Willensstarke Bundesrätin aus einem speziellen Industriekanton
psi. Dieser Bericht gehört zur Kritik der Medienberichterstattung zur Wahl Elisabeth Baume-Schneiders in den Bundesrat.
Kurz vor eins fährt am Donnerstag der Extrazug mit der neugewählten Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider in deren Heimatkanton Jura. Mit an Bord ihre SP-Parteikollegin Simonetta Sommaruga, deren Sitz in der Bundesregierung sie im neuen Jahr übernimmt, ein paar Dutzend Mitglieder des National- und Ständerates, SP-Kollegen, die sie gewählt haben, und ein paar Bürgerliche, die sie nicht gewählt oder doch gewählt haben. Mit rot oder grün uniformierten Weibeln des Bundes und der Republik Jura, mit Gästen aus Bern und anderen Kantonen, JournalistInnen und auch ein paar PolizistInnen.
Im Medien-Wagen beginnt rasch ein Gespräch mit dem SGB-Gewerkschaftschef und Waadtländer SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard. Ihn trifft die Wahl von Elisabeth Baume Schneider auch persönlich: Der ehemalige Waadtländer Regierungsrat galt weitherum als hochwahrscheinlicher Nachfolger des Freiburger Bundesrats Alain Berset, wenn dieser, vielleicht bald einmal zurücktreten sollte. Das ist jetzt vorbei. Mit der welschen Jurassierin auf dem Sitz von Simonetta Sommaruga geht der Berset-Sitz fast sicher einmal an einen Mann aus der Deutschschweiz. Der Politprofi Maillard wirkt in keiner Weise zerknirscht. Mit Bundesratsplänen habe er schon früher abgeschlossen. Themenwechsel: Man redet zum Beispiel über Donald Trump.
Eine Woche nach dem struppigen Wahltag verläuft die stündige Fahrt ohne Aufregung. Der Zug fährt über Biel nach Delémont. Dann: Kurz vor Ankunft in der Kantonshauptstadt, stoppt der Zug ausser Fahrplan in Moutier. Man erinnert sich: Hier hatte der Kanton Bern, der als Schweizer «Grossmacht» von den Stadtgrenzen Basels bis an die Walliser Alpenkämme reichte, mit grossen Polizeiaufgeboten aus mehreren Deutschschweizer Kantonen wiederholt Aktionen von Jura-Separatisten abgewehrt. Als 1978 alle Schweizer Kantone, inklusive Bern, in einer historischen Verfassungsänderung die Gründung des Kantons Jura genehmigten, blieb die zwischen Separatisten und Berntreuen bös gespaltene Kleinstadt im Wartsaal. Zweimal haben die StimmbürgerInnen im Rahmen des vereinbarten Trennungsprozederes für einen Beitritt zum neuen Kanton gestimmt. Einmal hat der Kanton Bern die Abstimmung für ungültig erklärt. Auch das zweite Mal gab es Einsprachen. Der Kanton Bern zeigt keine Eile im Vollzug des Volkentscheids. Jetzt soll Moutier 2026 – vielleicht nach einer weiteren Abstimmung – dem Kanton Jura übergeben werden.
Aber die Zeiten haben sich geändert: Keine politische Aktion mehr in Moutier. Keine JurassierInnen, die der neuen Bundesrätin in ihrer zukünftigen Grenzstadt ohne Einwilligung Berns gratulieren wollen.
Ein IC-Zug fährt vorbei, das Signal dreht auf grün. Um 14 Uhr erreicht der Extrazug Delémont.
Und dann erklingt die «Rauracienne»
Auf einem roten Teppich betritt die Bundesrätin die Kantonshauptstadt. Es wird laut geklatscht. Man ruft «Bravo». Hunderte Kinder schwenken Fähnchen. Ebenso viele Schweizer- wie Jura-Fähnchen. Die neue Bundesrätin wird von lokalen und kantonalen Autoritäten willkommen geheissen. Und zum ersten Mal für heute hört man die «Rauracienne». Der legendäre Separatistenführer Roland Béguelin soll 1950 in das alte Kampflied die territoriale Maximalforderung der JurassierInnen in den Text hineingedichtet haben. «Von den Ufern des Bielersees bis zu den Toren Frankreichs» solle der Jura befreit werden. Nach der Gründung des eigenen Kantons wird die «Rauracienne» erneut umgetextet und zur offiziellen Hymne des Kantons erhoben. Jetzt lässt das Lied «La Neuveville» und Biel friedfertig den BernerInnen.
Unverändert blieb der Refrain: «Unissez-vous et serrez la main» (Vereinigt euch und reicht euch die Hand). Mindestens dreimal wird die Rauracienne heute gesungen. Jedes Mal reichen sich hunderte die Hand.
Vor 15 Uhr fährt der Festzug weiter. Ziel ist «Les Breuleux», Wohnort von Elisabeth Baume-Schneider. In Glovelier wird umgestiegen von der SBB-Normalspur auf die kleine, rote Jurabahn. Auf dem Triebwagen steht heute statt einer Ortsbezeichnung: «Bravo Elisabeth». Die Fahrt in die Dämmerung bietet Zeit für geografische und politische Erkenntnisse: Dieser Kanton ist nicht gross, aber die inneren Wege sind aufwändig: Die Fahrt in die Freiberge über Saignelégier nach «Les Breuleux» dauert fünfviertel Stunden länger als von Bern bis Délemont. Und wer von Glovelier per SBB weiterfährt, über Porrentruy durch die Ajoie bis an die französische Grenze, braucht nochmals mehr als eine halbe Stunde. Von dort geht es dann aber sehr schnell: per TGV nach Paris in gut zwei Stunden.
«Ich vergesse nicht, woher ich komme»
In «Lex Breuleux» zieht die Gästeschar in die stattliche Kirche, zum Höhepunkt dieses Festtages. Sie wird randvoll. Auf der Empore spielt eine Band. Der Gemeindepräsident erzählt ein paar Geschichten und versichert, man wolle der Bundesrätin in ihren Dorf helfen, es auch in Bern gut zu machen. Es redet die Präsidentin der Kantonsparlaments. Auch sie wird persönlich. Und dann wieder die Elisabeth: Jetzt sei sie zuhause, «chez moi». Zuhause sein bedeute, sich gut und vertrauensvoll zu fühlen. Zuhause sein, heisse Teil einer Gemeinschaft zu sein. Sie hoffe, dass sich jeder Mensch irgendwo wirklich zuhause fühlen könne. In Ihrem künftigen Departement an der Spitze des Justiz- und Polizeidepartements sehe sie beim Thema Migration ganz besonders die vitale Notwendigkeit, dass sich Menschen wirklich aufgenommen, aufgehoben fühlen. «Mit Respekt und gebotener Demut, aber auch mit Vertrauen und Mut» wolle sie ihre neue Aufgabe angehen. «Ich vergesse nicht, woher ich komme. Das wird mir erlauben zu wissen, wohin und mit wem ich gehe.»
Emotionale Worte und ganz ohne Pathos. Dann wieder diese «Rauracienne». Über Kirchenbänke und zwischen Jurafahnen hinweg reicht man sich wieder die Hand. Die Menschen sind sichtlich ergriffen: Ein ausserordentlicher Moment im Leben. Stolz auf ihren Kanton, der sich die Unabhängigkeit von Bern erkämpft hat. Stolz auf die Schweiz, in der verfassungsmässige Rechte und Institutionen es ermöglichten, diesen Konflikt nach sehr vielen, sehr schwierigen Jahren friedlich zu regeln. Und jetzt die jurassische Bundesrätin. Die ganze Kirche applaudiert. Man ruft Bravo. Ein paar Junge wagen in der Kirche begeisterte Pfiffe. Neben mir sagt Paul Rechsteiner, der vor kurzem seinen Rücktritt als St. Galler Ständerat bekannt gegeben hat: «So öppis gits susch niene». So geht es mir auch.
Täglich ein Blumenfoto an Simonetta Sommaruga geschickt
Dann trinken auf der Strasse vor der Kirche alle Glühwein und essen die jurassische Spezialität Toétché jurassien, zu Deutsch St. Martins Torte. Da steht eine alte Strassentafel: «Rue de l` Industrie». Soll da noch jemand behaupten, der Jura sei ein Landkanton.
Zum Schluss, am Bankett für sehr viele geladene Gäste, wo unter anderem Zirkusartisten aus der Region Kunststücke zeigen, ist das Leben schon fast wieder ganz normal. Aber noch einmal wird es in der Mehrzweckhalle speziell: Die neue Bundesrätin verabschiedet ihre Vorgängerin. Und Simonetta Sommaruga, die man sonst selten emotional erlebt hat, erzählt, wie Elisabeth ihr, als ihr Mann schwer erkrankte, jeden Tag ein Bild von einer Blume aus dem Garten geschickt habe. Die beiden Frauen umarmen sich. Alle im Saal stehen auf und applaudieren der Berner Bundesrätin lang.
Industriekanton kämpft an der Peripherie
Der Kanton Jura ist ein Industriekanton an der Peripherie, aber sicher kein Bauernkanton. Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) zeigen, wo sich der Kanton Jura wirtschaftlich im Schweizer Gesamtkontext bewegt:
Schweizweit waren 2019 noch drei Prozent der Arbeitskräfte in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt. Im Jura waren es noch 6,8 Prozent, mit einer Konzentration im Westzipfel des Kantons, in der Ajoie hinter dem Col des Rangiers. Im Jura arbeiten 36 Prozent im Industrie- und 54 Prozent im Dienstleistungssektor. Schweizweit arbeiten noch 20 Prozent in Industrie- und 76 in Dienstleistungsbetrieben. Der Kanton Jura ist also keinesfalls ein Bauernkanton. Die Industrie richtet sich weniger auf die Romandie aus und nähert sich wirtschaftlich dem eine halbe Stunde entfernten Grossraum Basel.
Der Jura gehört nicht zu den Gebieten am Zuger-, Zürich- und Genfersee, die dank Steuerprivilegien mit globalen Milliarden schäumen. Schweizweit wird in den Regionalportraits 2021 des BFS für das Jahr 2019 ein Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Person von 84’518 Franken ausgewiesen. Spitzenreiter war der kleine Kanton Zug, wo seit Jahrzehnten dank rekordtiefen Steuersätzen für Briefkastenfirmen und real existierende Firmensitze immer mehr globale Milliarden-Unternehmen hohe Millionenbeträge in die Staatskasse führen, wo weit überdurchschnittlich viele Anwälte und Treuhänder mit hohen Einkommen am günstigsten Ort der Schweiz Steuern zahlen und wo sichtbar ein Boom für Luxusbauten blüht. Zug weist so ein Rekord-BIP pro Kopf von 161’000 Franken aus.
Auch die Kantone Nidwalden und Schwyz folgen diesem Muster. Aber das BIP pro Kopf steigt dort mit 73’729 bzw. 62’040 Franken weniger, weil nur wenige Gemeinden mit Seeblick im Steuerparadiesmodus geschäften.
Der Kanton Jura arbeitet abseits dieser globalen Milliardenströme und erreicht mit einem BIP pro Kopf von 68’876 Fr. nicht einmal die die Hälfte von Zug.
Bescheidener Finanzausgleich
Der Kanton Jura profitiert von Ausgleichszahlungen, die vom Bund und finanzstarken Kantonen an Kantone bezahlt werden, die auf dem Resourcenindex unter dem nationalen Mittel von 100 Punkten stehen. Der Kanton Jura figuriert hier mit 66.7 Indexpunkten hinter dem Wallis (63.8 Punkte) an zweitletzter Stelle. Er erhält nach Zahlen des Finanzdepartements (EFD) 2023 155 Millionen Franken Ausgleichszahlungen.
Den höchsten Stand erreicht Zug mit 256 Indexpunkten. Der Kanton zahlt mit 366 Millionen am meisten in den Ausgleichstopf. Schwyz erreicht 173 Punkte und zahlt 197 Millionen.
Der im Finanzausgleich weitaus schwergewichtigste Empfängerkanton ist mit 77.7 Punkten und Gesamteinnahmen aus dem Ausgleich von über einer Milliarde Franken der grosse Kanton Bern. Das zeigt: Der Schweizer Finanzausgleich kann kleinen Kantonen problemlos etwas bringen. Aber wenn es Bern einmal wirklich schlecht gehen sollte, frisst der grosse Kanton den Ausgleichstopf rasch leer.
Mit Gesamtauszahlungen von knapp vier Milliarden pro Jahr bei einem nationalen BIP von rund 750 Milliarden ist der Finanzausgleich auch kein Instrument, das an der sehr ungerechten Einkommensverteilung im Land etwas ändern kann.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Grossen Dank an Richard Aschinger !
Ein publizistisches Labsal nach all den giftigen, schweissig missgünstigen Pressekommentaren der vergangenen Tage ! Und obendrein eine informative Würdigung des jüngsten Kantons der Schweiz. Ein überfälliger, freundlicher Bericht über den Kanton Jura, zwar hinter den sieben Bergen gelegen, aber dessen ungeachtet alles andere als ein Land von Hinterwäldlern !