WWF-Report: Europa ernährt sich auf Kosten des globalen Südens
Weltweit werden genug Lebensmittel produziert, um alle Menschen zu ernähren, sogar im Jahr 2050, wenn schätzungsweise 9,7 Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Dies gelingt aber nur, wenn Lebensmittel nachhaltig durch regenerativen Anbau produziert, wertgeschätzt und vor allem gerechter verteilt werden. Um dies zu erreichen, fordert ein im Mai 2022 veröffentlichter Report des WFF, dass die EU folgende Massnahmen ergreift:
- Der Agrarsektor muss ökologisch und nachhaltig ausgerichtet werden. Nutztiere müssen auf die Weide. Der Anbau von Leguminosen muss gefördert werden.
- Die Zahl der Nutztiere muss den verfügbaren Flächen angepasst werden, um Böden nicht übernutzen und Gewässer nicht zu verschmutzen.
- Es braucht ein nachhaltiges und besseres Management beim Fischfang und in der Aquakultur.
- Die Verluste an Lebensmitteln müssen halbiert werden.
Die EU ist der weltweit grösste Exporteur von Agrar- und Lebensmittelprodukten und der drittgrösste Importeur nach den USA und China. Was sich positiv auf den Welthandel auswirkt, ist für die weltweite Nahrungsmittelversorgung eher kontraproduktiv. So lautet das Fazit eines WWF-Reportes, der im Mai dieses Jahres veröffentlicht wurde.
Auf den ersten Blick scheinen Industriestaaten mehr Nahrungsmittel in arme Länder zu exportieren als sie von dort importieren. Die EU exportierte im Jahr 2020 Lebensmittel und landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 184 Milliarden Euro. Dem gegenüber standen Importe im Wert von nur 122 Milliarden Euro. Die EU exportierte also für rund 62 Milliarden Euro mehr als sie importierte. Doch diese Zahlen täuschen. Denn bewertet man den Agrar- und Lebensmittelhandel danach, was die Menschen tatsächlich ernährt, stellen sich die Dinge anders dar.
- Die EU importiert geringwertige Rohstoffe und verarbeitet sie zu Industrieprodukten, die sie dann exportiert. Beispielsweise importiert die EU Kakao und exportiert Schokolade. Sie importiert Futter-Soja und exportiert Milchprodukte. Doch Schokolade, aber auch teure Exportgüter wie Wein und Spirituosen, tragen nur wenig zur globalen Ernährungssicherheit bei.
- Die EU importiert exotische Früchte, die in Europa gar nicht oder nur in der warmen Jahreszeit wachsen. Das bringt den Anbauländern zwar Einnahmen. Aber wenn dort Land-Grabbing betrieben wird oder den einheimischen Bauern die fruchtbarsten Regionen weggenommen werden, um für den Export zu produzieren, schadet eine solche auf Export ausgerichtete Produktion der lokalen Ernährungssicherheit. Zudem gehen durch den Anbau von Exportfrüchten traditionelle Sorten und Artenvielfalt verloren, auch die lokale Wasserversorgung und Bodengesundheit leidet.
Hunger nach Fleisch zerstört Tropenwälder und Savannen und vertreibt Indigene
Der Anbau von Futtermitteln und anderen Agrarrohstoffen zerstörte nach Angaben des WWF von 2005 bis 2017 weltweit rund 3,5 Millionen Hektar Wald– eine Fläche, grösser als die Niederlande. In den letzten Jahren verwendete die EU jährlich im Schnitt 12,6 Millionen Tonnen importiertes Sojamehl für Futtermittel. Aus dem Soja wird einerseits Öl gepresst, das als Lebensmittel oder Treibstoff verwendet wird, andererseits wird proteinreiches Mehl zwecks Tierfutter gewonnen. Durch Rodung, Anbau und Export wurden jährlich schätzungsweise 900 Millionen Tonnen Kohlendioxid freigesetzt – etwa 40 Prozent der jährlichen EU-Emissionen. Fast ein Drittel der gerodeten Tropenwälder mussten Soja-Plantagen weichen.
Auch Palmöl zerstört die Tropenwälder nachhaltig. So wurden, um Palmöl für den Export in die EU zu gewinnen, im oben genannten Zeitraum von 2005 bis 2017– nach Angaben des WWF – durchschnittlich rund 70‘000 Hektar Tropenwald pro Jahr zerstört. Heute werden fast zwei Drittel des importierten Palmöls als Agrarkraftstoffverwendet.
Die Folgen sind verheerend:
Waldbrände zerstören die biologische Vielfalt und befeuern den Klimawandel. Laut der Nichtregierungsorganisation Global Witness nehmen die Konflikte zwischen vor Ort lebenden indigenen Gemeinschaften und Soja- und Viehzüchtern zu. So wurden in Südamerika zwischen 2012 und 2020 mindestens 150 Aktivisten getötet, weil sie ihr Land und natürliche Ressourcen gegenüber der Agrarindustrie verteidigten.
Einbrechende Fischbestände
Weltweit ist die EU der wertmässig grösste Importmarkt für Fisch. Wegen abnehmender Produktion innerhalb der EU sank der Selbstversorgungsgrad aus Fischerei- und Aquakultur in den letzten Jahren. Zeitgleich stiegen die Fisch-Importe. Denn europäische Konsumenten essen immer mehr Lachs, Forellen, Muscheln oder Shrimps. Etwa ein Viertel des verzehrten Fischs stammt aus Aquakultur. Die weltweite Produktion von Fisch und Meeresfrüchten erreichte 2019 einen neuen Höchststand von 214 Millionen Tonnen. Mehr als die Hälfte davon kamen aus der Fischzucht. Man füttert die Zuchtfische ausser mit Fischmehl und Fischöl aus der Fangfischerei immer öfter mit importierter Soja.
Seit längerem gelten ein Drittel der weltweiten Fischbestände als überfischt. In Nord-, Nordwest- und Westafrika werden mehr als die Hälfte der Fischbestände grösstenteils von ausländischen Flotten ausgebeutet, oft einhergehend mit Zwangsarbeit und Menschenhandel. Das bedroht nicht nur marine Ökosysteme und schwindende Meerestierarten, sondern auch Millionen Menschen, die von der Fischerei und Aquakultur leben, weil sie in hohem Masse von Fischproteinen abhängig sind.
Der fortschreitenden Klimawandel trägt zu geringeren Erträgen bei. Somit verschärfen sich die Konflikte um Ressourcen weiter.
Wertvolle Lebensmittel werden tonnenweise vernichtet
Rund ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel werden nie verzehrt. Glaubt man dem Food Waste Index des UN-Umweltprogramms, landen weltweit jährlich 931 Millionen Tonnen Lebensmittel von Privathaushalten, Einzelhandel und von der Lebensmittelindustrie im Müll. Darunter sind tonnenweise Bananen und andere Importfrüchte. Allein in der EU werden schätzungsweise 88 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet.
Ein noch grösseres Problem sind die Verluste in der Landwirtschaft: Weltweit gehen jährlich geschätzte 1,2 Milliarden Tonnen während oder kurz nach der Ernte verloren – etwa 15 Prozent der gesamten Produktion. Ursachen sind Dürren bzw. Hochwasser, landwirtschaftliche Überproduktion, schwankende Nachfrage, nicht normgerechtes Gemüse oder schlechte Lagerbedingungen. Hohe Verluste gibt es auch durch Beifang in der Industriefischerei. Rund neun Millionen Meerestiere werden jedes Jahr tot oder sterbend ins Meer zurückgeworfen, weil ihr Marktwert zu gering ist, weil sie zu klein sind oder nicht unter die Fangquote fallen.
All das verringert nicht nur die Nahrungsmittelsicherheit, sondern heizt auch die Klimakrise kräftig an: Der gesamte Lebensmittelabfall ist für acht bis zehn Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ich mache hier in Österreich die Erfahrung, dass immer mehr Menschen, unabhängig von Alters- und Einkommensniveau, auf Wochenmärkten und bei Direktvermarktern einkaufen. Die Qualität ist meistens ausgezeichnet, man kann sich über Haltungs- und Fütterungsbedingungen informieren und umgeht die gewaltigen Margen des Lebensmittelhandels. Viele Produkte, z.Bsp. Geflügel, gibt es auf Vorbestellung. Damit wird fast nichts weggeschmissen. Das meiste ist ohnehin saisonal und regional. Viele Erzeuger und Bauern haben ein gutes Einkommen und müssen sich Preise und Herstellung nicht mehr diktieren lassen. Das ist sicher im Vergleich zu den im Artikel beschriebenen Verhältnissen ein winziger Anteil am Lebensmittelmarkt, aber vielleicht eine Möglichkeit, die man ausbauen könnte.