Humanitäre Hilfe: Guter Ruf, viele Probleme
Über zwölf Millionen Franken: So viel hat die Schweizer Bevölkerung in nur einer Woche für Nothilfe in Ostafrika locker gemacht, wie die Glückskette am 1. Dezember mitteilte. Das ist ein beachtliches Resultat – und ein bitter nötiges dazu. Denn Martin Griffiths, Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen und damit oberster humanitärer Helfer der Welt, zeichnet ein düsteres Bild. Das Horn von Afrika – Kenia, Somalia und Äthiopien – erlebt derzeit die schlimmste Dürre seit 40 Jahren; diese Länder stehen kurz vor einer akuten Hungersnot. Über 36 Millionen Menschen sind davon betroffen.
Ursache ist die Klimakrise
Griffiths spricht Klartext: Auslöser dieser Katastrophe sei «massgeblich die Klimakrise», sagt er in einem Interview mit dem Bund. «Diese Länder haben die Klimaproblematik nicht verursacht, aber sie leiden unter den Folgen des Verhaltens der Industriestaaten, die für den Grossteil des Ausstosses von Klimagasen verantwortlich sind.» Doch «bisher ist so gut wie kein Geld in diesen Ländern angekommen, um dort die Resilienz gegen die Folgen des Klimawandels zu stärken. Das ist ein klares Beispiel für die Ungerechtigkeit zwischen dem globalen Süden und dem Norden.» Die humanitären Organisationen müssten sich «stärker in die Klimadiplomatie einbringen und laut vernehmbar die Botschaft der betroffenen Gemeinschaften einbringen.»
Wurzeln bleiben unberührt
Damit spricht der Uno-Nothilfekoordinator ein grundlegendes Dilemma an: Humanitäre Organisationen leisten Hilfe in einem äusserst schwierigen Umfeld und häufig bei Katastrophen, die menschenverursacht sind. Sie kommen zum Einsatz, um Symptome zu bekämpfen, ohne die Wurzeln der problematischen Situationen (soziale Ungleichheit, wirtschaftliche Ungerechtigkeiten, Kriege, Umweltkatastrophen, Klimaerwärmung etc.) ins Visier nehmen zu können. Der Historiker Joël Glasman, Professor an der Universität Bayreuth und spezialisiert auf Geschichte und Soziologie der humanitären Hilfe, weist allerdings darauf hin, dass vor allem die Klimaerwärmung für humanitäre Organisationen ein grosses Thema sei. Sie befürchten häufigere Katastrophen wie Dürren, Hitze, Hochwasser, starke Stürme. So arbeitet etwa die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières) eng mit der Klimaforschung zusammen, um die möglichen Folgen der Erderwärmung auf die Gesundheit des Menschen zu untersuchen.
Hohes Ansehen und grosse Beliebtheit
Humanitäre Organisationen geniessen in der Öffentlichkeit denn auch hohes Ansehen, sie gehören zu den beliebtesten Institutionen überhaupt. Prominente werben für sie, immer mal wieder reicht es für einen Friedensnobelpreis – und jedes Jahr wachsen ihre Finanzmittel. Das gute Image kommt nicht von ungefähr: Die humanitären Organisationen pochen in ihrem Verhaltenskodex auf Menschlichkeit und strikte Neutralität. Sie erheben den Anspruch, unparteiisch zu handeln, also ohne lokale Interessen, ohne ethnische, religiöse oder politische Vorbehalte. Joël Glasman weist aber auch auf Probleme hin: «Hinter dem Deckmantel der humanitären Hilfe verstecken sich nicht selten realpolitische Ziele». Denn Hilfsorganisationen müssten auf ihre Geldgeber Rücksicht nehmen, und letztere versuchten natürlich, sie in ihrem Sinn zu lenken.
In einem Beitrag auf der Plattform Geschichte der Gegenwart zeigt Glasman, dass es trotz besten Absichten immanente Widersprüche und Gefahren gibt: «Humanitäre Organisationen wollen überall agieren dürfen, ohne von lokalen Gemeinschaften gewählt worden zu sein. Sie wollen bestimmen, wer was bekommt, ohne parteiisch zu sein. Sie wollen über Leben und Tod entscheiden, ohne politisch zu sein.»
Hohe «Steuern» an Kriegsparteien
Humanitäre Hilfe findet eben nie im politikfreien Raum statt. In Kriegs- und Konfliktgebieten ist es kaum möglich, absolut neutral, unparteiisch und allein nach der Bedürftigkeit der Notleidenden zu handeln. Nahrungsmittellieferungen beispielsweise fallen immer wieder Regierungen und Warlords in die Hände. Glasman betont, dass «in solchen Fällen Hilfe Kriege verlängern kann». Gerade in konfliktreichen Gebieten wie Somalia und Äthiopien ist diese Gefahr besonders gross. Nicht selten erhalten Hilfsorganisationen nur dann Zugang zu einem Gebiet, indem sie jene bezahlen, die dieses Gebiet kontrollieren – eben Warlords oder Regierungsbehörden. Diese versuchen, einen möglichst grossen Teil der Hilfsgüter für sich abzuzweigen; Schätzungen schwanken zwischen 15 und 80 Prozent. «Eine ‹Steuer› von 25 bis 30 Prozent scheint ein plausibler Durchschnitt zu sein», wie es in der entwicklungspolitischen Zeitschrift Welt-Sichten heisst: «Belegt ist dieser Prozentsatz für Zahlungen von Tsunami-Hilfsprogrammen an indonesische Soldaten in der Provinz Aceh, in der eine Guerilla-Gruppe operierte und humanitären Organisationen viel daran gelegen war, Zugang zu der jahrelang abgeschotteten Region zu erhalten.»
«Zunehmend anti-humanitäre Haltung»
Jüngst hat auch Christos Christou, internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen, bestätigt, wie schwierig es ist, zu den Hilfsbedürftigen zu gelangen: «Wir sehen eine zunehmend anti-humanitäre Haltung», sagte er in den Tamedia-Zeitungen. Als Beispiele nennt er die Ukraine, wo seine Organisation immer noch versuche, Zugang zu einigen russisch besetzten Gebieten zu erhalten. In Nigeria seien es nicht-staatliche bewaffnete Gruppen, die es schwierig machten, die Menschen zu erreichen. Gleichzeitig werde die Hilfsorganisation von den offiziellen Behörden beschuldigt, Terroristen zu unterstützen: «Das Narrativ des Kampfes gegen den Terrorismus verdrängt gerade die internationalen humanitären Ziele.»
Hilfsorganisationen sind auch Konkurrenten
Internationale Organisationen und regierungsunabhängige Organisationen (NGO) haben sich klare Richtlinien für humanitäre Hilfe gegeben. Einige Grundsätze des «Verhaltenskodex’ des Roten Kreuzes und der NGO» wurden teilweise auch von Staaten übernommen. Trotzdem gibt es Unterschiede zwischen den Akteuren. «Die Europäische Union, die USA und die Golfstaaten gehören zu den grössten Geldgebern von humanitärer Hilfe. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Länder aus sehr unterschiedlichen Interessen heraus handeln», hält Glasman fest. Und trotz gemeinsamer Grundsätze und eines breiten Konsenses humanitärer Akteure sei die Idee einer harmonischen humanitären Gemeinschaft «ein Mythos: Hilfsorganisationen sind vielfältig und stehen in Konkurrenz zueinander, etwa für Finanzmittel und öffentliche Aufmerksamkeit.»
Die Marktdynamik des humanitären Geschäfts
Auch der erwähnte Beitrag der Zeitschrift Welt-Sichten lenkt den Blick auf den Marktcharakter der humanitären Hilfe. Durchschnittlich 1000 (eintausend) internationale und nationale NGOs strömen heute zu jedem aktuellen Krisenschauplatz. Die Quintessenz des Beitrags ist denn auch ernüchternd: «Humanitäre Hilfe als kommerzielle Angelegenheit zu betrachten, wird alle empören, die sie als heilende Arbeit sehen, die auf Werten, Prinzipien und Bedürfnissen basiert. Die meisten Menschen, die humanitäre Helfer werden oder an Hilfsorganisationen spenden, tun dies, weil ihnen das Leid anderer Menschen nicht gleichgültig ist – und nicht, weil sie einen Gewinn erzielen wollen. Es ist jedoch kurzsichtig, die Marktdynamik des humanitären Geschäfts, bei dem es um viele Milliarden US-Dollar geht, zu ignorieren. Angebot, Nachfrage, Wettbewerb, Marktverzerrungen, Monopole, Kosten, Preis, Effizienz und Vorlieben von Investoren haben Einfluss darauf, wohin Geld in Krisensituationen fließt und wie Hilfsorganisationen reagieren. Der Markt ist nicht die ganze Wahrheit über das globale humanitäre Projekt, aber er ist ein wesentlicher Bestandteil davon.»
Haiti als Beispiel eines Desasters
Dass unter diesen Bedingungen einiges schieflaufen kann, zeigt eine Dokumentation von Deutschlandfunk Kultur anhand einiger Beispiele. In der Dimension des Scheiterns am eindrücklichsten ist Haiti. Das Erdbeben von 2010 hinterliess den Karibikstaat völlig verwüstet: Die Hauptstadt Port-au-Prince lag in Schutt und Asche, 300’000 Tote, gegen zwei Millionen Obdachlose. Eine beispiellose Hilfsmaschinerie lief an. Innert kurzer Zeit standen zwischen 10 und 14 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern bereit. Und jetzt? Der versprochene Wiederaufbau hat nie stattgefunden, neu erstellte Siedlungen blieben leer, Schulen wurden nicht genutzt, Geld versickerte in unklaren Kanälen.
Bedürfnisse vor Ort nicht berücksichtigt
Wie konnte das System derart versagen? Ein Erklärungsversuch von Deutschlandfunk Kultur: «Es waren schätzungsweise 40 000 Hilfsorganisationen in Haiti – und die haben alle ihre eigene Agenda gehabt. Alle Hilfe war eigentlich fremdbestimmt und knüpfte nicht an die Bedürfnisse vor Ort an und nicht an die Idee, dass Hilfe zur Selbsthilfe das Einzige ist, was den Haitianern geholfen hätte. (…) Womöglich hat das Scheitern der Hilfe in Haiti mit den Helfern aus dem globalen Norden zu tun.» Zumindest teilweise hat man die Lehren daraus gezogen: Internationale Geldgeber und Hilfsorganisationen einigten sich beispielsweise auf eine effektivere Koordination. Allerdings werden Hilfsprojekte nach wie vor zu wenig lokal verankert. Gemäss der Dokumentation von Deutschlandfunk Kultur gehen nur zwei Prozent des weltweiten Hilfsbudgets direkt an einheimische Organisationen – einer der Hauptkritikpunkte im Fall Haiti.
Hilfe wichtiger denn je zuvor
Bei allen Kritikpunkten und Mängeln darf nie vergessen werden, unter welch schwierigen Bedingungen die humanitären Organisationen – auch bei bester Koordination und Organisation – ihre Arbeit verrichten müssen. Und vor allem: Humanitäre Hilfe ist heute so wichtig wie kaum je zuvor. Das zeigen die jüngsten Zahlen des Global Humanitarian Assistance Report vom August 2022: Im Jahr 2021 ist die Zahl der Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, gestiegen. Schätzungsweise 306 Millionen wurden als bedürftig eingestuft, das sind 90,4 Millionen mehr als im Jahr 2019 vor der Covid-19-Pandemie.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Das humanitäre Hilfe auch ein Geschäft ist, ist eigentlich lange bekannt. Macht und Machtmissbrauch sind wie auch Bestechung und Vetternwirtschaft notwendige Übel heisst es dann. Aber ist dem wirklich so?
Muss man Regierugen Hilfe aufzwingen? Oder kann man Regierungen nicht auch dazu bringen dafür zu sorgen das die Hilfe dort ankommt wo sie hin muss auch ohne sie bezahlen zu müssen? Warum tun sich internationale Gemeinschaften da so schwer ihre Macht und Kraft ein zu setzen das humanitäre Arbeit auch zu 100% humanitär ist?
Es könnte anders gehen, aber dazu müsste man erstmal wieder zurück zu den Wurzeln, weg vom Geschäft. Und das kostet in dem Fall auch wieder Menschenleben der unschuldigsten an den Miseren.
So kann es aber auch nicht weiter gehen…