Kommentar
Unruhen im Iran: Der Krug geht zum Brunnen …
Die Iraner und Iranerinnen lassen sich auch nach Tagen der Gewalt durch Sicherheitskräfte und die freiwilligen Schergen des Regimes, die paramilitärischen Basijis, nicht von den Strassen vertreiben. Was als Protest gegen den staatlichen Kopftuchzwang begann, der die 22-jährige Mahsa Amini das Leben kostete, hat die Form einer grossen zivilgesellschaftlichen Bewegung angenommen.
Längst geht es nicht mehr nur um das Stück Stoff, von dem sich vor allem die modernen jungen Frauen in den Städten, aber auch ihre Mütter, denen es nach der Revolution 1979 aufgezwungen wurde, befreien wollen. Es ist auch kein religionskritischer Aufstand: Die Menschen wehren sich gegen eine Zwangsordnung, deren Vertreter religiös argumentieren. Der national-klerikale Gewaltstaat braucht die islamische Kleiderordnung, um sich immer wieder selbst zu bestätigen.
Mahsa Amini war dazu auch noch Sunnitin und Kurdin, Gruppen, gegen die das totalitäre schiitische System besonders gewaltbereit ist. In den Kurdengebieten sind die Demonstrationen besonders stark. Auch Diaspora-Kurden und -Kurdinnen betonen deshalb den Aspekt der Ethnizität im Fall Amini. Für den Ausbruch der Proteste bei ihrem Begräbnis in der kurdischen Stadt Saghez mag das stimmen. Wenn sich die Menschen in völlig anderen Teilen des Landes auflehnen, geht es ihnen nicht um Minderheitenrechte, sondern um die Emanzipation der gesamten Gesellschaft gegenüber einer in die Jahre gekommenen und immer wieder aufgewärmten Revolution, die ohne Feind von aussen nicht überleben kann.
Erbitterte Demonstrationen, brutale Gewalt
Der Feind von aussen, eine Verschwörung, wird jetzt wieder bemüht, um zu erklären, dass aus Protesten Unruhen geworden sind. Damit stellt das Regime noch mehr Härte in Aussicht. Auch von den Basijis, die brutaler als die Polizei vorgehen, kann sich das System nicht distanzieren. Dabei hatten sich einzelne Offizielle zuerst in Schadensbegrenzung geübt, Aufklärung versprochen und Verständnis für die Auflehnung der jungen Leute gegen die Strenge der Moralpolizei gezeigt. Seitdem läuft die Eskalation in beide Richtungen: erbitterte Demonstrationen, brutale Gewalt.
Protestwellen, die das Regime erschütterten, aber nicht gefährdeten, hat es in der Geschichte der Islamischen Republik schon mehrere gegeben. Dass die grossen Studentenunruhen 1999 unter einem moderaten Präsidenten, Mohammed Khatami, stattfanden, war einer der Gründe dafür, warum dessen Reformprojekt zum Scheitern verurteilt war. Zehn Jahre später, 2009, bezahlten viele, die sich nicht mit einer zweiten Amtszeit von Präsident Mahmud Ahmadinejad abfinden wollten, mit dem Leben. Im November 2019 waren es Wirtschaftsproteste, von den USA unter Donald Trump, der auf «regime change» durch Umsturz setzte, mit Wohlgefallen beobachtet.
Die Antwort war die erzwungene Wahl des Hardliners Ebrahim Raisi 2021 und ein Anziehen der Schraube. Es ist schwer, die Menschen im Iran zu trösten. Aber sie glauben selbst daran: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Dieser Kommentar ist zuerst im «Standard» erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Gudrun Harrer ist leitende Redakteurin des österreichischen «Standard» und unterrichtet Moderne Geschichte und Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Wien.
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