Lernen gegen die Angst
«Ich schlafe schlecht», sagt einer. «Wir schlafen alle schlecht in der Nacht», sagt ein anderer, «Wir denken immer, wir denken immer». «Und wir haben Angst». «Wir wohnen in einem Keller, immer unruhig». «Wir sind 36 in einem Raum». «Ohne Fenster und frische Luft».
14 Flüchtlinge aus Afghanistan, 13 junge Männer und eine junge Frau, treffen sich zweimal in der Woche mit ihrem Lehrer, ebenfalls ein Afghanistani, um einander gegenseitig Deutsch beizubringen. Sie sitzen an einem langen Tisch in der Cafeteria im obersten Stock der Universitätsbibliothek Basel und konsumieren nichts, denn dafür hätten sie kein Geld. Durch die Glasfront fällt viel Herbstlicht von draussen herein, der Blick geht von drinnen hinaus über die Dächer Basels und in den Himmel.
Was sie denn sonst so machen, den ganzen Tag, wenn sie nicht hier sind, frage ich. «Nichts» lautet eine Antwort, «warten» eine andere. Sie dürfen nicht arbeiten. «Ich habe keinen Platz zum Lesen», sagt Amir (*). Sie haben überhaupt nirgends Platz. Der Keller, in dem die meisten dieser Flüchtlinge untergebracht sind, ist das Bundesasylzentrum in Arlesheim: eine Luftschutzanlage.
So sieht es darin aus:
Auch Krankheiten gedeihen hier. Einer war eine Woche im Spital. Andere hatten Krätze. Privatheit gibt es hier keine. Ein abschliessbares Fach, um seine Habseligkeiten vor Diebstahl zu schützen, auch nicht.
Hier also warten sie. Sie warten auf Entscheidungen, ob sie bleiben dürfen oder «ausgeschafft» werden. Und wenn Wegweisungsentscheide gefallen sind, warten sie auf Vollzug oder Nichtvollzug. Sie sagen: «Ich muss nach Kroatien». Oder: «Ich nach Bulgarisch». Einer, der nach Slowenien muss, erzählt, sein Anwalt habe ihm gesagt, er bekomme vielleicht in einigen Monaten ein Visum oder in Jahren. Von einem anderen dieser Flüchtlinge sagt der Lehrer: «Er hat Beschwerde gemacht, aber nach fünf Tage», das bedeutet: Er hat eine Frist verpasst und damit auch seine Chance. Der Betroffene verstummt. Asylrecht ist eine komplizierte Materie, die nur noch Spezialisten durchschauen, die Betroffenen meistens nicht. Theoretisch garantiert die Schweiz jedem Flüchtling zumindest eine Zeit lang einen Rechtsbeistand, aber in der Praxis ist vieles komplizierter: «Ich habe gesagt, ich brauche einen Anwalt, aber niemand hat gehorcht.»
«Ich soll nach Österreich », sagt ein grosser, muskulöser Mann, « Mir egal. Aber ich kann nicht nach Österreich. Dort lebt der Mann, der meinen Vater getötet hat ». 19 Jahre lang war er Soldat. Seit die Taliban herrschen, ist sein Leben in Gefahr. Seine Frau und seine sechs Kinder leben in Afghanistan, es gehe ihnen sehr schlecht, materiell – und: sie haben Angst. «Ihn haben sie gerade gestern abgelehnt», erzählt der Lehrer und deutet auf einen anderen jungen Mann, der empört ist: «Sie sagen: Du hast nochmal 5 Tage. Immer noch mal Tage, noch mal Wochen. Immer ohne klare Zukunft. Wenn sie mich ablehnen, sollen sie sagen: Weg! Weg!», er macht die Geste des Rausschmeissens, «Ich will mein Schicksal wissen».
Recht auf Zukunft?
Junge Menschen, die eigentlich das Leben in Angriff nehmen wollen. Wofür sie bestraft werden, ist unklar. Die Strafe aber ist klar: Untätigkeit, Warten, Zermürbung. Ich frage sie nach ihren Zielen und Wünschen. Die Frau, eine ehemalige Boxerin, will Krankenschwester werden. Bari, seinem Aussehen nach noch fast ein Kind, heftet bewundernde Blicke an seinen Lehrer: «Ich möchte wie du Flüchtlingen helfen.» Edris hat an der Universität von Mazar-e Scharif einen hohen Abschluss erworben, er möchte hier weiterstudieren, vielleicht auch schreiben, ja, einen Roman schreiben, jedenfalls «ein neues Leben beginnen mit Deutsch». Sie blicken in den Himmel über Basel, wenn sie von ihrer erträumten Zukunft erzählen: «Guten Job finden, normales Leben, integrieren in diese Gesellschaft». Was verstehen sie unter einem normalen Leben? Von allen Seiten kommen Stichwörter: Job, Auto, Haus, studieren, lernen, heiraten, Kinder. Und immer wieder: arbeiten. Arbeiten! Ich erinnere mich, dass unser Land Arbeitskräfte sucht…
Wie erleben sie den Alltag in der Schweiz? Es sind höfliche Leute. Als ich mich verabschiede, stehen alle auf, halten die rechte Hand aufs Herz und bedanken sich für meinen Besuch mit einer leichten Verbeugung. Kritische Äusserungen zur Schweiz sind nicht zu erwarten. Aber was sie an der Schweiz loben, ist auch bemerkenswert: Die Menschen hier würden so oft lächeln. Wie bitte? «Ja, in Kabul sind die Menschen ganz angespannt, hier sind sie locker». In Afghanistan ist seit 40 Jahren Krieg, «hier ist Ruhe». «Und der Verkehr: geordnet, sicher. Bei Rot halten alle. Es gibt Gesetz. Es gibt System». Sie beobachten, dass in der Schweiz verschiedene Kulturen friedlich zusammenleben können: «nicht wie in unserem Land».
Der Lehrer
Den Lehrer «sozial kompetent» zu nennen, wäre untertrieben. Er war im diplomatischen Dienst und ist nun selbst ein Flüchtling. Aber schon wie er zu Beginn der Unterrichtsstunde die kleinen Vierertische durch die Cafeteria stemmt, um sie zu einem langen Riesentisch zusammenzustellen, zeigt: Shamsurahaman Feruten weiss, was er will. Der Mann hat Energie, und bleibt dabei immer höflich, perfekt in der Form. Deutsch hat er sich selbst beigebracht. Jetzt übersetzt er direkt von Persisch oder Paschtunisch ins Deutsche und zurück. Er hat die ständig wachsende Gruppe aufgebaut und hält sie zusammen. Eine zweite Gruppe betreut er online. Einfach so, neben seinen Studien an der Uni. Er sagt: «Alles ist Unterricht. Hat jemand ein Problem, so sagt er es mir». Und der Lehrer kümmert sich drum. Eine verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik müsste ihn hoch bezahlen.
Mit spürbarem Stolz zeigt der Lehrer die Leistungen seiner Schüler. Er fixiert einen und sagt: «Zwanzig». Der Schüler zählt weiter: «Einundzwanzig, Zweiundzwanzig…». Der Lehrer fixiert den nächsten und sagt: «Dreissig». Der Schüler fährt fort: «Einunddreissig…». Und so weiter und so weiter, bis Fünftausend soll es dereinst einmal gehen. Hinter diesen Leistungen steckt Arbeit:
Die Schülerhefte, die vom Lehrer jede Woche kontrolliert werden, enthalten viele, viele Seiten mit Zahlen, Konjugationen («ich gehe, du gehst, er/sie/es geht…») und endlos langen Vokabellisten. Sie hätten, schätzt der Lehrer, in anderthalb Monaten gut tausend Wörter gelernt und 200 Verben konjugiert. Sie lernen Deutsch ungefähr so, wie sie den Koran studieren würden: mit viel Auswendiglernen fixer Einheiten. In einem schweizerischen Lehrerseminar würde ihre Methode als veraltet bezeichnet werden. Aber sie funktioniert. Sie funktioniert sogar in besonderen Fällen:
Der Lerneifer ist gross und er gilt der Sprache eines Landes, das sie abweist. «Sprache lernen ist wichtiger als Essen, als Schlafen, als Geld. Sprache ist ein Schlüssel». Und Sprache lernen ist wohl: Lernen gegen die Angst. Lernen gegen die Ungewissheit. Ihr Lernen könnte man verstehen als Appell an uns: nehmt uns auf.
*Die Namen der Studierenden sind erfunden
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Felix Schneider ist gelegentlicher Mitarbeiter des „solinetz“ („Solidaritätsnetz Region Basel für Menschen ohne gesicherten Aufenthalt“).
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Flüchtlinge zählen zu den motiviertesten Leuten in jeder Generation. Unser «System» tendiert diese Menschen auszugrenzen und damit das Innovationspotential dieser Leute «kaltzustellen».
Es wäre wohl im Interessen aller beteiligten, diesen Leuten eine Integrationsmöglichkeit in der Form von Berufsausbildung zu ermöglichen und ihnen gegebenenfalls bei einer Rückkehr in ihren angestammten Kulturraum aktiv weiterzuhelfen.
Unsere aktuelle Praxis ist weder vernünftig, noch effektiv, noch effizient. Brückenbildung zw. verschiedenen Welten muss das Ziel sein, nicht Ausgrenzung und Festigung unserer Bunkermentalität. Historische erfolgreiche Beispiele gibt es zur Genüge.
Ich habe damals meinen Studenten «Das heimliche Imperium» von Lorenz Stucki als zielführende Lektüre empfohlen. Die Schweiz wurde von Imigranten und auch Flüchtlingen zu dem Erfolgsland gemacht, das wir geerbt haben.
Länder mit weniger vorausschauenden politischen verantwortlichen, sollten da was lernen können.
Es braucht beide, die Innovativen wie die Bauern, welche ihre «einfache» Arbeit tun.
Wir erleben täglich, wozu unüberlegte Innovation führt.
Das Old-Europa wurde früher durch die Daheimgebliebenen, welche gehungert und geackert haben erhalten und nicht durch die Conquistadoren, welche im Ausland ihr Glück gesucht haben.
Ich schlafe kaum mehr, weil ich täglich erlebe, wie unsere Politiker, statt weise und fürsichtig zu handeln, Kriegstreiberei betreiben.
Wenn es dumm geht, sitzen wir bald selbst in den Luftschutzbunkern.
Kenne – als ehemalige Inhaberin einer Buchhandlung – viele Schweizer, welche gute Romane und Sachbücher verfassen, die keine Chance auf Veröffentlichung haben, weil die Autoren nicht über genügend Ansehen verfügen.
Dafür muss ich einem radebrechenden Iraker zuhören, wie er in der SRF-Literatursendung deutsche Bücher beurteilt, jedoch in einem seiner Bücher einen Förster lächerlich macht, weil er noch nie im Ausland war und kein geschliffenes Deutsch spricht.