Kommentar

kontertext: Zum Beispiel Klingnau

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Siedlungsplanung: Auch im Jahr 2022 stehen sich Landschaftsschutz und Baulobby noch oft gegenüber. Eine Postkarte aus der Provinz.

Man nehme ein Städtchen, das sich «die Perle im Unteren Aaretal» nennt. Die Perle umsäume man mit letzten Resten einer historischen Weinbaulandschaft, Reben und Weglein, malerisch an den Hang geschmiegt. Obendrauf setze man einen Stadtrat als Organ der Lokalpolitik, beruflich oft dem Bau- und Planungs­gewerbe verbunden. Und man durchmische das Ganze mit einer ländlichen Be­völkerung, die in der bekannten Weise gespalten ist: im Ortskern viele Einhei­mische, in den Neubauquartieren viele Zuzüger, von denen die Einheimischen annehmen, sie würden allesamt im Geld schwimmen, nur weil sie zugezogen sind.

Diese Gemengelage kombiniere man mit einer brandneuen Idee: Wachstum! Das etwas abgelegene Städtchen an der Aare, einst stolzer Weinbaustandort, soll grösser werden und auf diese Weise vieles wettmachen, was die Jahrzehnte ihm geraubt haben. Denn vom einstigen kleinstädtischen Leben sind nur noch Relikte sichtbar: alte Bausubstanz. Verschwunden dagegen der Zusammenhalt, der belebte Ortskern, der lokale Detailhandel.

Was auch noch verblieben ist: einige letzte Baulandreserven. Dass man durch ihre Überbauung, vor allem in sogenannten Premiumlagen, die Misere nur ver­schärft und den Ortskern weiter schwächt: ein defaitistischer Gedanke, den man weit von sich weist. Weil sich aber Widerstand gegen das schöne Bauvorhaben regt, tritt der Stadtrat in corpore vor jene versprengte Schar, die zu Gemeinde­versammlungen zu erscheinen pflegt, kaum zehn Prozent der Stimmberechtigten. Mit einigen Folien wird das Projekt vorgestellt. Den Hörenden bläut man ein: Wenn euer Städtchen nicht wächst, wird es finanziell untergehen! Man appelliert an die alte Angst, die Provinz könnte von der Nabelschnur des Fortschritts abge­schnitten werden.

Die Antwort darauf: Prosperität, Zuzug, Erweiterung! Die Stadt soll sternförmig in die Landschaft hinauswachsen. Dabei müssen leider letzte Reize, die ihr ge­blieben sind, über die Klinge springen: die idyllische Lage, Kulturland, Naher­holungsräume, Lebensraum für Tier und Pflanze.

Und wie soll das konkret vonstattengehen? Man greife sich ein Filetstück dieses Grünraums heraus, vor Jahren eingezont, als die Baulandreserven noch gross waren, erstelle einen Erschliessungsplan und besänftige allfällige Gegner aus dem Öko-Lager mit etwas Dachbegrünung, mit dem Zauberwort Minergie und der Versicherung, es solle nur beste Architektur zum Zuge kommen. Man spricht von der Verwendung einheimischer Hölzer und von ‹innovativer Siedlungsrand­gestaltung›. Man betont, wie hoch der Beitrag der Grundeigentümer an die Erschliessungskosten sei – und hofft, damit sei’s getan und an der Urne werde wieder einmal der Geldbeutel über die Zukunftsfähigkeit obsiegen.

Die Landeigentümer:innen tät’s freuen, ebenso das Baugewerbe. Ist es Zufall oder wohlmeinendes Schicksal, dass unter den Profiteuren viele stadtbekannte Namen sind, Menschen aus alt-ansässigen Familien? Ein Schelm, wer solches denkt. Ein Schelm, wer denkt, die vielen Architektinnen und Bauunternehmer in den behördlichen Gremien könnten eigene Interessen verfolgen. Nicht doch, sie sind ausschliesslich dem Gemeinwohl verpflichtet! Und dieses Gemeinwohl lautet: Landverzehr.

«Vo nüt chunnt nüt», sagt ein Behördenvertreter und zwinkert dem besorgten Bürger zu. Wenn dieser Bürger findet, das Konzept des zentrifugalen Wachstums sei von gestern und verantwortlich für die Zersiedelung der Schweiz, beschimpfe man ihn als Verhinderer und Feind der wirtschaftlichen Prosperität. Und man spreche von massiven Entschädigungsforderungen betroffener Grund­eigentümer für den Fall, dass das Land von den kantonalen Behörden rückgezont werde. Solches drohe, wenn die Gemeinde die Erschliessung verbummle.

Traut sich ein nächster anzumerken, mit solchen Zubauprojekten schenke die Gemeinde ihr letztes Tafelsilber weg, verweist man ihn auf das Steuersubstrat, das damit angelockt werde, in Gestalt gutfrisierter, porschefahrender Mitbürger, die doch nur aus Wohlwollen nach Klingnau ziehen – weil sie dem Ort helfen wollen durch ihre Anwesenheit. Die schöne Aussicht als Draufgabe nehmen sie gern dazu, auch die ruhige Lage und das Restgrün vor den Fenstern.

Für den Stadtrat sind diese Zuzüger keine Profiteure, sondern Steuerzahler. Je mehr davon kommen, desto besser; je zahlungskräftiger, desto erfreulicher. Klingnau soll eine Blüte sein, die das Bessere Wohnen anzieht, und mit ihm das Geld, das dieses Bessere Wohnen ausgibt – leider anderswo, da es vor Ort kaum Standesgemässes zu kaufen gibt, mangels Einkaufsmöglichkeiten.

So weit, so ausgeschlafen. Wird man vielleicht später einmal gezwungen sein, Anrainer zu enteignen, um das Zufahrtssträsschen anzupassen an die Breite der Fahrzeuge, die zahlungskräftige Menschen heute brauchen, um sich auf Asphalt sicher zu fühlen? Da legt man sich lieber nicht fest und bemüht einen juristisch unverfänglichen Konjunktiv. Den Landwirt, dessen Weideland beschnitten ist, speist man dafür mit zwei ökologisch beispielhaft angelegten Bachübergängen ab. Und man legt einen Plan zur Erschliessung vor, von dem sich sagen lässt, er bringe allen Bewohnenden nur Vorteile, da mit ihm auch gleich die Wasserfüh­rung des Hangbachs optimiert sei. Dann präsentiert man nochmals ausführlich die Zahlen, die belegen sollen, wie hoch die Beteiligung der Landeigentümer an den Kosten sei: «Mitbürgerinnen, Mitbürger, wacht auf! Ihr kriegt diese Über­bauung quasi umsonst!»

Dass mit diesem Geschenk eine der letzten Qualitäten des Ortes geopfert wird, ein Rebhang mit schöner Aussicht auf den historischen Stadtkern und die Aare: geschenkt.

Der aussenstehende Beobachter erinnert sich: War es nicht schon in seiner Ju­gend so? Was tat damals die Politik, wenn ihr zur Entwicklung eines Ortes nichts einfiel? Sie propagierte Wachstum. Wer sich aber im Jahr 2022 fragt, warum die Schweiz noch immer zugebaut wird wie vor vierzig Jahren, nehme sich ein Bei­spiel an Klingnau. Hätte dieser Beobachter sich einst erlaubt, ein solches Vorge­hen rückständig zu nennen, so fühlt er inzwischen mehr Mitleid und Sorge: Er möchte verstehen, was heutige Amtsträger dazu treibt, zu agieren, als lebten wir noch in den Achtzigerjahren. Ist es wirklich nur die Sorge um das Gemeindebud­get?

Spricht der Beobachter seine Zweifel aus, wird er scharf gemassregelt: Beim Scheitern des Projekts gingen die Abfindungszahlungen in die Millionen! Dass es keinen Präzedenzfall für diesen Mechanismus gibt: geschenkt.

Der Beobachter reibt sich die Augen und fühlt sich endgültig in graue Vorzeiten versetzt. Landschaftsschutz? Ein Thema für Erbsenzähler. Zersiedelung? Die fixe Idee wirtschaftsfeindlicher Querulanten. Stattdessen soll das menschliche Siedeln weiter jene Beton-Walze sein, die seit über fünfzig Jahren überall da, wo Profit winkt, die Schweiz in eine grau-in-graue Einöde verwandelt. An Klingnaus Rebhängen zum Beispiel.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 13.11.2022 um 10:42 Uhr
    Permalink

    So wie beschrieben ist es. Wer schon älter, hat’s mit angesehen. Angesehen, wie das primitive Wachstum sich in den letzten 70 Jahren in die Landschaften frisst mit monströs brutaler Architektur des simplen Sandwichs. Warum? Weil wie beschrieben der Bauunternehmer und der Architekt im Gemeinderat sitzt und sie mit der Zerstörung der Wiese des Bauern ungehörigen Profit machen. Und der Bauer auch. Und auch, weil die meisten Gemeinderäte vom Erhalt natürlich gewachsener Landschaften und von einer Architektur im Einklang mit dem Raum, in dem sie steht, keine Ahnung haben. Sie kennen nur Wachstum und die klingelnden Münzen in der Schatulle. Vor allem ihrer eigenen. Profite fressen eben Seelen auf. Die des Menschen und des Landes.

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