Machtwechsel in Brasilien: Was unsere Medien nicht sagten
Zehn Tage nach dem Machtwechsel in Brasilien gibt es noch keine harten Fakten zur politischen Umorientierung im grössten Staat des Subkontinents. Doch aufgrund des Erbes, das der abgewählte Jair Bolsonaro hinterlassen hat, lässt sich schon jetzt grob abschätzen, wo Präsident Lula da Silva Hand anlegen wird, um die Wende diesseits und jenseits der Landesgrenzen deutlich zu machen.
Aussenpolitisch hat Lula, der als Staatspräsident Erfahrungen und Einsichten aus zwei Mandaten (2003-2010) mitbringt, schon vor der Amtsübernahme am Neujahrstag einen wichtigen Pflock eingeschlagen. Mit seiner Präsenz an der Klimakonferenz COP27 in Sharm El-Sheikh machte er deutlich, dass Brasilien in Sachen Umwelt ab sofort wieder eine aktivere und prominentere Rolle spielen will. Sein Vorgänger im Präsidentenamt hatte die eigene Nation weitgehend ins diplomatische Abseits geführt, mit der Begründung, dass sie nach freiem Ermessen über die wirtschaftliche Nutzung Amazoniens entscheiden könne. Durch Bolsonaros Losung animiert, machten sich Horden von Goldgräbern, Holzhändlern und Viehzüchtern ans Werk und beuteten den Reichtum des Regenwaldes skrupellos aus.
Die Regierung der Arbeiterpartei (PT) will nun mit protektionistischen Massnahmen der Plünderung des Urwalds Einhalt gebieten. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Männer an der «Front» sind meistens bewaffnet, und ihre «Schutzherren» haben ihren politischen Einfluss im Kongress und in den Wirtschaftsverbänden unter Bolsonaro noch einmal vergrössert. Zwar hatte Lula in seiner früheren Amtszeit den Kahlschlag in der Amazonasregion mit repressiven Massnahmen fast halbieren können. Doch eine Wiederholung solcher Kampagnen dürfte diesmal noch schwieriger werden, wenn die Profiteure des Raubbaus ihre Quellen von Reichtum und Macht mit grimmiger Entschlossenheit und Waffengewalt verteidigen.
Brasilien: Machtkampf auf vielen Ebenen
Dass der Kampf um die Macht in Brasilien mit harten Bandagen ausgetragen wird, steht ausser Zweifel. Die deutschen «Nachdenkseiten» listen die verschiedenen Instanzen auf, auf deren Territorien diese Auseinandersetzung in Brasilien geführt werden muss:
- das Parlament, in dessen beiden Kammern die PT ziemlich allein auf weiter Flur steht,
- die Finanzmärkte, denen Lula wie früher mit der Übernahme der wichtigsten Ministerien sowie der Zentralbank durch rechtsliberale Exponenten die Verantwortung übergeben will,
- die ohnehin schon mächtigsten Figuren der Agrarwirtschaft und des Bergbaus,
- und die Streitkräfte, die in den vergangenen vier Jahren deutlich an Einfluss gewonnen haben und über deren politische Fraktionen grosse Ungewissheit herrscht.
In der bevorstehenden Ausmarchung werden die Parteien der Mitte, der sogenannte Centrão, wieder einmal das Zünglein an der Waage sein. Was dabei von den guten Absichten der PT übrig bleiben wird, das steht in den Sternen.
Peru: Kontinuität nur im Abbau von Ressourcen
Ähnlich schwierig präsentiert sich die Lage in Peru, wo der politisch und administrativ völlig unerfahrene Staatschef Pedro Castillo mittels eines parlamentarischen Beschlusses aus dem Amt verjagt wurde. Der diffus linksgerichtete Mestize hatte Mitte 2021 die Präsidentschaftswahl knapp gewonnen, doch seine Regierung befand sich in einem permanenten Machtkampf mit dem von konservativen Kräften dominierten Parlament. Wenn nun inmitten des Chaos manche Stimmen nach Neuwahlen rufen, ist das nur eine eine Leerformel. Denn seit zwei Jahrzehnten setzt man in Lima auf Neuwahlen – und findet doch nie zu politischer Stabilität. Mit den tieferen Ursachen dieser Missstände befasst sich das «IPG-Journal».
Wenn es in Peru doch noch eine gewisse Stabilität gibt, dann am ehesten in der Wirtschaft – zumindest was den Abbau und den Export von mineralischen Ressourcen betrifft. Trotz immer wiederkehrender Proteste seitens indigener Bevölkerungsgruppen in den Anden, die gegen die Monopolisierung und Verseuchung meist knapper Trinkwasservorkommen durch transnationale Unternehmen rebellieren, konnten die ausländischen Konzerne ihre Tätigkeit bisher fortsetzen. Es dürfte daher nicht überraschen, dass Castillos Nachfolgerin im Präsidentenamt, Dina Boluarte, ihre Hoffnungen darauf setzt, dass wenigstens im Bergbau weiterhin Kontinuität herrscht – auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung des 33-Millionen-Staates von diesem ungebrochenen Boom kaum profitiert.
Chiles neue Linksregierung hat es kurz vor Jahresende geschafft, mit einem fast kompletten Spektrum von politischen Parteien ein Abkommen zur Erarbeitung einer neuen Verfassung unter Dach und Fach zu bringen. Vor Ende 2023 soll das neue Grundgesetz mit einer Volksabstimmung ratifiziert werden. Die auf Lateinamerika spezialisierte, parteiunabhängige Nachrichtenagentur «poonal» verbreitete dieses wichtige Dokument im Originaltext.
Argentinien: Nach Frust und Wut – endlich einmal jubeln
Dass Argentiniens Triumph an der Weltmeisterschaft einen solchen Freudentaumel im Land auslöste, ist nachvollziehbar. Denn Grund zum Jubeln gab es für die meisten Menschen in Argentinien schon lange keinen mehr. Seit vielen Jahrzehnten erlebt diese Nation einen sozialen Niedergang, der mit jeder Regierungskrise und jedem Staatsbankrott Millionen Menschen dem einst sehr breiten Mittelstand entriss und in die Armut abrutschen liess. Für diese Menschen ist – inmitten eines potentiell ungeheuer reichen Landes – der Alltag nur noch ein Kampf ums Überleben. Von einer Minderheit abgesehen, die sich alles leisten kann (auch eine mehrwöchige Reise nach Katar), muss sich der Normalbürger mit einer zerfallenden Volksschule, einem darbenden öffentlichen Gesundheitswesen und chronischer Arbeitslosigkeit oder lausig bezahlten Jobs abfinden.
Solche Zustände erzeugen Flutwellen von Frust und Wut. Diese entladen sich, wenn Banken pleite gehen und wenn Millionen Privatkonten eingefroren werden, die damit unerreichbar und letztlich wertlos werden. Und wenn dann dieses durch die Unfähigkeit und Bestechlichkeit seiner Regierungen gescheiterte Land einmal plötzlich als das Weltbeste dasteht, dann kippen solche Gefühle ins andere Extrem, in masslosen Jubel und frenetischen Heldenkult – auch wenn das alles nur ein paar Tage hinhält.
Nach zahllosen Umsturzversuchen der weissen Minderheit in Bolivien hat die Polizei den Gouverneur des Departements Santa Cruz de la Sierra, Luis Fernando Camacho, als vermutlich wichtigsten Anführer der Unruhen verhaftet und nach La Paz überführt. Konservative Kreise verurteilten die Festnahme lautstark und bezeichneten sie als «Entführung». Ob damit die seit Jahrzehnten andauernden Spannungen zwischen den Siedlern im östlichen Tiefland und der von der indigenen Mehrheit getragenen Regierung mit Sitz in der fast 4000 Meter über Meer gelegenen Stadt in den Anden entschärft wird, erscheint zweifelhaft.
El Salvador: Immer autoritärer
Die Presseagentur ALAI hat eine bemerkenswerte geschichtliche Einordnung der politischen Prozesse und Umbrüche im zentralamerikanischen Kleinstaat El Salvador verbreitet. Der Artikel beleuchtet einen Zeitraum von fast hundert Jahren und legt die Wurzeln der gegenwärtigen, immer deutlicher zu einem autoritären Regime neigenden Herrschaft frei. Die Spuren führen vom einst fast ausschliesslich von der Kaffeekultur abhängigen, politisch extrem konservativen Land zur neoliberalen Wirtschaft. Diese Entwicklung hat die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert und konnte auch nicht überwunden werden in den Jahren, als Politiker ans Ruder kamen, die mit der einst linksradikalen FMLN-Bewegung paktierten. Seit 2019 regiert nun in der Hauptstadt San Salvador mit Nayib Bukele ein junger Mann, der die lange Tradition des Autoritarismus weiterführt und sich schon einmal als «coolster Diktator der Welt» vorstellte.
Der uruguayische Sozialforscher Eduardo Gudynas liefert auf den «Nachdenkseiten» eine gut verständliche Zusammenfassung der Umweltproblematik aus lateinamerikanischer Perspektive in deutscher Übersetzung. Was beim Lesen der sorgfältig formulierten Seiten klar wird: Die meisten Menschen auf dem Subkontinent glauben zwar an die Richtigkeit und Dringlichkeit der ökologischen Postulate, doch in der Alltagsrealität sind die Zwänge und Sorgen des stetigen Überlebenskampfes einfach grösser. Nicht ganz ungeschoren kommt in Gudynas Analyse der neue Eroberer auf diesen Breitengraden davon: China.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den Tages-Anzeiger.
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