Sprachlupe: La Suisse latine n’existe pas non plus

Daniel Goldstein /  Bei der Bundesratswahl geht es auch um die «angemessene Vertretung der Sprachregionen». Wer’s genau nimmt, tappt in eine Grauzone.

«Un siège alémanique» sei seitens der Sozialdemokraten zu besetzen, hat der freisinnige Fraktionschef Damien Cottier in «Le Matin Dimanche» zur bevorstehenden Bundesratswahl gesagt. Sein Parteichef Thierry Burkart wurde in dem Sinn zitiert, dass die Nomination von Elisabeth Baume-Schneider ein möglicher Grund wäre, bei der Wahl von den SP-Vorschlägen abzuweichen. Nun ist es tatsächlich so gekommen, dass neben der Jurassierin die Baslerin Eva Herzog als einzige Deutschschweizerin auf dem Wahlvorschlag steht (den man gern «Ticket» nennt, als ginge es darum, ja keine Landessprache zu bevorzugen).

Würde Baume-Schneider gewählt, so sässen nur noch drei Mitglieder aus der Deutschschweiz im Bundesrat, was erst einmal kurz vorgekommen ist, vor gut hundert Jahren. Aber was heisst da Deutschschweiz? Bei einsprachigen Kantonen ist es klar, bei der Walliserin Amherd und dem Freiburger Berset aufgrund der Muttersprache ebenfalls. Aber wäre jemand perfekt zweisprachig aufgewachsen und womöglich noch in einer zweisprachigen Gemeinde zuhause, kämen die Sprachenzähler in arge Nöte.

Anspruch auf Mehrheit?

Und doch ist solche Zählerei gefragt, verlangt doch die Bundesverfassung (erst seit 2000), bei der Bundesratswahl «darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind». Cottier leitet aus «Geist und Buchstaben» dieser Klausel ab, dass der freie SP-Sitz der Deutschschweiz zustehe (und jener der SVP ebenso, nur brauchte er das nicht eigens zu sagen). Mit andern Worten: Eine Deutschschweizer Minderheit wäre nicht angemessen. Als Romand darf er so etwas gewiss sagen – dieselbe Aussage aus deutschsprachigem Mund hätte das Zeug zum Aufreger jenseits des Röstigrabens (ein seltsames Bild – wenn schon, eignete sich das Material eher für einen Wall).

In der Sicht der FDP-Spitze wäre es offenbar auch kein mildernder Umstand, dass Baume-Schneider mit Schweizerdeutsch aufgewachsen ist – im Sinne der Verfassung verträte sie die französische Sprachregion, wie einst die aus der Deutschschweiz stammende Genferin Ruth Dreifuss. Nicht nur die rechtliche Definition der Sprachregionen ist unscharf, weil sie ja gar keine juristischen Körperschaften sind; auch der Begriff «vertreten» ist problematisch: Wie waschecht muss jemand sein, und umfasst das Vertreten auch Interessenpolitik für die Vertretenen? Das läge eigentlich auf der Hand, aber gemeinhin erwartet man für den Bundesrat ebenfalls, was die Verfassung für die Bundesversammlung sagt: «Die Mitglieder … stimmen ohne Weisungen.»

Lateinische Politik?

Nicht nur das dritte Mitglied aus der Romandie wäre Baume-Schneider, sondern auch das vierte aus der «lateinischen Schweiz», von der jetzt öfters die Rede ist – also von einer Multi-Sprachregion mit Französisch, Italienisch oder Romanisch Sprechenden. Da gibt es die offensichtliche Gemeinsamkeit, dass diese Regionen nicht der Deutschschweiz angehören, sondern je und insgesamt einer Minderheit mit lateinischem Sprachursprung. Aber sonst? Soweit bei Volksabstimmungen ein Röstigraben erkennbar ist, setzt er sich durchaus nicht immer im ebenso unsinnigen Polentagraben fort, und nach einem eidgenössischen Pizokelgraben ist meines Wissens noch nicht geforscht worden.

Wer Argumente sucht, weshalb «La Romandie n’existe pas», findet sie unter diesem Titel im «Schweizer Monat» vom Juli 2010, aus der Feder der freisinnigen alt Nationalrätin Suzette Sandoz. Dort steht auch: «Die Kantonsgrenzen sind Garanten des bundesstaatlichen Friedens, genau dadurch, dass sie die Bildung monolithischer Sprachblöcke verhindern.» Daraus ergibt sich erst recht: «La Suisse latine n’existe pas». Dass und warum «La Deutschschweiz n’existe pas», habe ich im Oktober 2012 in «Die Politik / La politique» beschrieben.


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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 3.12.2022 um 14:41 Uhr
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    Kenne mich leider nur schlecht in Schweizer Geschichte aus, aber wäre die logische Folge der Existenz mehrerer Sprachen innerhalb eines so kleinen Territoriums und einer so kleinen Bevölkerung nicht eine unausweichliche sprachliche Durchmischung mit vielen zwei- oder gar dreisprachigen Bewohnern? Wer schweizweit Geschäfte und Kontakte halten möchte, wird doch mit nur einer Muttersprache nicht weit kommen, oder? Im späten k.u.k.-Imperium waren bsp.-weise viele Menschen mehrsprachig; Handel und Wanderarbeit führten auch in der Unterschicht zu polyglottem Sprachverständnis. In den Grenzgebieten Syriens, der Türkei und des Irak gibt es auch eine Mehrsprachigkeit von Türkisch, Arabisch, Aramäisch und Kurdisch. Viele Afghanen beherrschen von Kindheit mehrere Sprachen, weil man sonst im Land überhaupt nicht zurechkäme.

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