechung orientiert haben.»
Ausser dem St. Galler Tagblatt haben grosse Medien in der Schweiz über dieses Urteil des EGMR von 11. Oktober 2022 nicht informiert.
Eine alte Geschichte, die im Jahr 2006 begann
Es ging um die damalige Wahl der Regierung des Kantons Freiburg. Der von Erwin Kessler präsidierte Verein gegen Tierfabriken Schweiz verbreitete eine Broschüre gegen den damaligen Staatsrat Pascal Corminboeuf und rief die Wählerinnen und Wähler auf, diesen nicht wiederzuwählen.
Als Grund wurde angegeben, Corminboeuf habe als Landwirtschaftsminister im Kanton Freiburg einem Bauern erlaubt, seinen Viehbestand zu behalten, obwohl dieser wegen schwerer Vernachlässigung von Tieren strafrechtlich verurteilt worden war. Deshalb missachte Corminboeuf das Tierschutzgesetz. Er sei auch verantwortlich für die Existenz von Tierfabriken und habe kein Mitgefühl mit wehrlosen empfindungsfähigen Wesen. Kessler bezeichnete ihn als Lügner und Heuchler.
Unter dem grossen Titel «Ausschuss» zeigte die Broschüre ein Foto dreier totgeborener Ferkel. Ausserdem war auf der Foto ein rot durchgestrichenes kleines Porträt von Corminboeuf zu sehen.
Corminboef klagte wegen Ehrverletzung. Im Jahr 2009 verurteilte das Bundesgericht Kessler. Begründung: Die Mehrheit der Lesenden würden den Ausdruck «Ausschuss» (in der französischen Version «déchet») auf Corminboef beziehen und nicht auf die Ferkel.
Im Jahr darauf stellte sich Corminboeuf erneut zur Wiederwahl. Der «Verein gegen Tierfabriken» liess die fast gleiche Broschüre erneut in alle Briefkästen des Kantons Freiburg verteilen. Die Broschüre enthielt wiederum das Bild mit dem Titel «Abfall», den Ferkeln und dem kleinen Portrait von Corminboeuf. Zusätzlich enthielt die neue Broschüre den Vermerk, der «Ochse» (französisch: «boeuf», ein Wortteil des Namens Corminboeuf) sei vor vier Jahren wiedergewählt worden.
Corminboef reichte erneut eine Zivilklage ein gegen den Verein und gegen Kessler wegen Verletzung der Persönlichkeit. Beide Gerichtsinstanzen des Kantons Freiburg schützten die Klage des Regierungsrats. Begründung: Die Broschüre habe allein das Ziel, Corminboeuf zu schaden. Es gebe kein öffentliches Interesse, welches diese Ehrverletzung rechtfertige würde. Deshalb müssten der Verein und Kessler die Broschüren und andere einschlägige Dokumente unverzüglich von der Website des Vereins oder anderen persönlichen Websites entfernen. Zudem sei das Urteil in drei regionalen Freiburger Zeitungen zu veröffentlichen und Corminboeuf seien als Schmerzensgeld 5’000 Franken zu bezahlen.
Diesmal gelangten der Verein und Kessler an das Bundesgericht. Doch dieses bestätigte die kantonalen Urteile in der Hauptsache, hob lediglich die Pflicht zur Zahlung eines Schmerzensgeldes auf (Urteil 5A_639/2014).
Dagegen führten der Verein und Kessler Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Ausgewiesenes öffentliches Interesse
Die drei Strassburger Richter haben nun in ihrem Urteil festgehalten, dass das öffentliche Interesse der Broschüre gegenüber dem Persönlichkeitsschutz des Regierungsrats überwiegt. Die Ehrverletzung war deshalb erlaubt. Das Urteil des Bundesgerichts wurde aufgehoben. Die Eidgenossenschaft muss dem Verein und Kessler 8000 Euro an die Prozesskosten zahlen.
In ihrer Begründung wiesen die Richter des EGMR im Wesentlichen auf folgende Kriterien hin:
- Die verbreiteten veröffentlichten Meinungen, Informationen und das behandelte Thema müssen von öffentlichem Interesse sein;
- die Zielperson muss eine grosse öffentliche Bekanntheit haben;
- das Verhalten der Zielperson in der Vergangenheit;
- die Informationen müssen wahr sein;
- die Art und Weise, wie die Informationen verbreitet wurden.
Zweifellos seien die Behauptungen in der verteilten Broschüre «übertrieben und stark herabsetzend» und würden die Persönlichkeitsrechte, namentlich die berufliche Reputation des Regierungsrats verletzen.
Anders als das Bundesgericht anerkannten die Richter in Strassburg aber das öffentliche Interesse des in der Broschüre behandelten Themas, nämlich den Tierschutz. Der zuständige Regierungsrat sei eine ausgesprochen öffentliche Persönlichkeit, die sich auch scharfe Kritik gefallenlassen müsse. Und die beanstandeten Angaben in der Brüschüre seien Werturteile und nicht Tatsachen-Darstellungen. Die Richter führten in ihrer Begründung wörtlich aus:
«Die verwendeten Ausdrücke mögen zwar hart klingen, bewegen sich aber im Rahmen des Zulässigen im Kontext einer Wahl und des allgemein interessierenden Themas Tierschutz. Bei dem Wort ‹Boeuf› [‹Ochse›] handelt es sich um ein Wortspiel. Und bei Wort ‹Abfall› ist es sehr zweifelhaft, ob es sich auf den Politiker bezieht. Die nationalen Gerichte hätten die von den Beschwerdeführern zur Untermauerung ihrer Behauptungen vorgelegten Elemente prüfen und das Recht auf Privatsphäre einerseits und die Meinungsfreiheit andererseits, die auf dem Spiel standen, gemäss den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien gegeneinander abwägen müssen. Darüber hinaus stellten sie nicht überzeugend fest, dass es notwendig sei, P.C.s Recht auf Schutz seines Rufes über das Recht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäusserung zu stellen.»
Erwin Kessler erfuhr seinen Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht mehr, da er im September 2021 starb.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke Infosperber, danke EGMR! <3
Das Urteil des Bundesgerichtes datiert vom 08.09.2015, jenes des EGMR vom 11. Oktober 2022. Man hat sich also SIEBEN Jahre Zeit gelassen, um über eine einzige Frage zu entscheiden, zu der längst eine gefestigte Praxis des EGMR besteht. Würde sich ein nationales Gericht so etwas leisten, würde der EGMR empört von einer „krassen Rechtsverzögerung“ (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) sprechen bzw. schreiben ….
Hallo Herr Fehr,
Sie tun dem EGMR hier Unrecht. Der Anwalt des VGT hat in der eigenen vgt Zeitschrift wiederholt und sehr ausführliche Infos dazu geschrieben. Es ist nämlich so, das dieses Gericht chronisch unterfinanziert ist und somit auch vielzuwenig Personal hat. Dies ist von den Staaten so gewollt, weil man damit auch zuviele Verurteilungen vermeidet. Ein Gericht wo keine Zeit hat kann auch keine Verurteilungen aussprechen. Es gleicht also ein wenig dem Lottospielen ob man vor dem EGMR überhaupt angehört wird, soweit ich weiss werden 95% (oder gar 98?) der Fälle garnicht zur Entscheidung angenommen.
Interessanter Beitrag über «Gerechtigkeit». Die Wahrnehmung dazu sind von Land zu Land unterschiedlich. Wir Schweizer tendieren etwas zur Obrigkeitsgläubigkeit und der Abneigung von «harten» Worten.
Das Urteil ist jetzt nicht matchentscheidend für die Schweiz aber trotzdem interessant dass die CH-Presse das Urteil ignoriert hat. Erwin Kessler war schon sehr unbequem. Da haben wir Schweizer sehr Mühe. Niklaus Meienberg lässt grüssen.
Danke EuGH für die Hilfestellung an uns naiven Bergler. Das wird nun zukünftig wohl der politische Stil mit EU-Gütesiegel sein: respektlos, herabsetzend, unappetitlich und frei zum Abschuss!
Die La Liberté hat am 28. Oktober letzten Jahres über das Urteil des EGMR berichtet, das sei zur Ehrrettung dieser kleinen Zeitung hier erwähnt. Ich habe damals die erstinstanzliche Gerichtsverhandlung gegen Erwin Kessler und die mediale Berichterstattung resp. Hexenjagd mitverfolgt. Es war absehbar, dass der Ostschweizer Tierschützer auf Freiburger Boden gegen einen freiburger Staatsrat nicht den Hauch einer Chance haben würde. Umso erfreulicher ist, dass sich der Gang durch die Instanzen gelohnt und nun in diesem wegweisenden Urteil niedergeschlagen hat. Ironischerweise hat die La Liberté zwar über dieses Urteil berichtet, welches die Meinungsäusserungsfreiheit über den Schutz des Rufes einer öffentlichen Person stellt. Mit der Umsetzung dieses Grundsatzes klappt es jedoch bei der La Liberté leider nicht: Sie zensuriert allzu oft Leserbriefe, die es wagen, Vertreter der lokalen Elite über das gusto der Chefredaktion hinaus zu kritisieren.
Im Urteil vom 08.09.2015 hat das BGer. in Erw. 10. festgehalten, mit Ausdrücken wie „menteur“, déchet“ oder „boeuf“ werde P.C. herabgesetzt „au rang d‘une personne bête, stupide et sans finesse“. Fazit: „… aucun interêt public ne saurait justifier l‘utilisation de tels qualificatifs“
In Anbetracht der geradezu obsessiven Tendenz des EGMR, die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) wenn immer möglich – und gelegentlich auch in unmöglichen Fällen – ÜBER das Persönlichkeitsrecht (Art. 8 EMRK) zu katapultieren, erstaunt es wenig, dass das EGMR das Urteil des BGer. beanstandet (nicht „kassiert“, wie im Artikel behauptet) und die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechte verurteilt hat.
In vielen Fällen, in denen es um die Abwägung Meinungsäusserungsfreiheit – Persönlichkeitsrechte geht, sind Medien involviert. Es fällt auf, dass die entsprechende Praxis des EGMR verständlicherweise durchwegs wohlwollend und unkritisch aufgenommen und kommentiert wird – dem EGMR wird‘s wohl gefallen.