Kommentar

kontertext: Ihr Kinderlein kommet

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Die achte Milliarde ist erreicht, und die Vermehrung der Menschheit schreitet fort. Der Vorgang erlaubt kein Entrinnen ins Private.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, keine Kinder zu haben? Mir passierte das früh, lange bevor es eine Partnerin gab, mit der die Frage praktisch anzugehen war. Doch so oft ich die Frage abtat, so beharrlich stand sie wieder vor mir: Muss der Mensch wirklich derart massiert auftreten, dass seine Versorgung nur noch mittels Mundraub möglich ist? Warum ist Gleiches nicht auch dem Erlenzeisig vergönnt?

Schon 1982 – der Westen im Kalten Krieg, mein Jahrgang frisch am Gymnasium – war der Planet mit Menschen überversorgt. In der Schweiz allerdings herrschte eitel Sonnenschein: Das Wasser kam trinkfertig aus der Leitung, keine Folgen des Raubbaus waren abzusehen, die Gletscher zeigten brav ihre Zungen, und Urlauber scherten aus dem Blechkonvoi aus, um sie ehrfürchtig zu fotografieren, diese vom Fall-out des Wohlstands geschwärzten Zungen: «Schau, Sohn, ein Stück Natur. Freu dich mit uns, so wahr wir eine Familie sind!»

Über solchen Russtönen dachte der Sprössling an die Bilder vom Braunkohleabbau. Doch so arg konnte es bei uns nicht kommen. Dem Ottomotor wurden erste Katalysatoren beigefügt, und es entstand die Illusion, Autofahren sei keine so üble Sache wie von den Auguren des Untergangs behauptet. Die Folgen unserer Technologie, hörte man, seien mit technologischen Mitteln einzugrenzen. Ein Blick in die Hallen der werktätigen Schweiz schien es zu bestätigen.

Der junge Betrachter war hin- und hergerissen. Gierig nach dem vollen Leben, wollte er angesagte Dinge besitzen und doch auch den Konsumverzicht üben. Er suchte ein anderes als das familiäre Wir. Dieses Wir der ‹kritischen Intelligenz› begrüsste zwar freudig jede neue Erfindung, die Mikrowelle, den Walkman, die CD, und doch fragte es sich täglich, wie dieser Lebensstil zu halten sein würde. «Wir gegen die Alten», lautete dabei die Devise: gegen die Eltern, die jeder Verheissung Glauben schenkten, wenn sie nur aus berufenem Munde kam.

*

Unterdessen hatten wir ein neues Wort gelernt: «Machbarkeitswahn». Längst waren die ersten Studien in Buchform erschienen, die das Problem rechnerisch durchexerzierten. Global 2000 war eine davon, eine dicke Bibel der uns zustehenden Katastrophe. Mit diesem Buch in der Hand bildeten wir eine Community der Entflammten. Wir buchstabierten seine Thesen im Alltag aus, wurden Vegetarier, boykottierten Multis, verweigerten den Wehrdienst und wollten Ethnologie statt Wirtschaft studieren. Was unsere Eltern für Abbruchobjekte hielten, kam uns herrlich bewohnbar vor. Und schon kohabitierten wir darin mit der Fantasie, dem Widerspruchsgeist und der Lust an der Provokation…

Den Eltern mochten wir nicht vorhalten, uns zu zeugen sei ein Fehler gewesen, denn wir lebten gern. Doch wir legten Global 2000 vor sie hin und sagten: «Lest mal dieses Dokument der Aufrechnung. Wir alle, jung oder alt, schlittern da in etwas Bedrohliches hinein. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.»

Nach wenigen Monaten sahen unserer Eltern diskursmüde aus. Ringe zierten ihre Augen, die Hände zitterten, wenn sie den Begriff «fossile Energie» hörten, und immer öfter wiesen sie uns mit der Bemerkung ab, Zukunftsangst sei eine anthropologische Konstante – und Apokalyptik ein Genre für die, die es sich leisten könnten, behaglich im Unheil künftiger Epochen zu schwelgen: Weltuntergang am Kaminfeuer.

Sie hatten gut reden. Ihre zentralbeheizten Häuser hatten offene Feuerstellen, nicht als Wärmequellen, sondern um mit Gästen Konversation zu treiben. Wir dagegen vermieden Konversation und suchten das Gespräch. Wir blieben unbeugsam und schmal beheizt, verstanden uns als die erste Generation, die der Zukunft ins brechende Auge sah – pubertär vielleicht, aber mit rechnerischem Fundament, denn viele Jahrgänger studierten Naturwissenschaften.

Dann bekamen die ersten von uns Nachwuchs, und die Community teilte sich. Wir anderen, noch in der Überzahl, schauten ihnen bei der Aufzucht zu. Was wir sahen, gefiel uns, denn es war herzhaft und lebensfreudig, dieses Begleiten von Wachstums- und Erkundungsprozessen, dieses Erspüren sinnlicher Details, dieses Lindern von Nöten und Teilen von Freuden, diese Hingabe im Spiel. Dabei blieben die Düsternisse der Zukunft unerwähnt. Im Kinderzimmer wären sie so deplatziert gewesen wie Geschlechtskrankheiten oder Massenmord. Tagsüber fehlte meist die Zeit, das Schicksal des Planeten zu verhandeln, denn jetzt war bei den Eltern Geldverdienen angesagt, Karriere, Agenda, Netzwerkarbeit. Nur wenn abends die Kleinen im Bett waren, zogen wir das Thema hervor, behutsam, um bloss nicht unsere Weggefährten vor den Kopf zu stossen, die Beruf und Elternschaft möglichst unverhärmt verbinden wollten. Doch bei aller gegenseitigen Offenheit merkten wir bald, welche Zumutung es war, ungelöste Menschheitsfragen derart auszubreiten in einem Haus, das von Windeln und Windpocken bestimmt war. Diese vier Wände waren ja durch und durch auf Zukunft gebaut – auf die Zukunft der Eltern und viel mehr noch auf die der Kinder.

»Ja, die Kinder sind unsere Zukunft«, sagten wir und taten weiterhin alles, um keine zu bekommen. Nicht selten kamen wir uns dabei wie Spielverderber in der grossen Wochenbettparty vor. Immerhin fanden wir noch Zeit, die alten Fragen zu stellen und die alte Widerstandsmusik zu hören. Mitbewohner mit Familie baten uns, sie etwas leiser zu drehen, und obwohl wir das sofort taten, zogen sie irgendwann aus – in kindergerechtere Siedlungen, zu ihresgleichen. Der Kontakt dünnte aus. Als Paten eigneten wir uns ja kaum. Paten sollen gute Laune und Geschenke mitbringen, nicht den Warenfetischismus kritisieren und von der assyrischen Kreislaufwirtschaft schwärmen. Nur ab und zu, wenn wir spätnachts von unseren Studien erzählten und die Rede auf die Fruchtbarkeitsriten am oberen Amazonas kam, stellten ihre Gesichter die Frage, wann es denn bei uns soweit sei, da nun ja auch wir in festen Händen seien.

Es blieb dabei, wir blieben allein. Und Jahr für Jahr haben wir uns seitdem auf lektürereiche, christbaum- und gabentischfreie Weihnachten gefreut. Auf dem Planeten ist die achte Milliarde erreicht. Und nach Jahren des Zweifels erteilen uns Bilder vom Great Barrier Reef und den wärmegebeutelten Polen eine Art Absolution. Was Global 2000 im Gewand der Zahlen skizziert hatte, wird auf einmal bis ins Tägliche hinein greifbar real. Nur eine Frage der Zeit, bis es auch die Wohlstandsinsel erreicht. Und das lässt uns in befremdlicher Genugtuung nicken. Obwohl wir bis heute schrecklich gern nach hingestreckten Kinderhänden greifen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

9 Meinungen

  • am 8.01.2023 um 12:27 Uhr
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    Tja, Herr Mettler, Jahrgang 1956, also noch 10 Jahre reifer und nicht in der schönen Schweiz aufgewachsen, sondern im Braunkohlenrevier der DDR, in Cottbus, ist einiges anders gelaufen. Habe drei sehr erfolgreiche Söhne aus zwei Ehen und mich immer an jüngeren Leuten erfreut. Auch in der Wohlstandsinsel Schweiz war es mir vergönnt, diese ab und an zu treffen.

  • am 8.01.2023 um 13:29 Uhr
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    Keine Kinder machen, macht nichts. Kinder machen, macht auch nichts. Wie, wo und wovon die Eltern leben, macht das Klima wärmer. Auch der Lebensstil der Kinder prägt die Umwelt. Und es kommt darauf an, wie viel Return on Investment die wirtschaftlich Mächtigen aus der Erde pressen. Und es wieder verprassen. Zusammen mit dem Konsumenten. Ohne Vernunft, dem puren Profit geschuldet. Die Sucht nach dem pekuniären Mehrwert lässt die Gletscher schmelzen und verteilt das Nanoplastik in die Mäuler der Glatten Engelhaie, von denen es mehr und mehr weniger gibt im Gegensatz zum Menschen. Von denen gibt es mehr und mehr mehr. Vielleicht macht das Kinder machen halt doch was. ’s ist schwierig, denn die Verdichtung der Städte wird das Problem nicht lösen. Und die Politik schon gar nicht. – So halt eben: «It’s the economy, stupid» is a phrase that was coined by James Carville in 1992 (Wikipedia).

  • am 8.01.2023 um 14:23 Uhr
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    Einfach grandios! Bitte mehr davon!

  • NikRamseyer011
    am 8.01.2023 um 15:00 Uhr
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    Ein guter Text. Danke! Jedes Jahr 80 Millionen Menschen (ein ganzes Deutschland) mehr in der Welt – und über 100 000 mehr in der Schweiz: Dass das keine Zukunft hat, erkennt jede Drittklässlerin. Und diese Menschnmassen leben jedes Jahr schon ab August von den Vorräten des Planeten – sie fressen ihre Lebensgrundlage kurzerhand auf. Doch niemand will die zentrale Frage auch nur stellen (geschweige denn Antworten und Konsequenzen diskutieren): «Wieviele Menschen könnten auf Erden gleichzeitig gut und nachhaltig leben – und wieviele in der Schweiz?» Also: «Gut» meint (gem. Ted Hondrich) 1. würdige Lebenlsänge 2. körperliches Wohlbefinden 3. genug Freiheit und Kraft, sein Leben selber zu bestimmen 4. Repekt und Selbstrespekt 5. gute soziale Beziehungen 6. Zugang zu Kultur. «Nachhaltig» wäre bis Ende Jahr, statt nur bis August. Und der Wachstumswahn geht weiter. Sogar der Chef der Grünen verkündet: «Eine Zehn-Millionen-Schweiz ist machbar» – ohne zu fragen wozu. Fazit: No hope, no chance!

  • am 8.01.2023 um 21:22 Uhr
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    Die europäischen Länder haben seit längerer Zeit Geburtenrückgänge.

  • am 9.01.2023 um 14:15 Uhr
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    Schöner Text und schonungslos ehrlich. Vielen Dank dafür.

  • am 10.01.2023 um 10:09 Uhr
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    Die Weltbevölkerung könnte gem. Studie von The Lancet ab 2064 wieder rückläufig sein. Ich verstehe den Artikel und das Anliegen. Aber trotzdem werden unsere Kinder und Kindes-Kinder die Welt gestalten. Und wer kann ihnen aufzeigen, wie wir diese Monsteraufgabe bewältigen werden? Es sind die Generationen, welche jetzt Kinder kriegen. Ich habe die Hoffnung, dass sich diese den Themen genügend bewusst sind und für folgende Generationen sorgen, bei welchen Natur- und Umwelt wieder an erster Stelle liegen anstatt dem (unendlichen…?) Wirtschaftswachstum der vergangenen Generationen.

    • am 11.01.2023 um 01:49 Uhr
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      «Die Generationen, welche jetzt Kinder kriegen», wie Sie positiv denkend hoffen, dürften realistisch betrachtet eher kongruent mit den Insassen der Rekordstaus sein, die vor meinem Fenster etwa sonntags (Vergnügungs-, kein zwingender Verkehr) in ihren zudem immer voluminöseren Automobilen auf der Südumfahrung Chur motorgrollen (woraufhin, ich fasse es nicht, vielerorts noch mehr Umfahrungs-Strassen gebaut werden, statt Rückbau bestehender, wie das Entzugsexperten fordern). Und der Verkehr liesse sich wohl auf alle Gesellschaftsbereiche analogisieren. Nun, jeder mag seine eigene Prognose stellen. Meine lautet aufgrund der Anamnese, des Stadiums und vor allem der mangelnden Compliance: infaust.

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