Zahlen über Food-Waste: Reine Spekulation
Wenn es um Lebensmittelverschwendung geht, tauchen immer wieder zwei Zahlen auf: 91,8 und 329. Sie bedeuten angeblich, dass pro Kopf jährlich 329 Kilo Lebensmittel auf dem Weg vom Acker zum Teller verloren gehen – also in der Landwirtschaft, bei der Verarbeitung, im Handel und in den Haushalten. Allein in den Haushalten sollen es 91,8 Kilo sein. So ist es jedenfalls in praktisch jedem Zeitungsartikel zum Thema Lebensmittelverschwendung zu lesen, in fast jedem Radio- oder Fernsehbeitrag zu hören. Doch stimmt das? Zweifel sind angebracht.
Alte Zahlen, kleine Stichproben
Die Zahlen stammen aus der ETH-Studie «Lebensmittelverluste in der Schweiz». Doch obwohl die Studie ständig zitiert wird, darf deren Zuverlässigkeit durchaus angezweifelt werden. So stützen sich die Studienautoren auf die Kehrichtsack-Analyse des Bundesamts für Umwelt (Bafu) mit Zahlen aus dem Jahr 2012. Laut der ETH-Studie ist aber die Bafu-Analyse eine Schätzung, die «auf relativ kleinen Stichproben beruht». Zudem lässt sich nicht einmal mehr eruieren, ob die Analytiker damals überhaupt «zwischen essbaren Abfällen und Rüstabfällen» unterschieden haben. Der Unterschied ist relevant. Denn die einen gelten als vermeidbare Abfälle, die anderen als unvermeidbare.
Zahlen aus dem Ausland
Weil die Datenlage in der Schweiz so dünn ist, ziehen die Autoren der ETH-Studie ausländische Zahlen herbei: aus England, aus Wales und aus Österreich. Die Zahlen sind auch nicht mehr taufrisch. Manche stammen aus dem Jahr 2007. Diese Zahlen resultieren einerseits aus Kehrichtsack-Analysen, andererseits aus Befragungen. Wobei die Befragten, wenn es um Lebensmittelverschwendung geht, kaum ehrlich geantwortet haben werden. In der Studie steht zu den Zahlen aus England zudem: «Der Nachteil ist, dass die Erhebungen in England durchgeführt wurden und somit die Ergebnisse von der Annahme ausgehen, dass englische und Schweizer Haushalte gleich verschwenderisch mit dem eingekauften Essen umgehen. Der Vorteil dieser Berechnungsmethode liegt hingegen in der viel grösseren Stichprobe.»
Wie Dällebach Kari
Das erinnert ein bisschen an den Witz übers Stadtberner Original Dällebach Kari. Als er beim Bahnhof den Boden absuchte, soll er gefragt worden sein: «Was suchst du?» Er antwortete: «E Füüfliber.» «Wo hast du ihn denn verloren?» «Bim Bäregrabe.» «Und warum suchst du ihn hier?» «Bim Bäregrabe het’s ke Liecht.» So funktioniert auch die ETH-Studie. Weil in der Schweiz solide Daten fehlen, greift sie auf Daten aus dem Ausland zurück. Ob sie sich auf Schweizer Verhältnisse übertragen lassen? Das weiss niemand so genau.
Was ist überhaupt Verschwendung?
Doch das Problem beim Bemessen der Lebensmittelverschwendung sind nicht nur die wenigen Daten aus der Schweiz. Es stellen sich – gerade beim Zusammentragen von Zahlen aus unterschiedlichen Studien – viele Definitionsfragen:
- Gelten Teile von Lebensmitteln, die nicht essbar sind oder zumindest hierzulande nicht als essbar gelten, auch als Lebensmittelverschwendung?
- Gilt eine weggeworfene Ananas als Ganzes als verschwendet oder nur deren essbare Teile?
- Wie ist Öl (zum Beispiel in einer Sardinendose) zu betrachten?
- Wie schwer sind weggeworfene Spaghetti? Zählt das Gewicht im rohen Zustand oder das Gewicht nach dem Kochen mitsamt dem aufgenommenen Wasser?
- Gilt altes Brot, das Tieren verfüttert wird, als verschwendet?
- Was ist mit Lebensmitteln, die gewisse Leute nicht essen, wie etwa Apfelschalen oder Pizzarand?
- Und der faule Apfel im Kompost? Niemand weiss, ob er schon am Baum gefault war oder ob er zu lange auf dem Küchentisch lag.
Die 91,8 Kilo Lebensmittel, die wir pro Kopf und Jahr angeblich wegwerfen, haben laut der ETH-Studie übrigens einen Wert von 617 Franken. Die Zahl ist das Resultat komplizierter Berechnungen. Doch die Studienautoren zweifeln selbst an ihrer Zahl. Denn es könnte sein, dass «billigere Lebensmittel eher weggeworfen werden». Also auch hier: nicht viel mehr als ein Blindflug.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Guten Tag,hier sind wahrscheinlich die ganzen Lebensmittel hauptsächlich aus dem Supermarkt die vom Datum her abgelaufen sind, gemeint. Auch in den Haushalten werden abgelaufene Esswaren weggeworfen zu Hauf und sie werden nicht mal geöffnet. Sicher sind da die Institutionen die es abholen(Tischlein Deck dich) aber ich habe gesehen was sie abholen, hauptsächlich verpackte Ware und Brot. Das ganze offene Gemüse und Früchte wird weggeschmissen und auch die Milchprodukte und Fleisch. Ich würde halt nicht das Ablaufdatum hinschreiben, das ja bei jedem Lebensmittel wieder anders ist sondern den Monat der Produktion.
Karin Gadarian
Frau Gadrian
nichts dagegen einzuwenden. Bei den meisten Produkten ist ja auch das Mindesthaltbarkeitsdatum angegeben und nicht ein «Ablaufdatum».
vgl «Mindestens haltbar bis» und «Zu verbrauchen bis».
Leider nix was an Schulen oder Gymis vermittelt wird.
Zurückbesinnen auf die Sinne hilft und so manches Fondue oder andere Lebensmittel, die «abgelaufen» sind, können Monate später problemlos konsumiert werden.
Der Infosperber berichtet solide: keine Schreihalsartikel, keine oberflächlichen Panikstatistiken, um die Leser aufzupulvern. Mit Beginn von Covid-19 haben sich viele, die vorher überhaupt keine Ahnung von Statistik hatten, vielleicht zum ersten Mal mit den verführerischen Zahlen auseinandergesetzt, die uns täglich um die Ohren gehauen werden und sind vielleicht darauf gekommen, dass vieles eine Frage der Perspektive, eine Frage des Zählens, des Extrapolierens und der medialen Darstellung von Teilbereichen ist. Feine Details, die natürlich nirgends angemerkt werden, wenn man nicht selbst recherchiert. Darum danke für diesen Artikel.
Wir sollten uns generell mehr auf solide Wissenschaft und weniger auf Sensationen, Schlagzeilen und Klamauk konzentrieren.
Schön einmal eine andere Betrachtungsweise zu lesen.
Nichtsdestotrotz ist jedes weggeworfene Lebensmittel, welches noch hätte konsumiert werden können, verschwendet.
Im Grunde ist es egal, ob es 200kg oder nur 20kg sind: Es sollte in unser aller Interesse liegen, so wenig wie nur irgend möglich zu verschwenden. Ich wünschte mir eine Gesellschaft, in welcher dies jedem klar ist und auch jeder danach handelt und wir uns nicht über solch trivialen Grundlagen Gedanken machen müssten.
Ich finde es bedenklich, dieses Thema so in Frage zu stellen. Es werden etliche Leute wieder weiter machen wie gehabt, statt sich mal überlegen, wie Lebensmittel nicht weggeworfen werden. sollten. Solche Artikel begünstigen nur das Seelenheil der Verschwender. Schade.
Wir stellen nicht in Frage, dass Lebensmittelverschwendung ein Problem ist. Wir kritisieren nur, dass ständig Zahlen verwendet werden, die nicht verlässlich sind.
Herr Diener
was mit bei Ihrem Artikel etwas fehlt ist, wie damit umzugehen ist bzw was wir ändern sollten um die «Marktschreierische» Verwendung von Statistiken in den Medien und andern Stellen zu verringern oder gar nicht zu verwenden.
Alle Menschen dahingehend zu sensibilisieren oder dazu zu bringen die präsentierten Zahlen selbst zu hinterfragen und interpretieren wird wohl nur schwer möglich sein. Sonst bräuchten wir keine Kuchen-, Balken- und sonstige Diagramme. Mir fällt es mitunter sehr schwer, auch gebildeten Menschen in meinem Umfeld z.b. die Bedeutung des Betrachtungszeitraums zu vermitteln.
Da gibt es leider kein Patentrezept. Einfach aufmerksam sein. Misstrauisch sein. Und vielleicht auch: Infosperber lesen.
Egal ob nun 90 oder 360 Kilo sind, die wir wegwerfen. Jedes Kilo ist zu viel. Und wer es genau wissen will, kann es gut selbst herausfinden.
Die Studien zeigen den aktuellen Stand des Wissens und nehmen Stellung dazu, dass es mangels Primärdaten für die Schweiz grosse Unsicherheiten gibt. Die Studien leiten aber Aussagen nur aus den Grössenordnungen von Foodwaste ab, welche trotz methodischer Unsicherheiten mit grosser Wahrscheinlichkeit zutreffen. So ist beispielsweise die Aussage, dass Konsumenten eine Schlüsselrolle einnehmen bei der Vermeidung von Foodwaste, von den methodischen Unsicherheiten bei der Quantifizierung nicht betroffen.
Die Alternative, Foodwaste gar nicht zu thematisieren, hätte verheerende Folgen, denn wenn die Schweiz die Foodwaste-Ziele der Sustainable Development Goals nicht erreichen kann, hat sie auch kaum eine Chance, die Klimaziele zu erreichen.
Die Autoren der Studien würden sehr begrüssen, wenn die Schweiz mehr Mittel zur Verfügung stellt, um verlässlichere Foodwaste-Studien zu ermöglichen. Claudio Beretta, Studienautor
Ein grosser Teil der Lebensmittel wird von den Bauern vernichtet. Wenn ich an einem abgeernteten Karottenfeld vorbei gehe, liegen da noch Tonnen von Rüben die gebraucht oder für Tierfutter verwendet werden könnten.