Krankenkassen: In zehn Jahren 6,5 Milliarden Reserven angehäuft
«Eine Analogie zum ‹Rentenklau› in der 2. Säule der beruflichen Vorsorge ist nicht von der Hand zu weisen», sagt Josef Hunkeler. Der frühere Gesundheitsexperte beim Preisüberwacher hat die Krankenkassen-Zahlen des Jahres 2021 ausgewertet.
Seit 2012 haben die Krankenkassen ihr Reservenpolster der obligatorischen Grundversicherung von 3,7 Milliarden Franken auf 6,5 Milliarden Franken im Jahr 2021 erhöht. Ein Grund für die starke Erhöhung war eine neue Regulierung von 2012. Die vorgeschriebenen obligatorischen Mindestreserven wurden von 11,5 Prozent der bezahlten Leistungen per 2009 auf 23,7 Prozent per 2021 erhöht. Gleichzeitig stiegen die freiwilligen Reserven von 14,1 Prozent auf über 38 Prozent.
Im Einzelnen haben sich die Zahlen seit Einführung des KVG im Jahr 1996 wie folgt entwickelt:
Grundversicherung | Zunahme seit 1996 |
Zahl der Prämienzahlenden | 20 Prozent |
Prämieneinnahmen | 146 Prozent |
Bezahlte Leistungen der Kassen | 143 Prozent |
Verwaltungskosten | 49 Prozent |
Reserven | 249 Prozent |
Der gesamte Aufbau dieser Reserven – obligatorisch und freiwillig – entspricht seit der Einführung des neuen Obligatoriums 2012 etwa drei Prämienprozenten pro Jahr.
Ohne Reserven wären die Prämien also nach den Berechnungen Hunkelers drei Prozent weniger hoch.
Reserven sollten eigentlich dazu dienen, die Zahlungsfähigkeit der Kassen im Fall einer grösseren gesundheitlichen Katastrophe zu sichern. Doch die enorm hohen Reserven dienen nicht mehr dazu. Das zeigt das Beispiel der Krankenkasse CSS: Ihre Reserven genügten bereits im Jahr 2011, um das grösste Defizit, das die CSS je hatte, gleich viermal zu decken. Im Jahr 2020 genügten die Reserven, um das grösse je erlittene Defizit sogar mehr als dreizehnmal zu decken.
Anders ausgedrückt: Die CSS könnte ein anhaltendes solches Rekorddefizit mit den vorhandenen Reserven dreizehn Jahre lang finanzieren, ohne die Prämien erhöhen zu müssen oder auf eine Rückversicherung zurückzugreifen.
Selbst bei der häufig günstigeren Krankenkasse Assura liegt dieser Wert – auch nach enormen Zahlungen an den Risikoausgleich – immer noch bei drei Jahren.
Seit Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1996 hatten die Kassen nie grössere Defizite zu decken. Nicht einmal die Corona-Pandemie hat dieses System der Umlagefinanzierung ins Wanken gebracht.
Zu grösseren Schwankungen der Einnahmen kam es in der Vergangenheit nicht wegen Krisen der öffentlichen Gesundheit, sondern wegen neuer Regulierungen des Bundes: beispielsweise die Neuregulierung der Spitalfinanzierung ab 2012 oder der Umstieg von stationären auf vermehrt ambulante Behandlungen, welche die Kassen fast doppelt so hoch belasten, oder die Umsetzung der gesetzlich vorgeschriebenen Prämienverbilligung für junge Erwachsene ab 2019.
Eine weitere Regulierung war die Verbesserung des Risikoausgleichs. Diese führte bei einzelnen «Billigkassen» – fast alles Tochterfirmen grosser Kassen – zu Solvenzproblemen. Doch die grossen Gruppen wie CSS, Helsana, Sanitas oder ÖKK konnten ihre «Billigkassen»-Töchter per 1.1.2022 durch Fusionen innerhalb der Gruppen problemlos «sanieren».
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➔ Die vollständige Analyse der Reserven der Krankenkassen von Josef Hunkeler können Sie hier lesen
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Keine
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Na und? Ich bin froh, wenn die Krankenversicherung mit dem Reserve-Bestand wenigstens 2,5 Monate (mehr ist es nämlich nicht!) leistungsfähig bleibt, auch wenn keine Prämien einbezahlt würden! Mir scheint das keineswegs übertrieben. Die Reserven dienen daneben auch dazu, gröbere «Prämiensprünge» abzumildern und das Insolvenzrisiko zu minimieren, falls es einmal wirklich zu einem grossen unterjährigen Kostenschub z.B. aufgrund einer Pandemie käme. Bis jetzt scheinen wir da – mit Glück – bisher vorbeigeschrammt zu sein. Vergessen wir nicht, welche weitreichenden Folgen es hätte, wenn ein paar Versicherer nicht in der Lage wären, z.B. die Rechnungen von Spitälern zu bezahlen oder die von den Versicherten bereits bezahlten Arztrechnungen zurückzuerstatten. Krankenversicherer sind systemrelevant mit einem Jahresumsatz, der gegen 40 Mia. zusteuert und zehntausenden von Arbeitsplätzen, die direkt oder indirekt von einem funktionierenden Gesundheitswesen abhängen. Reserven sind daher o.k.!
Das Stimmvolk wollte 70 Krankenkassen parallel. Zum Vergleich: Eine Einheitskasse hätte soviel gespart, dass damit ganzjährig rund um die Uhr 350 zusätzliche voll ausgerüstete Intensivbetten inkl. Beatmungsapparatur und Fachpersonal einsatzbereit zur Verfügung stünden (Normalbestand in Nicht-Covid-Zeiten etwa 900 Betten).
Laut Preisüberwacher gibt es immer noch zu viele Betten in den Schweizer Spitälern. Das Limit wurde auch in Corona nicht erreicht.
Laut Kantonsregierungen reicht Applaus im Advent für Pflegende nach wie vor.
Bei einem bestimmten, weit verbreiteten Krankheitsbild geben Krankenkassen 4’000x mehr aus, als wenn eine natürlich vorkommende Substanz kontrolliert verabreicht würde.
Die drei Pyramiden in Basel weisen der Menschheit den Weg.
Der noch grössere Skandal liegt bei der Zunahme der Verwaltungskosten mit 49%!
Andere Branchen haben dank Skaleneffekten – wie hier bei 46% mehr Prämieneinnahmen bei nur 20% mehr Zahlenden – die Kosten der Verwaltung senken können. Zu den «Verwaltungskosten» zählt auch die Werbung, bzw. die agressive Anwerbung von Neukunden. Nicht zuletzt deshalb erhöhen sich laufend die «Gesundheitskosten», die wir mit den stets ansteigenden Prämien der räuberischen obligatorischen «Kassen» bezahlen müssen.
Ich habe mich bisher nicht mit diesen Fragen beschäftigt, aber was machen die Krankenkassen mit diesen enormen Reserven?
Werden diese auf der Suche nach Rendite investiert?
Und falls ja, wie risikofreudig? Wer zahlt, wenn sich die Krankenkassen verspekulieren?
Wer profitiert von eventuellen Gewinnen?
Dazu gibt es im beiliegenden Hintergrundpapier detaillierte Angben zu den Anlageerträgen aller Kassen für 2021 und 2018. Ein Grossteil der Kassen hat offenbar ein diversifiziretres Portefeuille mit einem relativ grossen Anteil an Aktien. Wenn auch die durchschnittliche Performance selbst im «guten» Börsenjahr 2021 nicht besonders gross ist, so gibt doch der symmetrische Verlust 2018 einen Hinweis auf diesen Aspekt der Anlagetätigkeit.
Bei den von der Finma beaufsichtigten VVG-Versicherer wird aber im Detail zwischen realisierten und Buchverlusten unterschieden, so dass für jede Gesellschaft ein Minimum an Information gegeben wird.
Das BAG hat sich schon immer i.S. Tansparenz schwer getan.
Störend bleibt natürlich, dass diese durch Prämien finanzierten Reserven in der Bilanz als «Eigenmittel» der Kassen verbucht werden, was alle Spekulationen über Kassenfehlverhalten offen lässt.