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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Gute Gründe, Überzeugungen zu misstrauen

Daniel Goldstein /  Ein Basler Professor legt dar, wie sich das Gehirn mit falschen Vorstellungen über die Welt aus der Erklärungsnot befreien kann.

Überzeugungen, wohin man schaut oder hört: Medien berichten unablässig, dieser oder jene sei von etwas «überzeugt». Journalistische Gewissensbisse, weil Überzeugungen ja nicht überprüfbar sind, umgeht man mit «gibt sich überzeugt» oder sucht nach einer anderen Abwechslung für «sagen». Wobei jemand, der etwas ohne den Anschein von Überzeugung sagt, kaum noch Aufmerksamkeit erlangt. Überzeugt zu wirken, sei dem sozialen Ansehen förderlich und könnte daher von der Evolution begünstigt worden sein: Das ist eine der vielen Erklärungen, die ein neues Buch dafür anführt, warum der Wahrheitsgehalt nicht der einzige und nicht immer der wichtigste Grund ist, wenn sich Überzeugungen in Köpfen festsetzen.

«Die Illusion der Vernunft» heisst das Buch des Psychiaters und Neurowissenschafters Philipp Sterzer, Professor an der Uni Basel; der Untertitel warnt: «Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten» (Ullstein). Der Autor meint damit nicht die normativen Überzeugungen, die also einen Soll-Zustand betreffen. Es geht ihm allein um Ist-Zustände und wie sich unser Gehirn diese zurechtlegt – von Alltäglichem wie der Bewegung eines Tennisballs bis zu Weltbewegendem wie der Frage, ob uns irgendwelche Mächte Covid beschert haben. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Vorstellungen als Überzeugungen geäussert werden, wenn überhaupt, oder ob sie im Kopf bleiben.

Gehirn als «Vorhersagemaschine»

Sterzer verwendet ein Modell des Gehirns als «Vorhersagemaschine», das unter dem Namen Predictive Processing in der psychologischen Forschung gut etabliert, aber nicht unbestritten ist. Demnach werden Sinneseindrücke laufend mit den Erwartungen abgeglichen, die sich aus der Lebenserfahrung ergeben, genauer aus dem «inneren Modell», das aus Überzeugungen zur Beschaffenheit der Welt besteht. Die Forschung darüber arbeitet mit Experimenten, etwa solchen zu optischen Täuschungen, und mit dem Vergleich zwischen «normalem» und psychisch gestörtem Verhalten. «Normal» in Anführungszeichen, weil sich da eben fliessende Übergänge zeigen.

In seinem Spezialgebiet Schizophrenie stellt Scherzer fest, dass bei Betroffenen die Gewichtung zwischen den neuen Sinneseindrücken und den aus Überzeugungen abgeleiteten Erwartungen verschoben ist. Das geschieht in beiden Richtungen, aber für die komplexe Unterscheidung verweise ich gern aufs Buch. An dieser Stelle drängt sich eine sprachliche Präzisierung auf: Sterzer redet von «Präzision» der Wahrnehmungen bzw. Erwartungen, meint damit aber ausdrücklich nicht deren Übereinstimmung mit der Realität, sondern die Wirkung, die sie im Gehirn entfalten. «Bestimmtheit» fände ich daher passender. Insgesamt schildert das Buch die vermuteten Vorgänge im Gehirn und ihre mögliche Herausbildung in der Evolution gut verständlich, mit anschaulichen Beispielen. Fachwörter erklärt oder umschreibt der Autor, manche in einem Glossar.

Nicht rational, aber praktisch

Weichen Eindrücke und Erwartungen voneinander ab, so wäre es vernünftig, dem Grund nachzugehen – aber dazu fehlen oft Lust, Zeit und Informationen. So kann es im finstern Wald dem Überleben und der Fortpflanzung zuträglicher sein, in einem Ast eine seltene Giftschlange zu vermuten und ihm auszuweichen, statt das Weltbild mit näherer Untersuchung zu verfeinern. Und es ist womöglich ökonomischer, jenen Eindrücken mehr Gewicht zu geben, die das Weltbild bestätigen, als an solchen herumzustudieren, die es infrage stellen. Nur: So «unerschütterlich», wie es Überzeugungen gemäss Duden sind, sollten sie gemäss Sterzer nicht sein, sonst verliert man den Realitätsbezug und steigert sich in Wahnvorstellungen hinein.

Nach dem Motto eines Kollegen, evolutionäre «Selektion interessiert sich nicht für die Wahrheit», untersucht der Autor etliche weitere Mechanismen der «epistemischen Irrationalität», also der vernunftwidrigen Erkenntnissuche. Etwa so: lieber eine krause Erklärung als gar keine. Das alles gehört für Sterzer zur Normalität, bedeutet aber nicht, dass man der (eigenen oder fremden) Irrationalität einfach ausgeliefert sei. Er plädiert für einen «rationalen Umgang mit der Irrationalität»: Wir sollen uns die Überzeugungen erschüttern lassen und das Gespräch auch mit Leuten suchen, die uns «verrückt» vorkommen.

Hypothesen, nicht Normen

Letztlich sind für den Professor alle Überzeugungen nur Hypothesen, und so sollten sie – nach dem Vorbild guter Wissenschaft – auch behandelt werden. Hilfreich wäre dabei eine verbesserte «Unsicherheitstoleranz», um etwa bei einer Pandemie damit zu leben, dass nicht gleich alle Fragen eine Antwort finden. In einem Epilog über Covid räumt er ein, manche «Wissenschaftler:innen» hätten möglicherweise mit normativen Überzeugungen zu Anfeindungen beigetragen, während von ihnen nur deskriptive Äusserungen erwartet wurden. Dem Autor ist bewusst, dass diese Unterscheidung «eine sehr feine ist, die manchmal nur an der Wortwahl festzumachen ist». Seine Ermahnung kann durchaus auch für Medienschaffende gelten, wenn sie eigene oder fremde «Überzeugungen» verbreiten.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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4 Meinungen

  • am 31.12.2022 um 10:50 Uhr
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    Ein wilder Sprachmix ist dieser Text und offenbar auch dieses Buch. Das Buch beginnt bereits mit einem Trigger-Titel, um dann auch schon im Untertitel die erste Warnung zu verkünden. Sind nur «Ist-Zustände» (?) dem Illusionären ausgesetzt, nicht aber «Soll-Zustände» (?)? Hängen beide «Zustände» zusammen, oder nicht? Woher kommen die «Soll-Zustände», wer ist für diese verantwortlich? Fragen über Fragen. Auffällig ist auch die Vermischung verschiedener epistemologischer Bereiche inklusive ihrer jeweiligen Sprache, bspw. Kybernetik, Moralphilosophie etc. Der Academia-Market, wie viele Märkte derzeit, ist auch völlig überdreht, dies das Urteil vieler. Ich habe bis «…zwischen «normalem» und psychisch gestörtem Verhalten…» gelesen, dann zu Ende gelesen «mit ausgeschaltetem Gehirn», darauf diesen Kommentar geschrieben, und jetzt klicke ich weg und mache etwas, das mir gut tut, es ist Samstag morgen, Silvester des Jahres 2022, davon bin ich überzeugt.

  • am 31.12.2022 um 15:53 Uhr
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    …und was meinen sie zu der in letzter Zeit häufig angewendeten Formulierung:
    «XY erklärt warum…….» klar, oder?

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 2.01.2023 um 10:03 Uhr
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      Was stört Sie daran? Die Verwendung von «erklären», wenn jemand bloss etwas sagt, ohne die Sache zu klären? Oder die Satzkonstruktion mit «warum»? Für mich ist beides in Ordnung, nur müsste vor «warum» natürlich ein Komma stehen.

  • am 2.01.2023 um 12:19 Uhr
    Permalink

    Natürlich trifft es zu, daß Menschen sich Erklärungsmodelle suchen, und diese leider oft Verabsolutieren. Davor war auch die Psychiatrie nicht gefeit. Bemerkenswert ist, daß es Erklärungsmodelle gibt, welche, sofern nicht zur Absoluta deklariert, das Leben besser und angstfreier machen können. Vielleicht gibt es darum diese Spaltung von Atheisten, Agnostiker und spirituellen, religiösen Psychotherapeuten. Trotzdem trifft dieser Beitrag den Kern der letzten Jahre, wo unsichere wissenschaftliche Resultate als Absoluta publiziert wurden, oder persönliche Meinungen als Tatsache verkauft wurden, und somit das Geschäft mit der Angst Neurosenblüten gebar, welche viel Schaden angerichtet hatten. Das sind traurige Tatsachen.

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